Manchmal braucht man wirklich eine Menge Geduld, um engstirnigen Politikern beizubringen, dass Ungleichheit nicht nur Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe ausschließt, sondern auch die Wirtschaftsleistung mindert. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat dazu am 8. März einen neuen Bericht veröffentlicht: „Wie steigende Einkommensungleichheit das Wirtschaftswachstum in Deutschland beeinflusst“.

Und der stellt fest, dass die steigende Einkommensungleichheit seit der Wiedervereinigung die Bundesrepublik zwei Prozentpunkte Wachstum gekostet hat. Im Zieljahr 2015 wären das satte 40 Milliarden Euro gewesen.

Zitat: „Das reale Bruttoinlandsprodukt hätte im Jahr 2015 gut 40 Milliarden Euro über seinem tatsächlichen Wert gelegen. Vor allem die private Konsumnachfrage, aber auch Investitionen und Exporte, wären stärker gestiegen, wenn die Ungleichheit – hier gemessen am Gini-Koeffizienten der Nettohaushaltseinkommen – auf ihrem Stand des Jahres 1991 geblieben wäre.“

Dazu erklärt Luise Neuhaus-Wartenberg, mittelstandspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Sächsischen Landtag: „Wenn Wachstum in der neoliberalen Logik schon die wichtigste Vergleichsgröße sein muss, dann wäre es angemessen, Fehler einzusehen und zu verbessern. Seit zwei Jahrzehnten ist der wirtschaftliche Aufholprozess des Ostens gegenüber dem Westen innerhalb Deutschlands faktisch zum Erliegen gekommen. Davon ist vor allem auch Sachsen betroffen. Der Abstand zu westdeutschen Bundesländern wie Bayern oder Hessen verringert sich kaum. Wir waren immer davon überzeugt, dass daran die Niedriglohn-Strategie schuld ist, die nicht nur unsozial ist, sondern auch wirtschaftliche Entwicklung hemmt. Diese Feststellung hat nun mal wieder ein wissenschaftliches Gütesiegel erhalten. Als Linke kann ich dazu nur sagen: Hättet ihr mal auf uns gehört!“

Die eigentliche Lücke klafft in der Berechnung der DIW-Autoren erst ab ungefähr 2010 so richtig auf. Grund dafür sind die fehlenden Investitionen in Bildung: „Einen negativen Beitrag für die Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts im Simulationszeitraum liefert der Humankapitalkanal, denn für sich genommen haben die Menschen wegen der steigenden Einkommensungleichheit in Deutschland weniger in Bildung investiert, als andernfalls zu erwarten gewesen wäre. Allerdings wirken sich die schwächeren Bildungsinvestitionen erst mit einer Verzögerung von rund einer Dekade mindernd auf die Produktivität und damit auf das Wachstum aus. Wegen dieser Verzögerung – und da der Gini-Index vor allem ab der Jahrtausendwende kräftig gestiegen ist – weicht das tatsächliche Bruttoinlandsprodukt in Deutschland bis zum Jahr 2010 nur wenig von dem Wert ab, der ohne Anstieg der Ungleichheit erreicht worden wäre. Erst für das laufende Jahrzehnt ist eine deutlich geringere gesamtwirtschaftliche Produktion zu beobachten, als die Modellschätzung für ein Szenario ohne Anstieg der Ungleichheit ergibt.“

Heißt im Klartext: Die Bundesrepublik zahlt jetzt dafür, dass ab 1999 die verschärften Sozial- und Arbeitsmarktreformen griffen, die vor allem Niedrigverdienern noch zusätzlich finanzielle Spielräume beschnitten haben. Gerade den Leuten also, die im Grunde bemüht sind, sich immer wieder für neue Arbeitsfelder fit zu machen. Viele von ihnen wurden in das rigide „Hartz IV“-Modell gepresst, wo ihnen die Eigeninitiative mehr oder weniger beschnitten wurde und stattdessen ein rigides Sanktionssystem eingerichtet wurde.

Gerade das, was das neue System eigentlich behauptete erst zu schaffen, hat es tatsächlich rigoros abgeschnitten: die Spielräume für Eigeninitiative der von Arbeitslosigkeit Bedrohten.

Dahinter steckt ein völlig falsches  Menschenbild, das aber Zentralbaustein des Neoliberalismus ist: die Behauptung, der Mensch würde eher zur Faulheit neigen, als sich aus eigener Kraft um die Besserung seiner Lage zu bemühen. Das Gegenteil ist der Fall.

Nur: Was passiert, wenn Menschen die finanziellen Handlungsspielräume genommen werden, selbst für ihre Chancen zu sorgen?

Sie werden nicht nur entmündigt. Sie werden regelrecht frustriert und es entsteht genau dieses Grollen, das derzeit die westlichen Gesellschaften zerfrisst. Auf einmal ist ein Deckel auf dem Leben und die Aufstiegschancen sind gleich Null. Den dreisten Erwartungen der Neoliberalen, bitteschön für weniger Geld mehr zu leisten, steht eine menschliche Grundenttäuschung gegenüber, dass ausgerechnet der Wille zur Selbstbehauptung derart amtlich und rigoros vor den Kopf gestoßen wird.

Da wirkt das von Martin Schulz gesetzte Wort: „Gerechtigkeit“. Auch wenn es der Kanzlerkandidat der SPD noch nicht wirklich bis zu Ende durchdekliniert hat.

Wenn man die möglichen Verluste in der Wirtschaftsleistung aufsummiert, kommt man nicht nur auf 40 Milliarden Euro, sondern eher auf 200 Milliarden. Damit haben die sogenannten Arbeitsmarktreformen mehr Wirtschaftsleistung gekostet, als sie bei der Arbeitslosenfinanzierung gekostet haben. Das nennt man wohl Bremsen bei voller Fahrt.

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