Wenigstens teilweise hat ja das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen in Hartz IV für verfassungswidrig erklärt. Oft sind es reine Meldeversäumnisse, die die Sachbearbeiter im Jobcenter dazu bringen, Menschen Geld vom Lebensunterhalt zu streichen. Auch Menschen, die eigentlich in Arbeit sind, aber von ihrem Billigjob nicht leben können. Trotz Mindestlohn sind diese Aufstocker-Verhältnisse in Sachsen nicht verschwunden.

„Es ist eines Sozialstaates unwürdig, Menschen unter das Existenzminimum zu drücken. An die Stelle von Unterstützung treten dann noch mehr Angst, Armut und Demoralisierung“, ging Susanne Schaper, die sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Landtag, am 12. Dezember auf das Thema ein.

„15 Jahre nach der Einführung von Hartz IV gelten nun endlich wenigstens Teile der Sanktionen als Verstoß gegen das Grundgesetz. Es ist klar, dass arbeitsuchende Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten daran mitwirken sollen, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Es ist aber verfassungswidrig, ihnen mehr als 30 Prozent der Zahlungen oder die kompletten Leistungen zu entziehen. Dann nämlich sind sie zur Mitwirkung nicht mehr fähig.“

Denn diese „Mitwirkung“ bedeutet eben oft auch, dass die Arbeitssuchenden gezwungen werden, Jobs anzunehmen, die nicht zum Lebensunterhalt reichen. Und noch immer gibt es viele Unternehmen, die das ausnutzen und ihre Beschäftigten weiter zum Jobcenter laufen lassen.

Allein in Sachsen waren 2017 fast 8.900 Leistungsberechtigte von mindestens einer Sanktion betroffen, konnte Schaper feststellen, darunter insgesamt 2.389 Bedarfsgemeinschaften mit Kindern (Drucksache 6/12177, Seite 79).

2015 wurde auch in Sachsen der Mindestlohn eingeführt. Da hätte man eigentlich erwarten können, dass die Zahlen von Aufstockern (im Arbeitsagentur-Deutsch: erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte (eELB)) drastisch sinken.

Gesunken sind sie tatsächlich. In einige Branchen ist der Personalbedarf so drückend, dass man dort tatsächlich endlich vollwertige Löhne zahlt.

Aber in einigen Branchen hat sich scheinbar nicht viel geändert. Und auch dort findet man welche, bei denen man sich fragt: Wer tickt hier eigentlich falsch? Überall werden Pflegekräfte gesucht – aber über 2.000 Sächsinnen und Sachsen aus dem medizinischen und Pflege-Bereich müssen beim Jobcenter ihre karge Vergütung aufstocken. Da läuft etwas gewaltig falsch.

Von 202.827 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (ELB) im Hartz-IV-Bezug, waren 60.138, also fast ein Drittel, erwerbstätig. Da sie aber von ihrer Hände Arbeit nicht leben konnten, stockten sie ihr kärgliches Einkommen durch Bezüge vom Jobcenter auf.

Und zwar nicht einmal um kleine Beträge. Haben erwerbsfähige Leistungsbezieher normalerweise einen Leistungsanspruch von 615,87 Euro im Monat, so bekamen die erwerbstätigen ELB 2018 auch noch 493,55 Euro „aufgestockt“, was so einiges sagt über die Gelder, mit denen sie für ihre Arbeit abgespeist werden.

Die Arbeitsagentur hat in der Antwort von Sozialministerin Barbara Klepsch auch gleich noch eine „Hitliste“ der Branchen und Berufe mitgeliefert, in denen die meisten „Aufstocker“ zu finden sind.

Man wundert sich nicht wirklich, dass Reinigungsberufe mit 4.325 Aufstockern die Tabelle anführen. Aber schon ab Platz 2 wird es peinlich, wenn 3.941 Verkäuferinnen und Verkäufer so schlecht bezahlt werden, dass sie vom Jobcenter nicht wegkommen. Dasselbe gilt für den ganzen Bereich Verkehr und Logistik, wo 2.702 Menschen noch zusätzlich aufstocken müssen.

Das ganze hochgepriesene Transportgewerbe funktioniert also nicht wirklich so, wie es die vollmundigen Lobbyvereine behaupten. Eine Branche, die ihre Fahrer und Verlader nicht ausreichend bezahlen kann, ist eigentlich nicht wettbewerbsfähig.

Im Bereich „Erziehung, soz., hauswirt. Berufe, Theologie“ geht es mit 2.427 Betroffenen munter weiter. Pfarrer werden das wohl eher nicht sein.

Und trotz Gejammers über fehlende Arbeitskräfte leistet sich auch der Bereich „Tourismus-, Hotel- und Gaststättenberufe“ 2.407 Beschäftigte, die mit einem miserablen Lohn abgespeist werden.

Und noch viel peinlicher sind die folgenden Berufsgruppen, etwa wenn in medizinischen Gesundheitsberufen 1.032 Beschäftigte aufstocken müssen.

Keine Überraschung freilich ist, wenn in den Medienberufen (z. B. Werbung und Journalismus) 441 Personen aufstocken müssen. Keine Branche wurde in den letzten Jahren so zerstört wie diese. Es redet nur niemand darüber.

Und wer jetzt denkt, das seien nun alles irgendwelche Berufsanfänger, die dann irgendwann vielleicht doch auf einen vollwertigen Arbeitsplatz wechseln, der irrt. 83 Prozent der zum Aufstocken Gezwungenen sind zwischen 26 und 60 Jahren alt, stehen also eigentlich mitten im Berufsleben, werden aber so schlecht honoriert, dass sie eine Rente schon jetzt in den Wind schreiben können.

Dass es auch Bauern (354), Tischler (416), Metallbauer (680) oder Maschinenbauer (724) betrifft, sagt alles über den Zustand der sächsischen Wirtschaft. In ganz elementaren Berufsfeldern ist die Bezahlung noch immer so niedrig, dass qualifizierte Fachkräfte davon nicht leben können. Und die Arbeitsagentur weiß das, denn es sind ja ihre Statistiken.

Da klafft ein riesiger Widerspruch zwischen dem von den Wirtschaftsverbänden immer wieder beklagten Mangel an Fachkräften und der Tatsache, dass tausende Fachkräfte immer noch zum Aufstocken ins Jobcenter traben müssen.

Leipzig war bei Aufstockern 2015 unter den deutschen Großstädten die Nr. 2

Leipzig war bei Aufstockern 2015 unter den deutschen Großstädten die Nr. 2

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