Nicht nur die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) hat so ihre Probleme, wirtschaftliche Entwicklungen realistisch zu prognostizieren. Das Problem haben auch die diversen Wirtschaftsinstitute der Republik. Natürlich liegt es an der Komplexität all dessen, was man so landläufig Wirtschaft nennt. Also noch ein Stück Rätselraten über die Auswirkungen des Mindestlohnes, der ab 1. Januar 2015 in Kraft tritt. Diesmal aus Halle.

Dort ist das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) ansässig. Am 14. November meldete es sich mit dem Beitrag zu Wort: “Die Macht der Erwartungen. Warum die zukünftige Einführung des Mindestlohns schon heute die Konjunktur beeinflusst”. So ein bisschen Realismus ist in Halle zumindest zu Hause. Man orakelt nicht einfach über irgendwelche Effekte, die vielleicht ab 2015 eintreten. Immerhin fertigt man ja auch regelmäßig Befragungen zur ostdeutschen Wirtschaft an und weiß, dass Unternehmer niemals so denken, wie es sich die meisten Wirtschaftsweisen so ausmalen. Sie warten niemals darauf, bis sich der Gesetzgeber ausgemährt hat und Gesetze tatsächlich in Kraft treten. Das wäre ja auch reineweg blöd. Und auch der Gesetzgeber rechnet ja nicht damit, dass die Unternehmen warten, bis das Gesetz in Kraft tritt. Deswegen gibt es ja diese nicht unwichtigen Zeiträume, bis Gesetze offiziell in Kraft treten.

Zwischen Beschluss und Inkrafttreten aber passiert schon eine Menge. Nicht nur Unternehmen passen ihre Strategien schon einmal an, auch Konsumenten.

“Die Auffassung, dass die Einführung des Mindestlohns keine Effekte auf die aktuelle Konjunktur haben könne, weil er noch gar nicht in Kraft getreten sei, ist nicht zu halten”, stellt deshalb IWH-Forscher Prof. Dr. Oliver Holtemöller trocken fest, so trocken, dass man richtig spürt, wie dieser Satz bei einigen unbelehrbaren Kollegen aus der Orakelzunft wie eine Ohrfeige ankommen dürfte. Lauter Kollegen, von denen etliche landauf, landab in den Medien Unfug plappern und so tun, als wäre Wirtschaft eine Art geschlossener Raum mit nur zwei, drei Variablen und drei Akteuren, die alle so tun, als wüssten sie nicht, was der andere gerade tut. Eine Art Blinde-Kuh-Spiel im verdunkelten Experimental-Labor.

Aber wie schwierig es trotzdem ist, die Auswirkungen einzugrenzen, kann auch Prof. Dr. Oliver Holtemöller nicht verbergen: “Geht man der Einfachheit halber davon aus, dass der Mindestlohn keinerlei Beschäftigungswirkungen hat, sondern einfach alle Beschäftigten, die jetzt weniger als 8,50 Euro je Stunde verdienen, in Zukunft den Mindestlohn bekommen, dann schmälern die höheren Löhne eins zu eins die Gewinne oder werden auf die Preise überwälzt.”

Das sind nur zwei Möglichkeiten, wie sich der Mindestlohn auswirken kann, das sei an dieser Stelle betont. Denn auch Holtemöller betrachtet nur die Unternehmensseite, er beleuchtet nicht die Effekte, die entstehen, wenn die Betroffenen tatsächlich mehr Geld in der Tasche haben: Erhöht sich der Konsum? Erhöht sich das Steueraufkommen? Entstehen neue Geschäftsfelder für andere Unternehmen? Erhöht sich das gesamte Lohnniveau? Kommt es einfach zu Umverteilungen innerhalb der Geldströme? Alles völlig unbesprochen.Und so versucht Holtemöller zumindest zu erklären, wie die betroffenen Unternehmen jetzt schon reagieren: “Preise passen sich aber aller Erfahrung nach nur langsam an; ein Teil der höheren Löhne geht auf jeden Fall zu Lasten der Unternehmensgewinne. Warum investieren Unternehmen aber heute? Weil sie sich davon zukünftige Gewinne erhoffen”, beschreibt er die recht reduzierte Sicht auf das Thema. “Der Mindestlohn reduziert also die zukünftigen Unternehmensgewinne und damit die Anreize für Investitionen in der Gegenwart.”

Erhebungen der IHK zu Leipzig haben gezeigt, dass der Mindestlohn vor allem Branchen wie das Dienstleistungsgewerbe, die Gastronomie oder den Taxi-Bereich betrifft. In den meisten Branchen spielt die Einführung des Mindestlohns überhaupt keine Rolle. Im Gegenteil: Gerade die fachkräfteintensiven Branchen haben nun schon seit über drei Jahren einen ganz anderen Wettbewerb: den um die fehlenden Fachkräfte nämlich. Und dort geht es längst mit anderen Lohnniveaus zu.

Dass die INSM ein derartiges Gejammer um den Mindestlohn anstimmt, hat mit all den atypischen Beschäftigungsverhältnissen zu tun, die von dieser Lobbygruppe seit Jahr und Tag als Allheilmittel für die Wirtschaft angepriesen werden – um Zeitarbeit, Minijobs, befristete oder Teilzeitjobs aller Art. Von letzteren hat übrigens der Einzelhandel besonders profitiert – und die großen Einzelhandelskonzerne der Republik gehören nun wirklich nicht zu den Unternehmen, die besonders unter der Lohnlast leiden.

