Darf man denn heutzutage überhaupt noch über Kommunismus nachdenken? Hat sich das denn nicht 1989 gründlich erledigt, als der Kapitalismus, die Demokratie und die Freiheit triumphierten und das „Ende der Geschichte“ einläuteten? Aber irgendwie sieht es ja so aus, dass sich Francis Fukuyama mit seinem Postulat vom Ende der Geschichte gründlich geirrt hat.

Wobei sein Grundirrtum erklärlich ist, denn er hat versucht, das Unvereinbare zu vereinbaren – den (arg reduzierten) Marxismus mit den zentralen Postulaten ausgerechnet des (Neo-)Liberalismus: Freiheit, Individualismus, Anerkennung.Aber die wachsende Ungleichheit in allen Staaten des heutigen Kapitalismus widerlegt all seine Prognosen. Zunehmende nationalistische und populistische Bewegungen bringen die Demokratie ins Wanken, machen erst richtig deutlich, dass die Demokratie an sich weder Freiheit für alle schafft noch politische Teilhabe und Anerkennung für alle.

Im Gegenteil: Immer mehr Menschen fühlen sich ausgegrenzt und abgewertet. Vom Traum, sich im harten Wettbewerb auch nur ein Minimum an persönlicher Anerkennung zu erwerben, bleibt meist schon früh nichts übrig. Geld bestimmt, wer Chancen hat. Und ganz reale Barrieren hindern Menschen an einem wirklich erfüllten Leben.

Wo steckt der Fehler?

Natürlich in der Blindheit für die Fehler eines Systems, das seine Überlegenheit nie im freien und fairen Wettbewerb bewiesen hat. Davon können alle ein Lied singen, die es mit den rabiaten Monopolisierungen in vielen Branchen zu tun haben – regionale Erzeuger genauso wie Mittelständler, die faire Löhne zahlen, oder selbst die Bürger, vor deren Nase rücksichtslose Konzerne die Landschaft zerstören.

Ganz augenscheinlich ist die derzeitige Form der Demokratie zu schwach, selbst das zu schützen, was Slavoj Žižek die Commons nannte: alle unsere Lebensgrundlagen und gemeinsamen Güter, die nicht zerstört und verkauft werden dürfen. Auch nicht privatisiert, weil ohne sie ein Leben in Freiheit nicht möglich ist.

Bis hin zum Boden, der mittlerweile zum weltweiten Spekulationsobjekt von Leuten geworden ist, die damit einen enormen Druck ausüben auf die Nahrungsproduktion, den Wohnungsmarkt, die Selbstbestimmung ganzer Städte und Länder. Was eigentlich auch bedeutet, dass das endliche Gut Boden ein Common ist und damit nicht in Privatbesitz gehört, sondern bestenfalls von der Gemeinschaft verpachtet wird.

Wer über Commons nachdenkt, merkt schnell, wo der Kapitalismus gründlich entgleist ist und warum er unsere Demokratie systematisch zerstört. Mittlerweile bis hinein in die soziale und politische Verständigung im digitalen Raum, der aus Steuergeldern aufgebaut wurde und deshalb natürlich auch ein Common ist, wie Žižek betont.

Aber wer soll die Bewahrung der Gemeingüter durchsetzen, wenn die Demokratie selbst erpressbar ist? Und wo sitzt der eigentliche Denkfehler, der es den heutigen Linken so schwer macht, überhaupt noch aufrecht zu gehen, weil ihnen der gescheiterte real existierende Sozialismus mitsamt seinen stalinistischen Entgleisungen als Rucksack aufgeladen wird? Und gleichzeitig kaum noch irgendwo eine öffentliche Diskussion über mögliche Alternativen stattfindet.

Was auch damit zu tun hat, dass kaum noch jemandem klar ist, worum es beim Kommunismus eigentlich ging und geht. Mehr als einen oberflächlichen Marx haben selbst die eifrigsten Diskutanten selten beizubringen.

Vielleicht liegt’s auch an der Sprache. Denn in französisch- und englischsprachigen Ländern wie Kanada, Bordeleaus Heimatland, muss man das Common nicht erst entschlüsseln oder übersetzen. Da ist der Weg auch gedanklich kürzer, das Gemeinsame darin zu suchen und zu klären, was damit eigentlich gemeint ist.

