Es gibt einige Orte zum Kunst-Machen in Leipzig. Hochprofessionelle wie die HGB, ambitionierte wie einige Kurse an der Volkshochschule. Mancher geht ins Freie zum Malen, ab und zu gibt’s auch ein Bildhauer-Pleinairs. Aber gemeinsam Kunst schaffen und dann auch noch in einer Kirche ausstellen, das kann man in der Offenen Kunstwerkstatt.

Wer sich in Leipzig für Kunst, Kultur und Geschichte interessiert, kommt in der umfassenden Museumslandschaft auf seine Kosten. Von historischen Ausstellungen zur Stadtgeschichte und bekannten deutschen Persönlichkeiten wie Friedrich Schiller über moderne Kunst bis hin zu interaktiven Wanderausstellungen haben die rund 80 Museen und Sammlungen in der Stadt für jedes Interesse etwas zu bieten.

Fast alle dieser Einrichtungen gehen auf das Engagement der Leipziger Bürger zurück. Bis heute lebt die Stadt von dieser Eigendynamik ihrer Bewohner, die neben den großen Museen auf dem Stadtgebiet auch vor allem unzählige kleine Ausstellungsräume und Plattformen für künstlerischen und kulturellen Austausch schafft.

Einer dieser engagierten Bürger heißt Paul Ziolkowski. Gemeinsam mit neun Künstlern hat er im August und September eine Ausstellung in der Plagwitzer Heilandskirche organisiert. Jede Woche trifft sich die Gruppe in der Offenen Kunstwerkstatt Leipzig. In einem kleinen Raum arbeiten an wenigen Tischen ganz verschiedene Menschen – manche für sich und hochkonzentriert, andere können sich nicht lange auf einen Ablauf fokussieren und verlangen häufig nach der Aufmerksamkeit des Gruppenleiters, während wieder andere die immer gleichen Zeichnungen wiederholen.

Die Kunstwerkstatt ist kein normales Atelier. Sie gehört zum Haus der Lebenshilfe e.V. in Leipzig Lindenau und richtet sich an Menschen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung.

Paula Gehrmann und Paul Ziolkowski. Foto: Christin Schutta
Paula Gehrmann und Paul Ziolkowski. Foto: Christin Schutta

Auf dem Weg zur Lebenshilfe e.V. lässt man die Innenstadt und Lindenau hinter sich, fährt die Merseburger Straße hinaus und ist fast schon im Industriegebiet angekommen. Hier scheint sich das Gebäude vor der restlichen Stadt zu verstecken.

Paul Ziolkowski ist extra nach Lindenau gezogen, um den Arbeitsweg kurz zu halten. Er findet, die Einrichtung sollte für den Rest der Stadt sichtbarer sein. Eigentlich sei vor allem die Werkstatt dazu gedacht, Menschen mit Behinderung mit bestimmten Fähigkeiten auszustatten, um sie im Bestfall für den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Nach langjähriger Mitgliedschaft und Mitarbeit im D21 Kunstraum Leipzig entwickelte Paul Ziolkowski die Idee und Motivation, über dieses Angebot hinaus Menschen mit Behinderung die Möglichkeit zu geben, in der künstlerischen Arbeit und Auseinandersetzung eigene Werke zu schaffen.

Er gründete 2013 die Offene Kunstwerkstatt als Raum für Zusammenarbeit und kreative Entfaltung. Leipziger Künstler sind regelmäßig eingeladen und erstellen mit Teilnehmern der OKW Malereien, Zeichnungen und Skulpturen aus Ton. Für die Künstler ist es Herausforderung und Chance zugleich, den individuellen handwerklichen Ausdruck der Teilnehmer künstlerisch zu bereichern.

Dabei gehe es nicht darum, diesen Menschen etwas beizubringen, ihnen etwa Farbenlehre einzuprägen oder technische Fähigkeiten zu schulen. Vielmehr möchte er ihnen einen Freiraum durch künstlerische Betätigung verschaffen. „Anita beispielsweise hat ein unglaubliches Gefühl für Farben“.

