3.784 Euro beträgt der Medianlohn der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten in Leipzig. Ein Wert, der diese Teilgruppe der Erwerbstätigen in die oberen Einkommensgruppen der Stadt einordnet. Um 243 Euro sei dieser Medianwert 2024 gestiegen, teilte die Arbeitsagentur Leipzig mit. Aber wo ordnet sich Leipzig damit eigentlich ein? Kommt die Stadt damit so langsam ins Spitzenfeld der deutschen Großstädte? Mitnichten, kann Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) feststellen.
Er nimmt die aktuellen Zahlen der Arbeitsagentur immer wieder unter die Lupe, ordnet sie ein, packt sie in große Tabellen, die nicht nur das Licht auf eine einzelne Stadt lenken, sondern alle Landkreise und Großstädte in Deutschland einordnen.
Und so merkt man, dass sich so viel eigentlich nicht getan hat. Leipzig und Dresden sind nach wie vor die Großstädte mit über 400.000 Einwohnern, in denen die Vollzeitverdiener einen deutlich niedrigeren Median der monatlichen Bruttoarbeitsentgelte haben als in allen anderen Großstädten. Leipzig liegt mit den 3.784 Euro am Ende der Liste mit den Großstädten, Dresden mit 3.932 Euro direkt davor.
Aber selbst in den Städten NRWs, die teilweise selbst in ihren eigenen Krisen stecken, liegen die Medianbruttogehälter teilweise deutlich über 4.000 Euro. Frankfurt / Main kommt als Bankenmetropole schon auf 5.202 Euro, die Landeshauptstadt von Baden-Württemberg, Stuttgart, auf 5.323 Euro und die bayerische Landeshauptstadt München auf 5.362 Euro.
Womit München trotzdem nur die Nr. 4 unter allen Landkreisen und Kreisfreien Städten ist. In der Autobauerstadt Ingolstadt wird mit 5.866 Euro im Median noch deutlich mehr verdient, ebenso in Erlangen mit 5.769 Euro, gefolgt von der niedersächsischen Autobauerstadt Wolfsburg mit 5.730 Euro.
Jena, Potsdam, Dresden …
Und dann muss man schon eine Ecke scrollen, um die erste ostdeutsche Stadt in dieser Liste zu finden. Das ist auf Rang 77 die thüringische Universitätsstadt Jena mit 4.129 Euro. Die nächste Stadt im Osten ist dann Potsdam auf Rang 128 (3.968 Euro) vor Dresden auf Rang 137. Man sieht schon an diesen Platzierungen, wie rar gesät im Osten die Städte sind, in denen sich tatsächlich gutes Geld verdienen lässt.
Reihenweise liegen selbst kaum bekannte westdeutsche Städte und Landkreise vor diesen „Leuchttürmen“ im Osten. Was natürlich auch mit der nach wie vor existierenden Dichte mittelständischer Betriebe in diesen Landkreisen zu tun hat, während eine vergleichbare Wirtschaftsstruktur im Osten seit 1990 nicht mehr existiert und auch nie wieder rekonstruiert wurde.
Ostdeutsche Landesregierungen fokussieren sich deshalb auf jene „Leuchttürme“, wo einige wenige industrielle Großunternehmen eine ganze Region mit sich ziehen.
Leipzig taucht in dieser Liste dann erst auf Rang 209 auf, also im Mittelfeld – zwischen dem Oberallgäu und der Stadt Pirmasens in Rheinland-Pfalz. Auch ein schöner Vergleich, der deutlich macht, welche Wirtschaftskraft in Leipzig steckt – und welche eben nicht.
Auf Rang 232 folgt dann Schwerin, Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Auf Rang 256 folgt Rostock und auf 258 Brandenburg an der Havel. Auf 261 folgt Weimar und auf 264 Cottbus. Bis dahin vermisst man dann schon Halle an der Saale, das erst auf Rang 272 kommt, noch vor Chemnitz auf 288.
Nordsachsen findet man dann schon in der Schlussgruppe auf Rang 358 mit 3.269 Euro. Der Landkreis Leipzig folgt mit 3.218 Euro übrigens auf Rang 371. Das Ende der Tabelle wird von lauter ostdeutschen Landkreisen dominiert. Was eben auch davon erzählt, dass in diesen Landkreisen kaum umsatzstarke Unternehmen sitzen, die der Region höhere Einkommen ermöglichen. Wenn hier dann die noch existierenden Ableger etwa westdeutscher Autokonzerne schließen, reißt das in der Regel die ganze Region mit nach unten. Erst recht, wenn die wirklich nennenswerten Bruttoentgelte in diesen wenigen Werksablegern gezahlt werden.
