Unsere Städte, wie sie heute sind, haben wenig mit dem zu tun, was sich die meisten Bewohner eigentlich wünschen. Als hätten die Stadtplaner Jahrzehnte lang völlig vorbeigeplant an den Interessen der eigenen Bevölkerung. Haben sie ja auch. Aber wer fragt schon die Stadtbürger/-innen, was sie wirklich wollen? Das Difu hat es jetzt mal getan.

Und das Ergebnis überrascht nicht: Die Wünsche der Bevölkerung für ihre Stadt der Zukunft unterscheiden sich deutlich vom heutigen Bild der Städte. Der Wunsch nach „Urbaner Wildnis“ findet die größte Zustimmung. Daneben sind weniger Abfall, geringerer Ressourcenverbrauch sowie angemessener, ausreichender und bezahlbarer Wohnraum gefragt.Eine Kommune, die dem Verlust der Artenvielfalt entgegensteuert, vielfältige Lebensräume für Flora und Fauna bietet und diese auch auf neue Weise in bebaute Flächen integriert – eine solche „Urbane Wildnis“ steht ganz oben auf der Wunschliste der deutschen Bevölkerung, wenn man sie nach ihrer bevorzugten Vision einer Stadt der Zukunft fragt.

Dies ist dann eben auch eines der Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung, die die Bertelsmann Stiftung und das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) zusammen mit dem Meinungsforschungsinstitut Kantar Public durchgeführt haben.

Den geringsten Anklang unter den zur Auswahl stehenden Zukunftsvisionen fand die „Sharing City“, in der die Menschen Besitz und Konsum auf das Wesentliche konzentrieren, diverse Dinge häufiger teilen und leihen, anstatt sie zu kaufen.

Ist die Stadt der Zukunft vorstellbar?

Der Unterschied zu üblichen Befragungen, wie sie etwa das Leipziger Amt für Statistik und Wahlen in der jährlichen Bürgerumfrage vornimmt, ist: Den Teilnehmer/-innen wurde nicht die übliche Liste von Sorgen und Problemen vorgelegt, die sie bitteschön nach Lust und Laune einordnen sollten, sondern neun Zukunftsvisionen zur Diskussion gestellt, die auch in einer Stadt wie Leipzig schon lange diskutiert werden.

Der Umsetzungsstand der abgefragten Visionen. Grafik: Difu
Der Umsetzungsstand der abgefragten Visionen. Grafik: Difu

Nur scheitern die Vorstöße meistens an lauter Ausreden – von fehlendem Geld übers fehlende Personal über … nein, eigentlich geht es immer um Geld. Und letztlich um die Bodenfrage. Denn die deutschen Städte und auch Leipzig wurden gezähmt, indem ihnen nicht nur die Steuereinnahmen entzogen wurden, sondern auch die eigenen kommunalen Flächen, auf denen die Stadt hätte gestalten können.

Das Sagen in den großen Städten Deutschlands haben Investoren und Kapitalgesellschaften, all jene, die über den bebaubaren Grund und Boden verfügen und ihn wie eine Ware behandeln, die „an Wert gewinnt“, wenn sie sich verknappt.

Nachzulesen u.a. im Buch „Die Bodenfrage“.

Die Vorschläge des Difu beschrieben vereinfacht, wie die Stadt der Zukunft organisiert und beschaffen sein könnte. Wohin soll sich die (Stadt-)Gesellschaft entwickeln und wie soll sie organisiert sein? Abgefragt wurden positiv geprägte Zukunftsbilder für die nachhaltigere Stadt von morgen.

Wie mobilisiert man die Bürger/-innen?

„Um das große Thema Nachhaltigkeit in die praktische Politik der Kommunen zu integrieren, braucht es die Unterstützung der Bevölkerung“, so Projektleiterin Dr. Jasmin Jossin vom Difu, die die Befragung konzipiert und die Ergebnisse in einem Monitorbericht aufbereitet hat.