Die junge Dame mit Down-Syndrom steht über einer großflächigen Pappe und trägt mit einem dicken Pinsel zueinander versetzte Farbschichten auf. Nach jeder Farbe lacht sie, bis ihr Betreuer Paul sie fragt, ob sie noch eine nächste Farbe verwenden möchte. Dieser Schlagabtausch wiederholt sich so lange, bis sie sich der Vollendung ihres Werkes sicher ist – und sich gleich der nächsten Pappe zuwendet.

Thomas in einem Moment der Konzentration. Foto: Christin Schutta
Thomas in einem Moment der Konzentration. Foto: Christin Schutta

Thomas, ein Mann mit einer stark ausgeprägten Autismus-Form, fällt es hingegen besonders schwer, sich länger als ein paar Sekunden auf etwas zu konzentrieren. Er bewegt sich viel durch den Raum, ist fahrig und sucht sich immer neue große Flächen und Werkzeuge. Erst als Paul Ziolkowski ihm einen Satz Resthölzer in die Hand gibt, beruhigt er sich und scheint sein Element gefunden zu haben.

Eine der größten Herausforderungen ist es für den Betreuer, dass sich einige Teilnehmer, wie Thomas, nicht verbal verständigen können. Hilfestellung und künstlerische Anleitung versucht er auf ein Minimum zu reduzieren und intuitiv zu halten: „Ich versuche auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen einzugehen, zu erspüren, welche Werkzeuge ihnen gut in der Hand liegen, welche Materialien ihnen besonders gefallen. Manchmal gebe ich ihnen einen Anstoß, wenn ich das Gefühl habe, dass sie noch andere Ideen haben könnten. Ich tauche in ihre Welt ein, nicht andersherum.“

Gemeinsam mit der Künstlerin Paula Gehrmann hat Paul Ziolkowski nun schon zwei Ausstellungen für die Gruppe organisiert. Im August und September wurde die Heilandskirche zum Ort der besonderen Begegnung. Unter dem Titel „OKW on Display“ installierte die Künstlerin Paula Gehrmann freistehende schwarze Metallgestelle im Kirchenschiff. Die Teilnehmer der Künstlergruppe gestalteten teilweise vor Ort Karton und Plexiglasscheiben, die darin eingefasst wurden – eine Herausforderung für die Malenden, die sich nur selten in fremden Räumlichkeiten bewegen.

Die Ausstellung in der Heilandskirche. Foto: Christin Schutta
Die Ausstellung in der Heilandskirche. Foto: Christin Schutta

Die Ausstellung war ein weiterer Schritt auf dem Weg zu Paul Ziolkowskis langfristigem Ziel, die Gruppe im Stadtraum sichtbar zu machen. Er versteht diese Art der Kulturvermittlung „als Inklusion im besten Sinne: hier können Menschen unabhängig von Herkunft, Sprache, Religion oder möglich vorhandener Behinderung aufeinandertreffen.“

Je mehr Aufmerksamkeit sie gemeinsam in der Stadt erregen können, desto besser die Chancen, auch langfristig etwas im Leben der Künstler zu verändern, denkt Ziolkowski. Und noch mehr Menschen die Möglichkeit zu geben, sich auszuprobieren, ihren ganz eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden und sich auszudrücken.

Kurz nach dem Ende ihrer Ausstellung steht die Künstlergruppe nun schon in den Startlöchern für ein nächstes Projekt: das Kunstbegegnungsfestival Lindenow. Wer die außergewöhnliche Gruppe und ihren Betreuer Paul Ziolkowski kennenlernen möchte, wird ihnen zwischen dem 5. und 7. Oktober auf einem Kunstspaziergang durch Lindenau über den Weg laufen.

Jeden Freitag um 10 Uhr können außerdem alle – ob Künstler oder Interessierte – die Offene Kunstwerkstatt besuchen, über Schultern schauen, selbst an der künstlerischen Arbeit teilhaben und am Erhalt dieses besonderen Raumes mitwirken.

Lebenshilfe Leipzig e.V. | Offene Kunstwerkstatt, Ernst-Keil-Straße 15, 04179 Leipzig

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 59 ist da: Zwischen Überalterung und verschärftem Polizeigesetz: Der Ostdeutsche, das völlig unbegreifliche Wesen

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