„Eine Kartographie“ nennt Bordeleau seinen Essay im Untertitel. Aber Rekonstruktion oder Entschlüsselung wären auch ganz treffende Beschreibungen gewesen. Denn um der Sache auf den Grund zu gehen, macht Bordeleau in diesem Essay auch Ausflüge in die Theaterwelt und die bildende Kunst. Denn Künstler/-innen sind augenscheinlich viel näher dran an diesem Ur-Anspruch des Menschen, in einer Menschenwelt Anerkennung, Respekt und Teilhabe zu finden.

Die Frage ist nur: Wie? Und sie wird vom Liberalismus (der die Lösung in der Entfaltung des radikalen Individualismus und des hemmungslosen Wettbewerbs sieht) völlig anders beantwortet als vom Kommunismus, der heute in der Schmollecke sitzt und sich nicht mal mehr zu so heftigen Debatten traut, wie sie noch in den 1960er Jahren Europas Intellektuelle beschäftigten.

Und eine dieser Debatten ist wie ein Nukleus, in dem das sichtbar wird, was Bordeleau in der heutigen Positionierung der Linken vermisst: der Streit zwischen Sartre und Merleau-Ponty über das politische Engagement. Sartre war ja zuletzt das exemplarische Beispiel eines unermüdlichen linken Intellektuellen, der sich permanent einmischte und vorlebte, wie er politischen Aktivismus verstand. Übrigens auch im Versuch, Merleau-Ponty quasi zum Schweigen zu bringen.

Dessen Kritik aber traf den Kern, wie Bordeleau schreibt: „Diese nihilistische Mystik der Aktion – pure aktivistische Selbstbestimmung – entspricht der Vorstellung, dass das revolutionäre Handeln sich einzig und allein aus sich selbst rechtfertigt.“

Da dürften sich auch viele wiedererkennen, die im real existierenden Sozialismus zwar jede Menge Aktionismus erlebt haben, aber darunter ein regelrechtes Schweigen, ein regelrechtes Nicht-Reden-Dürfen, als dürfte das Verborgene, das eigentlich der Sinn dieser Gesellschaft sein sollte, nicht benannt werden.

Stattdessen herrschte ein permanenter phrasenhafter Aktionismus, gepaart mit einer permanenten Inwertsetzung der Güter der Allgemeinheit genauso wie der menschlichen Arbeitskraft, dem, was Bordelaeu Valorisierung nennt. Aber was ist das für ein seltsamer Aktionismus, der sich nicht einmal seiner Grundlagen versichert? Genau diese Frage stellte ja Merleau-Ponty.

Denn wer immerfort agiert und dabei meint, aus sich selbst heraus „permanent schöpferisch“ zu sein, der gerät in eine Situation der Selbstvergessenheit. Der glaubt, „am gesamten Geschehen“ teilzuhaben, ist aber eigentlich nur noch ein immerfort Getriebener, gejagt vom eigenen „Postulat der Dringlichkeit“. Bei so einem Aktionismus rechtfertigt man am Ende auch noch die schlimmsten Auswüchse und Radikalisierungen.

Und man schafft eines nicht: zu begründen, warum ausgerechnet der Kommunismus die Lösung für alle sein soll. Und gar eine Rettung aus der Einsamkeit des entfesselten Kapitalismus, als eine „Disposition, sich berühren zu lassen“, schreibt Bordeleau: „Zu diesen Verbindungen, die uns ausmachen, gehört die Freundschaft. Es reicht nicht, sich auf eine allgemeine Idee des Commons zu berufen, um das affektive Elend zu bekämpfen, das der abstrakte Individualismus und unsere Isolation auf atomisierten Bahnen der Selbstaufwertung erzeugen.“

Denn hinter den Verheißungen des Liberalismus mit seiner völlig entgrenzten Freiheit steht am Ende die komplette Inwertsetzung selbst des menschlichen Körpers, der privatesten Gedanken und Gefühle, die Okkupation sämtlicher persönlicher Daten. Der zum absolut entgrenzten Individualismus angestachelte Mensch vereinsamt, leidet zunehmend an seelischen Nöten und verliert tatsächlich das, was ihn erst sein Menschsein spüren lässt: die Nähe mit anderen und das Gefühl, mit ihnen etwas Großes und Gemeinsames zu teilen.