Aber – und das ist wirklich seltsam – selbst Wirtschaftsprofessoren haben heute diesen moralischen Zeigefinger, wenn es um Lohnpolitik geht. Holtemöller: “Man mag den Mindestlohn unter Gerechtigkeitsaspekten so oder so bewerten. Aber die Aussage, dass seine zukünftige Einführung keine Effekte auf die heutige Investitionstätigkeit und die heutige Konjunktur haben könne, ist theoretisch und empirisch nicht zu halten. Seit Menschengedenken ist wirtschaftliches Handeln von vorausschauendem Denken geprägt. Schon im alten Ägypten hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass heutiges Wirtschaften auch an Erwartungen über die Zukunft orientiert sein sollte. Wenn man in guten Zeiten mehr Ernte einfährt, als aktuell gebraucht wird, um einen Teil davon in Lagerhäusern für schlechte Zeiten vorzuhalten, dann steigt das Arbeitsvolumen in der Gegenwart, obwohl schlechte Zeiten erst für die Zukunft erwartet werden.”

Das ist dann quasi die zweite Ohrfeige für alle Kollegen, die behaupten, man könne die Effekte des Mindestlohnes irgendwie zeitlich abgrenzen. Das mit den alten Ägyptern ist schon fast schelmisch. Frei nach dem Motto: Ihr lernt es nie.

“Auch die moderne empirische Wirtschaftsforschung hält zahllose Beispiele für den Effekt zukünftiger Ereignisse auf die heutige wirtschaftliche Aktivität und damit auf die Konjunktur bereit”, schreibt Holtemöller und führt drei Beispiele auf.Das erste ist die Erhöhung der Mehrwertsteuer in Deutschland zum 1. Januar 2007 von 16 % auf 19 %, beschlossen im Juni 2006. Holtemöller: “Der private Konsum und die Bauinvestitionen reagierten darauf nicht erst im Januar 2007. Vielmehr gab es erhebliche Vorzieheffekte, die die Konjunktur im vierten Quartal 2006, also vor dem Inkrafttreten des Gesetzes, erheblich beeinflussten.” Es gab noch einmal ein richtiges Konjunkturfeuerwerk. Anfang 2007 sackte die Konjunkturkurve dann in den Keller. Bei den Bauinvestitionen ist der Effekt noch früher zu beobachteten, denn die gingen schon im Frühjahr 2006 so richtig hoch – die Unternehmer warteten gar nicht erst ab, bis der Bundestag das Gesetz beschloss. Sie verließen sich lieber auf ihren guten Riecher und zogen die Investitionen vor.

Das zweite Beispiel, das Holtemöller benennt, ist die Änderung für Abschreibungsregeln für Unternehmen: “Mit dem Unternehmensteuerreformgesetz vom 14.08.2007 wurde zum 01.01.2008 die degressive Abschreibung abgeschafft. Dadurch fällt die steuerliche Entlastung von investierenden Unternehmen geringer aus. Auch hier gab es massive Vorzieheffekte, die Investitionstätigkeit in den Quartalen vor der Abschaffung der degressiven Abschreibung wurde erheblich stimuliert mit entsprechenden Effekten auf die Konjunktur.”

Das half den Unternehmen freilich nur für einen kurzen Zeitraum. Ab 2008 sackten die Investitionen der Unternehmen dauerhaft ab. Das Gesetz hat die Investitionstätigkeit der Unternehmen also nachhaltig belastet.

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Als drittes Beispiel nennt Holtemöller die erwartete Inflationsrate. Holtemöller: “Bei allen Verträgen, in denen feste Zahlungsbeträge für eine gewisse Zeit in der Zukunft vereinbart werden, spielt die erwartete Inflationsrate eine wichtige Rolle. Wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber einen Tarifvertrag mit einer Laufzeit von 18 Monaten aushandeln, dann berücksichtigen sie dabei auch die zukünftig erwartete Inflationsrate, denn diese beeinflusst bei den Unternehmen die Produktions- und bei den Arbeitnehmern die Lebenshaltungskosten. Wird nun für die Zukunft eine höhere oder niedrigere Inflationsrate erwartet, so reagieren Löhne schon bei Tarifabschluss darauf. Auch in diesem Fall wird die Konjunktur heute von zukünftigen Geschehnissen beeinflusst.”

Die Liste ließe sich noch lange fortführen. Denn Wirtschaft ist immer ein Prozess, der versucht, künftige Entwicklungen vorwegzunehmen: Marktlücken zu erkennen, Bedürfnisse zu erspüren, gesellschaftliche Veränderungen möglichst vorwegzunehmen, Materialengpässe einzuplanen, Preisschwankungen oder auch neue Produkte der Konkurrenz regelrecht zu erahnen. Denn in Politik wie Wirtschaft gilt der selbe alte Spruch: Wer zu spät reagiert, den bestraft das Leben. Oder die Jahresbilanz. Heißt im Klartext: Die Unternehmen, die wirklich unternehmerisch geführt werden, haben längst reagiert und werden problemlos ins Mindestlohn-Zeitalter kommen. Die anderen haben ein dickes Problem an der Backe.

Die IWH-Mitteilung mit Grafiken: www.iwh-halle.de/d/publik/presse/29-14.pdf

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