„Die Bürgerschaft in den Städten lässt sich aber nicht allein durch Negativszenarien, wie den Folgen des Klimawandels, mobilisieren. Vielmehr ist sie auch auf positiv besetzte Zielvorstellungen angewiesen.“

Auf die Zukunftsvision der „Urbanen Wildnis“ folgt in der Wertschätzung der Bürger/-innen direkt die „Abfallfreie Stadt“. Dieses Modell orientiert sich am Prinzip der Kreislaufwirtschaft und reduziert die Ressourcen- und Energieverbräuche auf das notwendige Minimum.

An dritter Stelle wird „Wohnraum für alle“ genannt – also eine Stadt, die allen Menschen in Zukunft einen ausreichenden, angemessenen und bezahlbaren Wohnraum bietet. Aber wenn man sich die Wirklichkeit anschaut, sieht es trübe aus.

Deutlicher Handlungsbedarf bei der Umsetzung vor Ort

Neben der positiven Bewertung der verschiedenen Visionen für die Stadt von morgen offenbart der Monitorbericht des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu) auch erheblichen Handlungsbedarf. Denn der Umsetzungsstand aller neun abgefragten Visionen liegt jeweils deutlich hinter ihrer Erwünschtheit.

Auch wenn die „Urbane Wildnis“ das Konzept ist, das aus Sicht der Befragten schon heute am stärksten umgesetzt ist, zeigt sich eine deutliche Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die größte Diskrepanz zwischen der Erwünschtheit in der Zukunft und dem aktuellen Umsetzungsstand findet sich jedoch beim Konzept „Wohnraum für alle“.

Nicht nur hat sich Bauen in den vergangenen Jahren dramatisch verteuert – Staat und Kommunen tun sich unheimlich schwer, auch nur ansatzweise die bezahlbaren Wohnungsbestände zu bauen, die gebraucht werden.

Der sogenannte Wohnungsmarkt hat sich – wie jeder über Jahrzehnte deregulierte Markt – ganz auf die hochpreisigen Wohnungssegmente fokussiert und dabei auf die gutbetuchten Mieter oder – auch in Leipzig immer stärker zu spüren – die Wohnungskäufer, die Wohnungen als moderne Geldanlage betrachten und nicht mal dran denken, selbst einzuziehen.

So wird Wohnen zum Spekulationsobjekt. Und Städte suchen eher verzweifelt nach Bauflächen und notwendiger Förderung für bezahlbares Wohnen.

Dementsprechend zeigt sich hier der größte kommunale Handlungsbedarf. Die geringste Notwendigkeit, aktiv zu werden, sehen die Befragten bei der „Sharing City“, der von ihnen am wenigsten gewünschten Zukunftsvision.

Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind Klimafragen am wichtigsten

Die Vorstellungen der jungen Menschen im Alter von 14 bis 27 Jahren unterscheiden sich in einigen Aspekten dabei auch noch deutlich von denen der befragten Gesamtbevölkerung. Klima, Umwelt und Energie sind ihnen besonders wichtig. Auch die Vision der „Selbstversorgenden Stadt“ findet bei ihnen mehr Zuspruch. Ebenfalls sehr wichtig ist ihnen die „Autofreie Stadt“.

Sie thematisieren deutlich häufiger soziale Themen und das gesellschaftliche Miteinander im Zusammenhang mit ihren Wünschen an die nachhaltigere Stadt der Zukunft. Direktdemokratische Angebote finden sie wünschenswerter als andere Altersgruppen. Nun gelte es, diesem starken Wunsch nach Partizipation nachzukommen, meint das Difu.

Aber auch der Topos „Autofreie Stadt“ macht deutlich, dass die heutigen Stadtplaner nicht so können, wie sie vielleicht wollen. Die Förderpolitik von Bund und Ländern hat seit Jahrzehnten das Automobil und den Straßenbau bevorzugt, ÖPNV und Radwege aber bewusst kurz gehalten. Dementsprechend sind Wohnen und Arbeiten in den meisten Großstädten ohne eigenes Auto meist nicht mehr zu bewerkstelligen, da gut ausgebaute Alternativen fehlen.