Womit Bordeleau sich langsam vorarbeitet zu der Leerstelle, die nicht gesehen werden soll. Was andere Autor/-innen gern als Resonanz beschreiben, als Einklang mit der Welt und dem Gefühl, verstanden zu werden.

Bordelaus Essay ist gespickt mit Zitaten und Verweisen auf Dutzende philosophische Arbeiten, die vor allem im französischen und englischen Sprachraum erschienen sind, auch wenn es mehrfach Verweise auf deutsche Philosophen wie Nietzsche, Heidegger und Sloterdijk gibt, die sich gedanklich durchaus mit der Frage beschäftigt haben, was den Menschen eigentlich mit der Welt verbindet.

Denn darum geht es ja letztlich. Und in der heutigen Un-Verbundenheit steckt ja alles, was man als Brandstoff benötigt, um die Welt in ihren einmaligen Zusammenhängen zu zerstören, zu verwerten und zu okkupieren. Wer das Gespür für das Gemeinsame zerstört, schafft erst die emsigen Lemuren, die bereitwillig alles devastieren, was den eigentlichen Reichtum des Menschseins ausmacht.

Am Ende macht es ein Manifest des Colectif pour l’intervention noch deutlicher, das Bordeleau zitiert. Denn danach ist die Stärke des Kommunismus die Beherrschung der Kunst, „die Ökologie derjenigen Relationen zu pflegen, die uns existieren lassen. Diese Achtsamkeit gegenüber den Lebewesen und für die Orte, die wir bewohnen, beinhaltet eine offensive politische Dimension. Sie findet ihren Ausdruck in der Weigerung: nicht zuzulassen, dass das Kapital den gemeinschaftlichen Gehalt unserer Erfahrungen vereinnahmt und umleitet.“

Womit er dann schon nah bei Žižeks Definition der Commons ist. Nur dass das Begreifen dessen, was unsere Gemeingüter sind, als Grundlage das Wissen braucht, was uns denn eigentlich mit der Welt und den Mitmenschen verbindet. Und dass wir alles, was uns als Mensch tröstet und hält, genau hier finden.

Nicht im Konsum, nicht im Besitz, nicht in Karriere und Status. Sondern in intensiv erlebter Gemeinschaft mit Menschen, mit denen wir das Allermenschlichste teilen. Manche erleben das tatsächlich. Die meisten aber bleiben einsam, weil all ihre Kraft dabei aufgezehrt wird, dem falschen Fähnchen der verabsolutierten Freiheit nachzujagen.

Und Bordeleau macht mit seinen Ausflügen in die Kunst auch sichtbar, dass die Intensität des Erlebbaren oft einfach darin besteht, dass man aufhört, aktionistisch wirken zu wollen oder gar der Welt einen Drall geben zu wollen. Denn dass dieser Aktionismus am Ende völlig ins Leere lief, zeigt ja das letztlich tragische Wirken Sartres. An dessen Beispiel Bordeleau übrigens auch zeigt, wie sehr dieser politische Aktionismus der Valorisierung des immerfort nach Erfolgen jagenden Liberalen ähnelt.

Und der Blick auf den Zustand der Welt macht eigentlich nur zu deutlich, dass die Menschheit gut daran getan hätte, vieles einfach bleibenzulassen. Was sie aber unter dem permanenten Jagdruf des Kapitals nie konnte. Wogegen eigentlich nur diese Suche nach dem Urgrund hilft: des Vergewisserns dessen, was wirklich unser aller Gemeinsames ist, das es zu behüten, zu bewahren und zu beschützen gilt. Und das betrifft alles, wirklich alles: die biologische Vielfalt, das Trinkwasser, das Klima, die Meere, die Wälder, gesunde Böden und alle menschlichen Orte und Beziehungen, wo Menschen sich aufgehoben und geliebt fühlen.

Damit ist man wirklich am Urgrund des Kommunismus. Und aller Philosophie, wie Bordeleau noch ganz beiläufig einfließen lässt. Und es wäre tragisch, wenn man daraus nicht eine wirklich menschliche Politik machen könnte.

Érik Bordeleau Das Common des Kommunismus, Büchner Verlag, Marburg 2021, 20 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar