Es wird ein harter Kanten, den die SPD in den Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU zu beißen hat. Denn gerade ihre Kernanliegen stehen schon vor den ernsthaften Verhandlungen unter Beschuss. Da passt es schon, wenn Andrea Ypsilanti eine Streitschrift veröffentlicht mit dem Titel „Und morgen regieren wir uns selbst“. In der bringt sie das Dilemma der SPD nämlich auf den Punkt. Denn die Analyse des Wahldebakels steht immer noch aus.

Die paar Wochen bis zum Scheitern der Jamaika-Verhandlungen und dem Drängen der CDU, dass die SPD doch wieder in einer Großen Koalition mitregiert, haben nicht genügt, die Wahlniederlage aufzuarbeiten und die Gründe dafür zu finden.

Natürlich hätte die SPD dafür noch viel länger Zeit gehabt, stellt Andrea Ypsilanti, die 2008 beinah hessische Ministerpräsidentin geworden wäre, im Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ fest. Denn die bundesweiten Wahlergebnisse der SPD wurden ja nicht erst 2017 halbiert. Diese Entwicklung nahm die SPD seit 2005. Und im Kern geht es um die Schröderschen Reformen, die sogenannte „Agenda 2010“, mit der der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die SPD auf einen marktliberalen – eigentlich neoliberalen –Kurs gebracht hat.

Im Grunde beinhaltete das Programm am Ende so ungefähr alles, was die CDU-Vorsitzende Angela Merkel auf dem Parteitag der CDU 2004 in Leipzig gefordert hatte. Von sozialdemokratischen Anliegen blieb am Ende nichts übrig als ein Programm, das geradezu darauf angelegt war, die ganze Gesellschaft zu entsolidarisieren.

Nicht nur die deutsche SPD hat damals diesen seltsamen Kursschwenk gemacht. Sämtliche sozialdemokratischen Parteien in Europa haben diesen Weg von „New Labour“ eingeschlagen.

„Vor allen Dingen müsste es eine ordentliche Analyse mit inhaltlichen Konsequenzen geben. Die deutsche, die griechische, die spanische, die französische Sozialdemokratie, alle sind in einer schwierigen Situation, weil sie zu marktkonformen Parteien wurden“, sagt Ypsilanti.

Und damit verloren all diese Parteien des sozialen Ausgleichs ihre Glaubwürdigkeit. Die heutige Politikverdrossenheit oder gar das, was man so landläufig Populismus nennt, hat hier seine Wurzeln. Und jede Große Koalition im Bund hat für die Wähler den Eindruck verstärkt, dass die Sozialdemokratie nur noch Mehrheitsbeschaffer für die marktliberale CDU ist – ohne wirklich ein einziges ihrer Kernanliegen wirklich durchsetzen zu können. Der Mindestlohn, so Ypsilanti, sei schlicht zu wenig.

Vor allem nimmt er die Angst nicht aus der Gesellschaft, die mit „Hartz IV“ und den Jobcenter-Sanktionen tief in die Gesellschaft eingedrungen ist. Nicht nur die Malocher in all den prekären Jobs, die seitdem entstanden sind, fragen sich zu Recht, wo denn da ihre soziale Sicherheit bleibt. Die Angst hat längst auch den Mittelstand erfasst, denn jetzt droht jeder Jobverlust zum Absturz in „Hartz IV“ zu münden. Und damit auch in gesellschaftliche Stigmatisierung.

Dabei wären andere, solidarischere Lösungen durchaus denkbar, sagt Ypsilanti.

Die Krise der europäischen Linken hat mit dem Verlust ihrer solidarischen Seele zu tun.

Ypsilantis Wunsch: „Es geht darum, dass offenes, freies Denken möglich wird, in dem man sich vieles vorstellen kann, was man hinterher an der realistischen Umsetzung abprüft. Ich will den Blick öffnen für eine Politik, die wirklich Gleichheit schafft, die für Umverteilung, Solidarität und Gerechtigkeit sorgt.“

Irgendwie klang das auch im frühen Wahlkampf von Martin Schulz an. Und wahrscheinlich hat Ypsilanti Recht, wenn sie annimmt, dass eine weitere Regierungsbeteiligung der SPD katastrophal endet, wenn die SPD dabei zentrale solidarische Projekte nicht umsetzen kann.

Und irgendwie scheint das nicht nur die SPD zu betreffen, denn es ist ja nicht die einzige Partei, die ihre Seele verkauft hat, um sich ganz und gar dem marktradikalen Denken zu unterwerfen. Das taten auch andere Parteien – bis hin zur völligen Ununterscheidbarkeit für den Wähler: Egal, was man ankreuzte – man bekam bei jeder Option „Hartz IV“.

Auch wenn es in anderen Ländern anders hieß. Es war alles eine marktkonforme Soße, die die Wünsche und Hoffnungen der Wähler völlig negierte.

Alle haben sich an die faule Ausrede gewöhnt, es gäbe ja keine Alternative.

Und so gilt Ypsilantis Aussage eigentlich dem ganzen demokratischen Spektrum: “Es kommt darauf an, ob der Mensch in einer Partei ist, in einer Organisation oder einfach in der Zivilgesellschaft. Jeder kann an seiner Stelle etwas tun. Und wenn es nur ist: Ich halte nicht mehr den Mund, ich sage, was ist. Ich verständige mich mit meinen Mitmenschen über meine Unzufriedenheit, aber auch über meine Hoffnungen, meine Wünsche, über das gute Leben, das mir zusteht, und organisiere mich.“

Es ist eigentlich der Mensch, der wieder zurück gehört ins Zentrum der Politik, ein Ort, wo mittlerweile in fast jeder Regierungserklärung der anonyme „Markt“ steht, nach dem sich alles richten soll.

Das kann nicht wirklich Ziel und Inhalt von Politik sein. Vor allem, weil es die Verdrossenheit bestärkt und das Unbehagen der Bürger an dem, was ihnen an Politik geboten wird.

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