Jeder strömte an diesem Mittwoch, 21. Januar, in seine eigene Richtung. Es ist ein einziges Gewimmel. Am größten Protesttag seit 25 Jahren ist Leipzig vorwiegend zu Fuß unterwegs. Doch wo geht es zum Protest? Und ist das Innenleben ein ganz anders lebendiges in der (Innen-)stadt als sonst? Unterwegs in Leipzig, als am Mittwoch Legida und Nolegida das erste Mal im Zentrum von Leipzig aufeinandertreffen.

„Leute kommt wieder zurück zur Moritzbastei. Es ist gerade sehr uncool in der Universitätsstraße“. Gerade als ich zwischen Moritzbastei und Mensa am Park Richtung Universitätsstraße laufen will, warnt eine Ordnerin die Vorbeilaufenden per Mikrofon. Die laute Tanzmusik wird jäh unterbrochen. „In der Universitätsstraße soll eine Familie gerade mit Steinen beworfen worden sein“, berichtet sie mir. „Es sollen Legida-Leute gewesen sein.“ Doch außer einem aufgerissenen Fußweg in dem ein paar Pflastersteine fehlen, ist Momente später nichts mehr von dieser Aktion zu sehen. Keine kaputten Steine, keine Verletzten. Niemand. Nur ein paar Polizisten unterhalten sich mit ein paar Passanten.

Sonst ist 19 Uhr nichts von einer feindlichen Stimmung in der Innenstadt zu spüren. Menschen strömen durch die Gegend – ohne ein richtiges Ziel. Oder doch? Immer erreichen sie Absperrungen, die sie nicht passieren dürfen. Die Demonstrations-Route ist gut abgeriegelt und so gleicht die Leipziger Innenstadt fast einem Kessel mit rastlosen Bürgern, die nicht wissen wohin mit sich. In der Grimmaischen Straße lassen sich ein paar nieder, als Polizeibeamten nur durch die Menschenmassen wollen. Die Beamten reagieren besonnen, versuchen mit Worten und ruhigen Gesten für freie Bahn zu sorgen. Mit mäßigem Erfolg.

Der Sinn dieser Protestaktion bleibt mir verborgen. Die Männer in dunkelblau und schwarz wären jetzt auch lieber auf dem heimischen Sofa anstatt mit ihresgleichen ebenfalls in der Innenstadt umherzulaufen. An jeder Ecke finden sich ein paar der über 4.000 Ordnungshüter, die heute die verantwortungsvolle Aufgabe erfüllen müssen, in erhitzter Atmosphäre nicht weiteres Öl ins Feuer zu gießen. Soweit ich das erlebe, schaffen sie das.

Auf dem Marktplatz haben über 30 Einsatzfahrzeuge geparkt, in manchen sitzen einzelne Polizisten. Der Rest scheint auf Tour – Wege absperren, bereit sein. Rund um die Propsteikirche werden sie dabei von Ehrenamtlichen des Fördervereins der Propsteikirche unterstützt, die in gelben Westen allen Kirchenbesuchern den richtigen Tipp geben, wie sie am besten zur Mahnwache auf das Dach der Baustelle kommen.

Überall geflissentliche Absperrungen. Foto: L-IZ.de
Überall geflissentliche Absperrungen. Foto: L-IZ.de

Schon kurz vor 18:00 Uhr wird die Kapazitätsgrenze des katholischen Gemeindesaals von der Polizei erfragt. „Wie viele erwartet ihr?“ Pfarrer Andreas Dohrn, der gemeinsam mit seiner Frau die Pfarrstelle in der Peterskirche besetzt und Pfarrer Giele von der Propsteikirche haben die Verantwortung über die Gegendemonstration, die dem LEGIDA-Aufzug am nächsten kommt. 19:00 Uhr wollen sie mit allen Besuchern auf das Kirchendach steigen und „Donna Nobis Pacem“ singen. Mehr kann man nicht erfahren, die Dohrns schütteln eifrig Hände, die Schlange vor dem Gemeindezentrum wird kaum kleiner. Und wer von hier Richtung Augustusplatz wollte, musste einen großen Umweg in Kauf nehmen.

„Entweder gehen sie zweimal rechts oder zweimal links“, empfiehlt mir ein Polizist. Zweimal links entpuppt sich als Sackgasse. In der Härtelstraße wird niemand mehr durchgelassen, der Peterssteinweg ist abgeriegelt. Nur über den Burgplatz kommt man von hier gen Augustusplatz.

Ich folge dem Strom der Menschen, der sich nur schwer entwirren lässt. Die einen strömen trotzdem Richtung Peterssteinweg, die anderen die Harkortstraße entlang Richtung Stadt. Auch vor dem Neuen Rathaus parken Mannschaftswagen Stoßstange an Stoßstange. Man rüstet sich für die größte Protestaktion seit den Montagsdemonstrationen. In der Petersstraße spielt ein Straßenmusiker „Heart of Gold“. Keine schlechte Wahl für den heutigen Tag. Ob er das Lied extra wegen der Veranstaltungen heute Abend spielt, will ich wissen – und erfahre seine halbe Lebensgeschichte. Wie der Mann aus Polen heißt, erfahre ich nicht. Nur, dass er wohl seit sieben Jahren in Leipzig lebt und den Eindruck hat, dass sich die deutsche Gesellschaft doch in den letzten zehn Jahren geändert hat. „Vor zehn Jahren war Rassismus deutlich zu sehen, nun alles hintenrum, weißt du?“ Mit der Straßenmusik versucht er, sein Leben zu meistern. „Anders geht nicht im Moment.“ Zur Demo will er nicht gehen. „Ich demonstriere mit der Gitarre jeden Tag.“

Selbst wenn er gewollt hätte: In der Grimmaischen Straße wäre auch für ihn Schluss gewesen. An der Löwen-Apotheke wird die Straße zum Nadelöhr. Menschen stehen und glotzen und glotzen und stehen. Aber was glotzen sie denn? Viele versuchen über Bäume ein paar Blicke gen Augustusplatz zu werfen. So richtig spannend scheint es da vorn auch nicht zu sein. Kurze Zeit später Aufregung, es wird geschubst und gebrüllt. Nicht jedem erschließt sich, dass vier Männer gerade versucht hatten, auf den Augustusplatz zu kommen, um zu demonstrieren.