In der Tabelle sieht man dann auch, wie diese Ungleichverteilung der industriellen Cluster auch die Medianentgelte auf Länderebene beeinflusst. Die Tabelle zeigt aber auch die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen und Deutschen und Ausländern. Wobei Ausländer im Westen rund 1.000 Euro weniger aufs Gehaltskonto überwiesen bekommen. Im Osten sind es aber auch noch über 600 Euro.
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Es gibt 2 Kommentare
Eine Ergänzung: Hier wird oft so geschrieben, als hätten wir eine Planwirtschaft, wo wir einfach mal festlegen wer wie viel verdient. Das geht aber nur in geringem Maße gut [Planwirtschaft – also so richtige das heißt solche, die Preise aktiv verzerrt oder sogar direkt festlegt (das ist genau das Thema bei den Löhnen) – ist nur in engen Spielräumen neben einer wettbewerblichen Logik implementierbar] UND diese Eingriffe hätten auch wieder Folgen für die Ungleichheit (denn wo einige besser gestellt werden werden andere dafür unumgänglich relativ schlechter gestellt… und dies ist umso blöder weil ein aktiver d.h. parteiischer Eingriff des Staates (inwiefern darf/soll der parteiisch sein bei dieser Frage?) vorläge), jetzt mal ganz davon abgesehen ob das den Kapitalisten gefiele (“Spoiler” wie man heutzutage sagt: tut es nicht).
Bevor es gleich sehr theoretisch wird noch ein kurze Meinung zum Median: Ja, der kennzeichnet eine Verteilung weil er genau den Lohn des Einwohners nennt, von dem aus 50% der Einwohner weniger und 50% der Einwohner mehr verdienen. Der Mittelwert (arithmetische Mittel) aber hat auch eine Aussagekraft und der liegt über dem Median. Denn beim Mittelwert gehen Extremwerte der Löhne ein (die, die bekannt sind jedenfalls…) und diese gehen ja mitunter in gewaltige Sphären, wohingegen am anderen Ende des Spektrums die “0” laut landläufiger Meinung die Grenze bildet. Der Mittelwert der Löhne von Leipzig – den ich zugegeben nicht parat habe – kann sehr deutlich über dem Median liegen. Man kann dann als mittlerer Verdiener gut sehen, wie weit sein Verdienst unter dem mittleren Verdienst eines Leipzigers liegt.
Jetzt zu der eigentlichen Sache – und ich beschränke mich hierbei nicht nur auf Löhne, sondrn beziehe andere Einkommen mit ein sofern es nicht explizit ausgeschlossen wird, das nur als Information; warum? Weil das sehr viel aussagekräftiger ist und weil das – um manche Vorgänge und Prozesse überhaupt zu verstehen – erforderlich ist.
Ich finde es gut, dass die LZ bzw. L-IZ sich thematisch vieler sozialer Missstände annimmt und bei einigen Themen teile ich den redaktionellen Standpunkt. Nicht aber so bei der sozialen Ungleichheit, die oft und auch hier wieder am Beispiel der Löhne (Bestandteil der Einkommen) – zu Recht – kritisiert wird. Ich sage zu Recht, aber warum teile ich den Standpunkt dann nicht? Weil die L-IZ nicht konsistent ist. Ich werde kurz darlegen, inwiefern sie es nicht ist.
Die zunehmende Spreizung der Löhne geht einerseits auch auf Berufsgruppen zurück, die weitgehend über staatliche oder öffentliche Tarfifbschlüsse oder Entlohnungssysteme verfügen, so v.a. Ärzte, weniger häufig Juristen, noch weniger häufig und weniger hoch entlohnt z.B. Psychologen. Diese Gruppen – v.a. Die erste – haben eine sehr große Lobbymacht, weil ihre Dienstleistungen den einzelnen Menschen und der Gesellschaftssphäre der Politik sehr viel wert ist. Sie haben bei weitem überdurchschnittliche Entlohnung, schon wenn sie in öffentlichen Tarifen entlohnt werden, umso mehr aber wenn sie sich als Facharzt niederlassen können. Das haben wir auch nur bedingt in der Hand einzuschränken, nicht nur wegen der angezogenen Exzellenz der Tätigen (zumindest tendenziell ist das der Fall, denn weder das große Abi noch das Studium und auch nicht den Facharzt (wobei es hier i.d.R. Einfacher ist) kriegt man „hinterhergeworfen“ und viele der Klügsten bewerben sich auch heute noch um diesen Berufsweg), sondern auch wegen dem internationalen Arbeitsmarkt für Ärzte; sie sind anderen Gesellschaften genauso wichtig oder wichtiger und zusätzlich sind einige Gesellschaften wohlhabender als die Deutsche (klassisch Schweiz, Norwegen). Man muss diesen Leuten also etwas bieten – wenngleich natürlich nicht NUR aber eben auch ein stattliches Gehalt. Wir kommen hier nicht dagegen an.
Die Verwaltung der ganzen Republik ist mehr oder weniger stark an Tarife gebunden, die über die Berufsgruppen hinweg eine enorme Spreizung generieren und wo es zusätzlich stellen für Außertarifliche Experten gibt. Und nicht nur das: Bestimmte Ebenen der Verwaltung – vom Land an aufwärts und je nach Bedeutung für die Wirtschaft und das Funktionieren des Staatswesens abgestuft sowie zuletzt gemäß der Anzahl an Tätigen je Sphäre (z.B. Innen-/Wirtschaftsministerien) – tragen auch einen bedeutenden Teil zur Lohnspreizung bei, der Staat selbst mit seinen Organen ist also auch bei Beamten und Angestellten Treiber dieser Entwicklung. Und wir müssen hier auch an Dinge wie den ÖRR denken, der bestimmten Leuten fürstliche Gehälter und Pensionen (das bleibt hier im Folgenden – als Alterspension zumindest – ausgespart) beschert, während er zugleich Freiberufler EHER schlecht bezahlt.
Aber wir sind noch längst nicht fertig. Auf dem relativ freien Berufsmarkt der Privatwirtschaft wird relativ effektiv gemäß Knappheit der Qualifikationen/Erfahrungen und der tatsächlichen Leistungserbringung entlohnt. Gefragte Berufsgruppen wie alles um IT/Coding/Netzwerke/Jura/besonders wertvolle Wirtschafts- und Managementstudiengänge, besondere Ingenieursfelder, Mathematiker, Physiker u.a. können hier sehr hohe Gehälter realisieren, ganz abgesehen von Angestellten in extrem kompetitiven und hoch finanzierten Bereichen wie Kultur sei es öffentlich (Theaterleiter, Intendanten, Dirigenten, bestimmte Musiker renommierter Orchester usw.) oder privat (Prominente und Stars aus Unterhaltungs- und Hochkultur), durchkommerzialisierten Sportarten wie Fussball u.a.
Überhaupt zur Kunst und Kultur: Diese wollen wir natürlich nicht missen. Aber sie ist es, die – ohne es zu wollen – die Kommerzialisierung der Städte, deren Sogwirkung für In- und Ausland mitbewirkt und dadurch auch einen Effekt auf die Mieten hat, was nicht unser Thema aber damit doch auch verbandelt ist. Und sie ist es auch insofern, als dass viele Künstler und Kulturangestellte von den eher reicheren Schichten in der Gesellschaft direkt und viele andere indirekt abhängen. Die Oper wird zwar für alle vorgehalten, aber sie befriedigt einen bestimmten Geschmack und ist trotz üppiger Subventionierung doch auch ein Faktor für den Geldbeutel bei Menschen mit geringem Einkommen. Die Philharmonie auch, ebenso bestimmte Theater und auch Festveranstaltungen. Die Künstler bewegen sich in einem Markt, der von kaufkräftigen Individuen abhängt und entfacht wird, nicht von Hinz und Kunz aus Kleinzschocher oder Grünau. Und selbst die staatlichen Förderungen für Künstler – deutlich weniger aber immer noch bedeutend auch die Stiftungen – werden AUCH wegen einer Relevanz für einen anerkannten Geschmack verteilt (es gibt natürlich einige weitere wichtige Gründe dafür). Zum symbolischen Kapitalismus: Luc Boltanski – “Bereicherung”, zum Thema Geschmack und Distinktion sollte man schnell fündig werden, wenn man nicht ohnehin schon davon gehört hat. Der maßgeblichste Name beginnt hier auch mit B.
Wir sehen: Die „Verstrickung“ der Gesellschaft in die staatlichen und die privatwirtschaftlichen Prozesse der Lohnverteilung und -Spreizung ist enorm, und auch nahezu jeder versucht für sich ein Kalkül aufzustellen, wohin er beruflich (und damit auch [zu erheblichem Teil] finanziell) will und dies auch bringt eine Aufwärtstendenz und einen Wettbewerb nach oben in Gang (eben auch finanziell), den aber bestimmte Berufsgruppen aus einem Bündel an Ursachen so nicht zu führen im Stande sind. Sie bleiben strikt auf der Strecke während anderswo Geld und Prestige winken. Eine weitere Ursache der Spreizung der Löhne und Gehälter.
Wir haben hier noch kaum über die weltweite Wettbewerbslogik der Staaten (erster Elefant im Raum) geredet, die sich uns auch unerbittlich aufzwängt. Mir ist es zu viel das auszuführen, aber es ist keine Wissenschaft und oben im Text sind inbezug auf Mediziner schon ein paar Gedanken formuliert worden. nur so viel: Besondere Talente haben einen viel größeren Bereich an Anstellungsmöglichkeiten als noch im ziemlich abgeschirmten Nationalstaat, was sie in eine SEHR viel bessere Verhandlungsposition bringt und was häufig auch dazu führt, dass sie umworben werden. Das gilt für die allermeisten Menschen eben nicht.
Und auch nicht über den zweiten Elefanten im Raum, der wenig diskutiert wird, sicher auch weil das Verständnis für Wirtschaft auf Staatsebene (Volkswirtschaft) verkümmert ist: Wohlhabende halten den überwältigenden Anteil an Aktien und anderen Formen von Unternehmensanteilen, die Einkommen oder die begründete Aussicht auf Einkommen realisieren. Diese Einkommen steigen über die Zeit stärker als die Löhne der Beschäftigen IM DURCHSCHNITT.
Das heißt Erstens, dass nicht über alle Dezile (d.h. Zehntel) der Einkommensverteilung ein geringeres oder wesentlich geringeres Einkommenswachstum vorherrscht (Löhne – die oben wie wir sahen auch schneller wachsen als unten, machen ja nur unten und in der Mitte der Verteilung den nahezu einzigen Einkommensteil aus, wohingegen ober andere Einkommensarten mitunter sehr bedeutend sind) und zwar umso weniger, je höher das Deziel ist (richtig stark ab 80% und dann noch mehr 90%): Das heißt die Einkommen der Einkommensstärksten steigen schon nahezu so schnell wie die Börsenwerte, die der anderen wenig bis Richtung 0-Wachstum oder auch Minus-Wachstum, was man besonders gut erkennt wenn man Einkommen ausdrückt als reale Kaufkraft.
Das heißt Zweitens, dass Vermögen (hier beschränkt auf Aktien und andere Formen der Unternehmensanteile, Immobilien werden nicht weiter diskutiert aber dazu gibt es ja in der L-IZ und allgemein mittlerweile auch viel Wissen über die Entwicklung der Werte und der Mietentwicklung in großen Städten) überdurchschnittlich wachsen im Vergleich zu Löhnen und Gehältern, das heißt schlicht Reiche werden reicher. Dies hat Piketty mehrfach dargelegt.
Das heißt aber Drittens auch, dass überwiegend diejenigen in den großen Firmen, die arbeiten, es sind, die Umsatz und Gewinn realisieren, jedenfalls nicht in erster Linie Manager (die freilich auch arbeiten, aber auf der anderen Seite des Lohnverhältnisses stehen und die in ihrer Arbeit eher Arbeit (anderer) organisieren) oder Eigner, aber dass über den Aktienkurs und andere Formen der Unternehmensanteile andere Menschen übermäßig VON DIESER ARBEIT profitieren, die dafür nicht arbeiten. Es ist hier klassisch tatsächlich die Ausbeutung der Arbeit für die Kapitaleigner.
Es gibt eigentlich KEINEN AUSWEG aus der ganzen Misere und wir sind sogar so aufgebaut, dass wir diese Ungleichheit quasi brauchen – nicht zuletzt wegen einer wenn auch in vielen Kreisen verpönte so doch häufig zutreffenden Sichtweise, wonach diese Ungleichheit Anreize setzt und damit auch – nicht immer freilich – Leistungsbereitschaft hervorruft, von der wir wiederum alle profitieren.
Wir kommen aus der Nummer in dieser Welt mit diesem Gesellschaftssystem und diesen sozialen Strukturen nicht heraus. Das kann nur geschehen, wenn große Umwälzungen sich vollziehen und diese erfordern Umstände der Art, von denen wir – trotz aller berechtigten Sorgen und Schwarzmalerei – doch weit entfernt sind, weil nicht nur die Krisen an Vielzahl und Vehemenz sondern auch die Kontrollinstanzen an Umfang, Vernetzung und Tiefe enorm zugenommen haben. Nicht zuletzt auch deswegen, weil es sehr viele Profiteure des Systems gibt und weil selbst viele, die finanziell wenig profitieren, dies entweder nicht sehen oder dafür andere Randbedingungen der Lebensweise hochschätzen (führe ich nicht weiter aus, sollte leicht erschließbar sein, was das sein könnte, nur ein Stichwort: gewisse Freiheiten) und weil wir daher davor zurückschrecken, uns auf so einen ungewissen harten Weg zu machen, von dem wir ja überhaupt nicht wissen, wohin er uns führt.
