Was ist eigentlich das Problem an der jährlichen Frage nach den „größten Problemen“ der Leipziger? Es gibt nicht nur eins. Es gibt gleich mehrere. Was Leipzigs Statistikern sehr wohl bewusst ist. Deswegen sind sie seit geraumer Zeit auch dazu übergegangen, die Problemsichten nach unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu filtern. Denn was die Alten ärgert, muss die Jungen nicht mal aufregen.

Und jedes Lebensalter hat andere Bedürfnisse, Wünsche, Ängste und Hoffnungen. Die Antworten zur „Bürgerumfrage 2016“ zeigen es noch deutlicher als in den Vorjahren. Und damit zeigen sie auch etwas, was seit Brexit und Trump-Sieg die Medien verunsichert: Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen sind in völlig unterschiedlichen Wahrnehmungswelten unterwegs. Gerade am neu eingeführten Stichwort „Fremdenfeindlichkeit“ wird das sichtbar.

Es gibt durchaus einen Teil des Senioren, der das als Problem wahrnimmt: 12 Prozent. Das ist etwas weniger als bei der Problematisierung des „Zusammenlebens mit Ausländern“ (13 Prozent).

Schon die Eltern in der Befragung sehen das ein Stück weit anders: 13 Prozent problematisieren das „Zusammenleben mit Ausländern“, aber 16 Prozent sehen das größte Problem in der „Fremdenfeindlichkeit“.

Und noch deutlicher wird es bei den jungen Erwachsenen (18 bis 25 Jahre). Hier rangiert „Fremdenfeindlichkeit“ in der Liste der größten Probleme eindeutig an erster Stelle mit 37 Prozent.

Was so nebenbei auch das ewige Gerede von der politisch desinteressierten Jugend konterkariert: Sie ist sehr wohl interessiert. Aber sie findet sich nur allzu oft mit ihren Interessen nicht vertreten durch die großen, bräsigen Parteien, die oft genug nur Besitzstandswahrung im Fokus haben. Der SPD-Kanzler-Kandidat Martin Schulz wirkt ja nicht deshalb so lebendig, weil er schöne Reden hält, sondern weil er zum ersten Mal wieder ein Politiker im Aufgebot der SPD ist, der mit dem Stichwort „Gerechtigkeit“ zumindest ein paar Veränderungen im politischen Prozess erreichen will.

Denn in den vergangenen 10, 11 Jahren ist ja praktisch gar nichts mehr passiert. Politik hat sich in einen ewig lächelnden Stillstand verwandelt, der für die einen eine stille Mehrung des Wohlstands bedeutete, aber für einen nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft spürbaren beruflichen und persönlichen Stillstand.

Lethargie ist Gift für eine politische Gesellschaft.

Und nach Lethargie rochen die meisten „größten Probleme“ in Leipzig auch oft genug. Wenn der Straßenzustand das dominierende Problem in einer Stadt ist, dann stimmt irgendetwas nicht. Erst recht nicht, wenn man weiß, dass es mit den Einkommen nicht allzu weit her ist.

Man kann die Ergebnisse der neuen Umfrage nämlich auch so interpretieren: Viele Leipziger haben endlich eine vollzeitige Arbeitsstelle gefunden und sind erst einmal raus aus der schlimmsten Panik.

2005 kreuzten noch 65 Prozent aller Befragten das Stichwort „Arbeits- und Ausbildungsplätze“ als größtes Problem in Leipzig an. Das war gerade in dem Jahr, in dem BMW und Porsche loslegten und sich der Arbeitsmarkt in Leipzig endlich stabilisierte. 2010 fanden nur noch 35 Prozent, dass Arbeits- und Ausbildungsplätze in Leipzig das größte Problem sind. Das war das Jahr, in dem auf einmal die Finanzsituation der Stadt zum „größten Problem“ wurde mit 39 Prozent. (2016 ist sie mit 7 Prozent Nennungen praktisch im Nirwana verschwunden.)

Und die Arbeitsstellensituation?

Nur noch 9 Prozent nannten das Thema 2016 noch als Problem. Am meisten beschäftigte es mit 12 Prozent noch die jungen Erwachsenen.

Die Eltern in der Befragung fanden es auch nicht mehr so drängend. Hier wurde noch deutlicher, dass man in verschiedenen Lebensphasen völlig andere Sichten auf das hat, was man in einer Stadt wie Leipzig als Problem sieht.

Mit jeweils 36 Prozent der Nennungen standen Kindertagesstätten und Schulen aus Elternsicht ganz oben in der Problemtabelle.

Man ahnt, wie schwer das in Politik umzusetzen ist, denn natürlich haben die Eltern völlig Recht. Sie haben mit diesen Themen direkt und täglich zu tun, wissen also, worum es geht und wie die Hütte brennt. Aber Wahlen werden auch in Leipzig nicht von den jungen Eltern dominiert, sondern von den Senioren, die damit auch ihre Sicht auf die Probleme in Politik umsetzen. Und bei denen tauchen Schulen mit 8 Prozent der Nennungen und Kindertagesstätten mit 5 Prozent ganz hinten in der Problemwahrnehmung auf.

Dafür dominieren sie mit ihrem „größten Problem“ nicht nur viele Debatten im Stadtrat, sondern auch große Teile der Medien, die die Ängste der Alten sogar noch regelrecht befeuern, wenn sie immer wieder „Kriminalität, Sicherheit“ zu Aufmacherthemen machen. Die Senioren benennen dies Themenfeld  mit 68 Prozent der Nennungen als das „größte Problem“, vor Straßenzustand, Sauberkeit von Straßen und Plätzen und Parkplatznot. Unübersehbar sind die Leipziger Senioren auch die Hauptklientel, wenn es um die Verteidigung des motorisierten Individualverkehrs geht.

Eltern sehen die Sache mit der Kriminalität mit 33 Prozent etwas gelassener, junge Leute mit 26 Prozent sowieso. Denen brennen aber immer mehr die Wohnkosten auf den Nägeln: 24 Prozent der Nennungen, ein Thema, das auch Eltern zunehmend umtreibt (27 Prozent), während nur 14 Prozent der Senioren dieses Thema benennen.

Aber man merkt, wie sich so ein Thema, das jahrelang kaum jemanden interessierte, auf einmal bevölkerungsübergreifend in den Fokus schiebt und langsam die politische Debatte  verändert. So gesehen sind die „größten Probleme“ durchaus ein Kompass für Leipzigs Politik – wenn man sie für jede Bevölkerungsgruppe wirklich genau anschaut. Sonst übersieht man nämlich, dass für die einen so ein kleines Problem wie die Miete schon zum Drama geworden ist, während die anderen eher nach mehr Polizei rufen, weil ihre Zeitung voller Meldungen zu lauter schrecklichen Verbrechen ist.

Oder nach Parkplätzen direkt vorm Haus für möglichst große Autos. Für Senioren ein Mega-Thema, für junge Leute eher Nebenschauplatz.

Es kommen nicht alle Verkehrsarten in der Befragung vor. Auch das ist ein Problem. Eine wichtige aber schon.

Dazu kommen wir im nächsten Beitrag.

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