Wer engagiert sich wirklich wofür? Grafik: Difu
Wer engagiert sich wirklich wofür? Grafik: Difu

Dennoch überrascht es, wenn 67 Prozent der Befragten betonen, sich für eine „Autofreie Stadt“ zu engagieren. Das ist ja nun einmal eine deutliche Mehrheit und müsste doch eigentlich selbst die Politik in den Stadtparlamenten beeinflussen – was es aber eindeutig nicht tut. Auch dort geht es immer nur in kleinen Schritten, die am Status quo, der autogerechten Stadt, erst einmal nichts ändern, nur versuchen, umweltgerechte Mobilität irgendwie noch zusätzlich ins System zu bringen.

Schöne Visionen und tatsächliches Engagement

Der Grund liegt auch in den Wahlbeteiligungen zu Kommunalwahlen, die immer wieder auch Mehrheiten zustande bringen, die all den so schönen Zukunftswünschen der Stadtbewohner/-innen widersprechen.

Andererseits zeichnen die Visionen des Difu auch ein Bild davon, dass eine andere Stadt durchaus denkbar und machbar ist. Bislang unterliegen diese Visionen noch Denkverboten, gelten als nicht umsetzbar, weil die realen Besitzverhältnisse sie verhindern. Nur das Engagement der Abfallfreien Stadt erscheint noch größer als das für die Autofreie Stadt.

Vielleicht auch, weil es einfacher umsetzbar scheint. Was freilich auch ein Trugschluss ist, denn nur weil der Abfall – fein sortiert – aus aller Augen verschwindet, haben die großen Städte allesamt noch keine funktionierende Kreislaufwirtschaft. Auch dafür gibt es erst Ansätze, die bislang das Big Business nicht weiter stören, in dem der wachsende Konsum billig hergestellter Produkte (die oft nicht mal recycelfähig sind) noch immer die zentrale Rolle spielt.

Die Umfrage erzählt im Grunde davon, wie sehr sich die Befragten der Probleme schon bewusst sind. Aber wie sehr sich auch das Denken und Wirtschaften dazu ändern muss, ahnt man bestenfalls. Und wie viel Selbstbetrug ebenfalls darin steckt, zeigen die Antworten zum eigenen Engagement zur „Urbanen Wildnis“ und zu „Wohnraum für alle“.

In beiden Fällen engagieren sich nur 23 Prozent der Befragten – der niedrigste Wert für alle abgefragten Visionen. Das heißt: Es kämpft doch wieder nur jeder für sich für die Dinge, die ihn selbst betreffen. Und so gibt es für den Großteil der Visionen auch keine Mehrheiten. Auch nicht für die „Urbane Wildnis“, die scheinbar so wichtig ist.

Wenn es drauf ankommt, werden diese Anträge in den Stadträten stillschweigend abgelehnt. Dann regieren doch wieder die viel gerühmten „Sachzwänge“, die den Bürger/-innen suggerieren, dass all ihre Träume viel zu teuer und deswegen leider nicht umsetzbar sind.

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Und wenn der Stadtrat sich weiterhin von diversen örtlichen Akteuren wie vom OBM, von dessen Stadtverwaltung, von der IHK, von den City-Händkern, von der LVZ, von den Geschäftsführern der LVB, von heimlich agierenden grauen Eminenzen auf der Nase tanzen lässt, dann werden viele Wähler dem Wahlzettel eine lange Nase machen. Dann mag sich die Stadtregierung (=Stadtrat, und nicht die Stadtverwaltung, die ist nur Auftragnehmerin) auf 10% Wahlbeteiligung (die der Rentner, denen die Zukunft am Ende doch ein bisschen egal ist) ausruhen.

Leipzig ist nach der Wende gleichsam als Tiger im Osten gestartet (Leipzig kommt!) und wird als Bettvorleger verfehlter Urbanitätspolitik landen.

Es ist ja nicht nur das viele Blech und der ganze Müll…

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