Was ist nun mein Kritikpunkt? Ich sage es deutlich: So gut hier alles gemeint sei, so wenig scheint mir diese Zeitung verstanden zu haben, dass die Handhabe gegen die Auswüchse der Ungleichheit in geregelter und effektiver Weise quasi gegen NULL gehen. Diese Anklagen und diese melancholischen Beschwerden, die an Larmoyanz grenzen, mögen gut ankommen oder der Erleichterung der Seele auch des Verfassers dienen, sie haben aber keinerlei Grundlage in unserer Realität jemals Wirkung zu entfalten. Es bleibt eine Sache die ich schätze: Es wird zumindest benannt und – sehr rudimentär – gezeigt, dass es eine schlechte Entwicklung in Sachen Ungleichheit (Mieten, Eigentum, Einkommen, Löhne) gibt. Das alleine ist wahr und es ist gut so viele Menschen wie möglich daran zu erinnern weil eigentlich sehr viele auf der Minusseite stehen, d.h. derjenigen, die monetär abgehängt werden. Aber die Zeitung feiert zugleich neue Wirtschaftsstandorte, sie fordert Kultur, Umweltschutz, Geld für Krankenhäuser, gerechte Renten und soziale Entwicklung und sieht überhaupt nicht, wie das alles zusammenhängt und verstrickt ist. Das lässt sich alles wohlfeil fordern, aber weder bringen die Forderungen etwas noch können sie in der Gemengelage etwas bringen, weil so viel von dem davon abhängt, dass sich die Wirtschaft des Landes gut entwickelt; warum das ein Problem ist? Weil es ganz zugespitzt impliziert, dass das Kapital angelockt und bei der Stange gehalten werden muss und dies wird niemals über effektive Gleichheitspolitik erfolgen. Denn Kapital – wir lieben unseren alten Marx und seine Zeitgenossen – folgt der Renditeaussicht wie ein Schweinenase dem Trüffel. Renditen benötigen Abschöpfen von Geld d.h. Kaufkraft (Reiche…) UND Niedrighalten von Kosten (Löhne… “Rationalisierung von Stellen” usw.).
Und zuletzt nochmal spitz gesagt, was alleine hülfe: Zusammenbrüche, Kriege und Revolutionen. Nichts ist für die Ewigkeit, aber das sind extreme Wagnisse und sie gehen mit Gewaltschüben einher, die man – also ich sage mal die allermeisten Bürger mit Familie und geregeltem und/oder aus ihrer Sicht gutem Leben – auch nicht gerne wollen kann. Aber das sind die Wegmarken, an denen (angelehnt an Marx) die Verhältnisse ins Tanzen kommen. Alles andere sind Fahrten auf Schienen, die von anderen (sofern noch personalisierbar in unserem geordneten Chaos der gegenwärtigen Welt) oder vom „System“ geleitet werden, die die Weichen stellen. Wir haben hier praktisch – traurig für Verteidiger und Glaubensjünger der Demokratie – nichts zu bestellen.
Unsere Politik macht auf jede erdenkliche Weise den sprichwörtlichen Kotau, gerade eben sogar auf europäischer Ebene gegenüber den USA, wo aber im Hintergrund auch der Wille der Kapitalgeber – in dieser Frage je nach Standort entzweit – die alles überragende Rolle gespielt hat, auch wenn die Zerstückelung der europäischen Staaten aufgrund divergierender Interessen für das konkrete Ergebnis selbst eine bedeutendere Rolle gespielt haben. Gebückt hat man sich, weil man die Kapitalgeber braucht und es ihnen so recht wie möglich machen will, um sie wenigstens zu halten oder zu größerem Engagement im Wirtschaftsraum zu bewegen. Das hat vielleicht unterm Strich nicht geklappt mit dem “Deal”, aber dieser ist der Versuch dessen und darum ein wichtiges aktuelles Beispiel für die unaufhebbare Verstrickung der Politik mit den Kapitalisten, wobei die Einflussrichtung definitiv eher vom Kapital in Richtung Politik geht, als umgekehrt (wenn dort natürlich auch Effekte wirken).