Der Arbeitsmarkt verändert sich, hat sich längst verändert. Das spiegeln natürlich die Arbeitsmarktberichte der einzelnen Städte nicht wider. Schon lange kann man den Leipziger Arbeitsmarkt eigentlich nicht mehr losgelöst vom sächsischen sehen. Aber in Sachsen herrscht noch immer Kleinstaaterei. Der Blick fürs Ganze fehlt. Und eine 7 vorm Komma ist alles Mögliche, nur kein lokaler Wert, wie die Leipziger Arbeitsagentur glaubt.

„Wir freuen uns alle sehr über diesen niedrigsten Stand der Arbeitslosigkeit seit 1991. Die Arbeitslosenquote hat endlich eine 7 vor dem Komma. Darauf mussten alle in dieser Stadt 25 Jahre warten. Das ist eine sehr gute Nachricht zum Jahresende. Dennoch bleibt bei 23.000 arbeitslosen Leipzigerinnen und Leipzigern noch viel zu tun. Deutlich wird aber, dass die Richtung stimmt und die Arbeitsagentur und das Jobcenter diesen Fortschritt mit befördern“, lässt sich Reinhilde Willems, Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Leipzig, zu den November-Arbeitslosenzahlen zitieren.

Als wenn Leipzig eine Insel ist, die da seit 26 Jahren allein vor sich hin schippert.

Aber irgendwie sieht auch Leipzigs OBM Burkhard Jung die Stadt als Insel im Meer, wenn er sagt: „Sinkende Arbeitslosenzahlen, steigende Bevölkerungszahlen, steigende Durchschnittseinkommen – auf diesen Dreiklang können wir in Leipzig alle stolz sein. Die Arbeitslosenquote sank im November erstmals unter acht Prozent! Mit unserem starken Bevölkerungswachstum geht ein noch stärkeres wirtschaftliches Wachstum einher; Menschen kommen nach Leipzig nicht nur, weil die Stadt so hip ist, sondern weil sie hier Arbeit finden. Das ist eine der schönsten Botschaften, die wir uns zum Jahresende wünschen konnten.“

Schön gesagt. Aber selbst der OBM der wachsenden Großstadt Leipzig blendet damit aus, dass sich in Sachsen ganze Landschaften verschieben. Die (jungen) Menschen ziehen eben nicht nur nach Leipzig um, weil sie hier Arbeit finden. Auch ihre Arbeitsplätze ziehen um, die ländlichen Regionen verlieren ihre wirtschaftlichen Strukturen. In Leipzig siedeln sich dafür immer mehr Unternehmen an. Nicht immer solche, die wirklich für ein wachsendes Gehaltsniveau sorgen. Denn gerade Leipzig wird auch immer mehr zur Dienstleistungsstadt – und zwar all der sozialen Dienstleistungen, die in Deutschland meist sehr kärglich bezahlt werden, ohne die aber eine Gesellschaft nicht zu organisieren ist.

Die Zahl der arbeitslosen Menschen, die bei der Arbeitsagentur oder dem Jobcenter Leipzig im November gemeldet waren, sank in den letzten vier Wochen auf 23.035. Das waren 735 weniger als noch im Oktober und 2.116 weniger als vor einem Jahr. Im Rechtskreis SGB III betrug der Rückgang 258 und im Rechtskreis SGB II (Jobcenter) sank die Zahl um 477.

Der Blick über den Tellerrand lohnt sich, denn mit dem Rückgang von 735 Arbeitslosen hat Leipzig den größten Beitrag zum gesamtsächsischen Rückgang um 401 beigetragen. Dresden folgt mit 462, Chemnitz mit 170.

Deutlicher ist die Rolle der drei Großstädte als Wachstumsknoten im sächsischen Gefüge nicht darstellbar, denn mit Ausnahme von Meißen (-124) und Bautzen (-20) haben die Landkreise allesamt wachsende Arbeitslosenzahlen berichtet. Was zum Teil natürlich an der Integration der Flüchtlinge in die Arbeitsvermittlung liegt. Sie sind ja in den vergangen zwölf Monaten als Arbeitsuchende erst einmal frisch in die Statistik gekommen. Qualifikationen und Vermittlungen aber brauchen ihre Zeit, so dass jetzt erst langsam sichtbar wird, wie die Ersten tatsächlich in Arbeit vermittelt wurden.

In Leipzig sank die Zahl der arbeitslos gemeldeten Ausländer von 4.402 auf 4.326. Viele Firmen werden in einigen Jahren froh sein, dass Deutschland überhaupt Flüchtlinge ins Land gelassen hat. Denn die eigenen Arbeitsmarktreserven sind eigentlich aufgebraucht, auch wenn 23.035 als arbeitslos Gezählte scheinbar eine andere Sprache sprechen. Doch darin stecken auch noch 7.371 Langzeitarbeitslose, an denen die Belebung des Arbeitsmarktes trotz aller Bemühungen der Arbeitsagentur fast völlig vorbeigeht.