Es bleibt beim Schubsen. Ein Argumenteaustausch findet nur rudimentär statt. Da fällt mir wieder die ältere Frau ein, die mit ihrem Mann, der ebenfalls an die 80 gewesen zu sein schien, und einem Pappschild vor dem Bauch vor wenigen Minuten an mir vorbeigezogen war. „Miteinander reden statt demonstrieren. Heute werden 1,7 Millionen…“ Das Verb kann ich nicht mehr lesen. Es wird wohl so etwas wie „verpulvert“ gewesen sein.

Gegendemonstranten warten auf Legida-Zug. Foto: L-IZ.de
Gegendemonstranten warten auf Legida-Zug. Foto: L-IZ.de

„Damals bei den Montagsdemonstrationen durften wir noch über den Ring ziehen, warum dürfen die das heute?“ An der Moritzbastei treffe ich eine Bekannte, die vergeblich nach einem Ort sucht, wo sie ihren Protest loswerden kann. Ziehen deshalb so viele ziellos durch die Stadt, immer wieder von den Absperrungen zurückfedernd? Gemeinsam schreiten wir zur S-Bahn-Haltestelle Wilhelm-Leuschner-Platz an der Musikschule Leipzig. Hier ist wenig los. Mit Hamburger Gittern und zusammengestellten Wagen versucht die Polizei zunächst, die Gegendemonstranten vom Ring fernzuhalten.

Vor wenigen Minuten soll der Legida-Zug vom Augustusplatz gestartet sein. Es wird kalt in Leipzig. Minus 2 Grad zeigt das Quecksilber. Einige junge Leute tanzen zur Musik aus Boxen, einer hat sein Fahrrad auf den Boden gelegt und versucht per Megafon Menschen für sich zu interessieren. „Für die Opfer des Massakers in Odessa“ bedröhnt er sie. Reaktionen? Keine. Überhaupt sind es vorwiegend junge Menschen, aber auch eine Personen im sogenannten mittleren Alter mit ihren Kindern und wenige ältere Leute, die sich als Gegendemonstranten zeigen. Studenten verschiedener Fakultäten protestieren auf ihre Weise. Ein paar geben Brote gegen eine Spende ab. Die Spende fließt an Prisma, eine Organisation, die Busse zum Burschenschaftsball nach Wien schickt, um dort zu protestieren.

Nach und nach füllt sich der kleine Platz, ein paar Mutige erklimmen das Gerüst gegenüber der Musikschule. Die Frauen hinter mir machen sich Sorgen, dass das Gerüst einbrechen könnte. Es steht stabil. Erst als sich auch ein paar Demonstranten hinter die Gerüstplane schleichen, wird die Polizei unruhig. Aber was tun? Von unten herunterjagen? Kommt nicht gleich der Legida-Zug? Scheint zumindest so, denn die Polizei verstärkt die Einsatzkräfte rund um den Platz, aber ohne Provokationen. „Sie kommen“, brüllt gegen 20:10 Uhr einer vom Gerüst und schon wird skandiert. „Haut ab!“, Legida-Rassistenpack, wir haben euch zum Kotzen satt“, „Nazis raus“, Say it loud, say it clear – refugees are welcome here.“ Zu meiner Überraschung versucht niemand, die Absperrung zu überwinden. Die Polizei hat leichtes Spiel, obgleich die Demonstrationen am engsten Punkt nur durch das Stationsgebäude der S-Bahn-Haltestelle getrennt sind.

Auf der Gegenseite wehen vorwiegend Deutschland- und Sachsen-Fahnen im Wind. Zu hören ist an der Musikschule nichts. Zu laut ist der Gegenprotest die meiste Zeit, obwohl er zwischendurch auch abflaut. Ob sich einige fragen, wann der Zug der Legida-Anhänger endlich endet? „Dass es so viele sind, hätte ich nicht gedacht“, stöhnt meine Bekannte. Als der Aufzug vorbei ist, löst sich der Protest fürs Erste auf. Jeder geht wieder seine Wege, einige offenbar auch wieder zum Augustusplatz.

Am Burgplatz kommt es noch zu einem Zwischenfall: Ein älterer Herr versucht vergeblich, die Beamten in der Polizeikette zwischen Bank und Ratskeller davon zu überzeugen, dass er dringend durch muss. Die Polizisten bringen ihn damit in eine prekäre Lage, denn auf seinem Schild steht „Sachsen bleibt deutsch!“. Kurz nachdem wir an ihm Vorbeigehen, bricht etwas. Man hat ihm das Schild geklaut und zertrümmert. Als wir wieder eintreffen, liegen nur noch Holzstücke auf dem Boden, der Mann ist verschwunden. Wie auch alle Demonstranten – in einer Stadt, die selten so auf den Beinen war, wie an diesem 21. Januar 2015.

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