Und dazu gehören nach wie vor auch ganze Gruppen von Menschen, die schwer in einen anspruchsvollen Arbeitsmarkt vermittelbar sind. Sie machen einen Großteil der immer noch 39.151 Bedarfsgemeinschaften aus (minus 200 gegenüber Oktober), die auf Zuweisungen des Jobcenters angewiesen sind. Und in diesen Bedarfsgemeinschaften lebten auch im November 16.833 „nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte“, also vor allem Kinder. Das waren ganze 11 weniger als im Oktober.

Der Sockel der Arbeitslosigkeit schmilzt. Aber das bringt vor allem junge, fertig ausgebildete Menschen in Arbeit.

Bei den jungen Menschen bis 25 Jahren sank die Zahl der Arbeitslosen in den letzten vier Wochen um 198 auf 1.802 (Vorjahr: 1.797). Auch bei den Lebensälteren in der Altersgruppe ab 50 Jahren fiel die Arbeitslosigkeit um 98 auf 6.708 Personen ab (Vorjahr: 7.659). Wobei hier ein schon seit Monaten zu beobachtender Effekt deutlich wird: Ältere Arbeitnehmer werden deutlich seltener als noch vor wenigen Jahren arbeitslos. Wer qualifizierte Mitarbeiter im höheren Alter hat, setzt sie nicht einfach mehr aus Altersgründen frei. Denn längst schon lässt sich qualifizierter Ersatz kaum noch finden.

Deswegen darf auch das Rätselraten, das „Spiegel Online“ am Mittwoch, 30. November, angestellt hat („Experten erwarten ein Ende des Booms“) in Zweifel gezogen werden. Mal abgesehen davon, mit welch engen Rastern unsere deutschen „Experten“ arbeiten. Sie scheinen sich völlig auf die Integration der Flüchtlinge zu konzentrieren und gar nicht wahrzunehmen, dass die in den 1990er Jahren ausgelöste demografische Entwicklung gerade im Osten derzeit einen Fachkräftehunger auslöst, der mit den aktuellen Reserven nicht mehr zu decken ist.

Was auch daran liegt, dass das deutsche Expertentum mit sehr kurzen Zeithorizonten operiert – und sich auch da meist kräftig irrt. Und politisch hat es an den falschen Stellen Einfluss. Es mag sein, dass die „Globalisierung“ große Teile der europäischen Bevölkerung verängstigt, wie nun eine Bertelsmann-Studie wieder belegt haben will. Aber solche Studien leiden oft genug an der falschen Fragestellung. Und der Kurzschluss, Globalisierung und Flüchtlingsthematik in einen Topf zu schmeißen, liegt nah. Ist aber falsch. Denn die Ressentiments, von denen die rechtsradikalen Parteien profitieren, waren alle auch schon vor dem Syrien-Desaster da.

Und sie haben alle mit dieser ganz speziellen Melange zu tun, wie sie in Sachsen so schön beobachtet werden kann: eine nicht existierende Demografie-Politik, ein über Jahre nicht nur beobachtetes, sondern sogar forciertes Ausbluten der ländlichen Räume, ein Verlust sozialer Infrastrukturen in der Fläche, all das verdichtet sich zum täglichen Erlebnis (nicht nur Gefühl) des Abgehängtseins. Dieses Gefühl wird nur auf Themen wie Globalisierung und Flüchtlinge projiziert. Aber es ist die chaotische Wirtschaftspolitik im eigenen Land, die diese Grundmischung befeuert.

Tatsächlich ist das Wort „Globalisierung“ nur ein Placebo, das ablenkt davon, dass die innerdeutsche Austeritätspolitik für eine permanente Schwächung staatlicher und kommunaler Strukturen sorgt, und damit auch für die Entstehung „abgehängter“ Landschaften.

Solange sich die deutsche und sächsische Politik mit diesem Thema nicht wirklich ernsthaft beschäftigen, werden die irrationalen Strömungen im Wahlverhalten zunehmen. Michael Moore sprach im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von einem anarchistischen Verhalten, das da selbst den braven Bürger in der Wahlkabine zu seltsamen Dingen treibt.

In der Realität packt der natürlich seine Siebensachen, wenn er noch jung ist und sich das traut und wandert entweder hinauf ins kalte Deutschland (wie die syrischen Flüchtlinge) oder in die noch funktionierenden Großstädte (wie die sächsischen Flüchtlinge).

Dass dabei der Arbeitsmarkt in Leipzig und Dresden sogar wächst (obwohl beide Städte finanziell denkbar knapp gehalten werden), gehört selbst zu den unerwarteten Begleiterscheinungen dieses Prozesses, in dem „demografische Entwicklung“ und „Globalisierung“ zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.

Zum statistischen Zähltag im November betrug die Arbeitslosenquote in der Stadt Leipzig nun 7,8 Prozent (Vormonat: 8,1 Prozent). Im November 2015 lag diese noch bei 8,7 Prozent. In Sachsen fiel der Wert übrigens von 7,5 Prozent im November 2015 auf derzeit 6,8 Prozent. Leipzig, Chemnitz und Nordsachsen haben mit 7,8 Prozent statistisch die höchsten Arbeitslosenwerte. Aber wie oben erwähnt: Leipzig und Chemnitz gehören zu den drei Orten, wo weiterhin neue Arbeitsplätze entstehen. Nicht unbedingt die bestbezahlten, viele reine Packer-und-Racker-Jobs. Aber selbst das ist Wirtschaft.

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