2009 verlor die noch 2005 siegreiche SPD ein Direktmandat im Wahlkreis Leipzig II (153) an Thomas Feist (CDU). Im Bundestag ist er unter anderem Obmann im Unterausschuss "Auswärtige Kultur und Bildungspolitik" sowie Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Seiner Ausbildung nach ist er Musikwissenschaftler, Soziologe und evangelischer Theologe. Die Themen des Interviews: Glauben, Gewissen, Politik, Kirche und Staat, Asyl und Nächstenliebe.

Für den Einstieg in dieses Interview habe ich ein Zitat von Kurt Tucholsky aus dem Buch: „Briefe an eine Katholikin“ mitgebracht: „Sie hatten die Freundlichkeit, einmal das zu tun, was in Deutschland so selten ist: über den trennenden Graben hinüber nicht mit faulen Äpfeln zu werfen, sondern Briefe von Verstand zu Verstand zu schreiben.“ Aus meiner Sicht ein wegweisender Satz für einen Dialog zwischen unterschiedlichen Standpunkten.

Gott, Gewissen, Sachentscheidung

Das Grundgesetz beginnt sehr religiös: “im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott …”. Wie buchstabieren Sie dies in der Politik als Christ?

Das ist gleich eine spezielle Frage. Wir suchen ja für das, was wir da formulieren, nach einer Letztbegründung. Letztbegründungen kann man nicht geben. Deswegen ist Gott der Platzhalter für die Letztbegründung der Menschen. Für mich als Christen ist das nicht verwunderlich, sondern eher folgerichtig. Weil auch all das, was wir in unserem Grundgesetz geregelt haben, in heruntergebrochener Form nichts anderes ist als die Ausweitung der Zehn Gebote. In diesen ist alles enthalten. Wenn man sich überlegt, dass diese Zehn Gebote der Mitmenschlichkeit über Jahrhunderte tradiert wurden und auch heute noch vielen Menschen aktuell erscheinen, dann ist das durchaus etwas, was nicht dem Zeitgeist unterliegt, sondern gerade auch durch seine Geschichtlichkeit eine Grundlage dessen schafft, was wir heute tun.

Die Bindung an Gott ist also in diesem Fall ein Platzhalter, die dann jede Religion, die in Deutschland beheimatet sein will, auf der Basis des Grundgesetzes für sich ausdeuten kann?

Nun, da bin ich mir nicht so sicher, weil die verschiedenen Religionen auch verschiedene Menschenbilder haben. Deshalb sage ich, im jüdisch-christlichen Verständnis ist es genau das, was ich vorher beschrieben habe, nämlich eine Garantie dessen. Durch eine personelle Beziehung und eine personale Ansprache auch: die Gottesebenbildlichkeit. Das ist in anderen Religionen etwas anderes. Deswegen denke ich nicht, dass alle Religionen sich darauf beziehen könnten, sondern bin da eher skeptisch.

Aber auf der Ebene der Menschen, die hier wohnen, könnte man sagen: wer sich auf dieses Bild hin bezieht, auf diese Grundkonstante, der kann mit seiner Religion – wenn er sie so versteht – glücklich werden in diesem Land.

Wenn eben in dieser Religion zwischen Menschen keine Unterschiede gemacht werden, dann schon. Tatsache ist aber, dass es durchaus Religionen gibt, die in ihren Ausführungsbestimmungen unterscheiden: zwischen Mann und Frau, zwischen Menschen mit dieser Orientierung und jener Orientierung. Also ich würde schon denken, dass es Unterschiede gibt und dass nicht jeder Gläubige, der in Deutschland lebt, dieses so unterschreiben würde, wie ich das gerade gesagt habe.

Ein anderer Begriff, der im Grundgesetz steht, ist der Begriff des Gewissens, ein religiöser Begriff: “Sie [die Abgeordneten] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.” (aus Art. 38 GG) Das führt ja auch in einen Zwiespalt, wenn Gewissen gegen Parteidisziplin steht.

Die wenigsten Entscheidungen, die wir im Deutschen Bundestag treffen, sind Gewissensentscheidungen. Genauso wie man den Namen Gottes nicht für jeden Popanz missbrauchen sollte, ist es mit dem Gewissen. Eine Entscheidung, ob man jemandem Finanzhilfen gibt oder wie man Sozialgesetzbücher ausgestaltet, ist keine Frage des Gewissens, sondern sollte eher Frage des Sachverstandes sein. Es gibt aber durchaus Gewissensentscheidungen. Die erkennt man daran, dass bei diesen spezifischen Entscheidungen meistens auch die Fraktionsdisziplin eine untergeordnete bis keine Rolle spielt. Auch gibt es dabei fraktionsübergreifende Anträge verschiedener Gruppen, die sich dann auch verschiedenen Gewissensentscheidungen verpflichtet fühlen. Beispiel Präimplantationsdiagnostik oder Sterbehilfe. Aber: Die meisten Entscheidungen sind keine Gewissensentscheidung.

Das gilt ja immer auch als Sternstunde des Parlamentarismus, wenn über Parteigrenzen hinweg gestritten wird.

Der Parlamentarismus kann auch bei den Sachentscheidungen ganz spannend sein. Die Frage ist, wie man sein Amt und sein Mandat mit Leben erfüllt und wie man Entscheidungen gegenüber anderen vertritt. Auch in der Praxis ist es nicht so, dass eine Fraktionsentscheidung dem Abgeordneten die Entscheidung abnimmt, sondern es ist eine Empfehlung, die aufgrund einer Mehrheitsentscheidung getroffen wird. Natürlich kann man auch eine völlig andere Meinung haben. Und wenn man die begründen kann, dann ist das auch in Ordnung, dann wird man deswegen nicht in die letzte Reihe verbannt.

CDU und Grüne sind wertkonservativ

Sie sind in einer Partei, die sich Christlich Demokratische Union nennt. Führt das noch mal zu einer besonderen Verantwortung bei der Überlegung: wie ist die richtige Entscheidung – in dem Sinne: es muss eine christliche Entscheidung sein?

Es gibt ja Christen in jeder Partei. Die CDU hat nicht das Privileg darauf, christliche Entscheidungen zu treffen. Ich würde sagen, es gibt wertkonservative Parteien und würde in diese Kategorie auch die Grünen einbeziehen, weil sie wichtige Entscheidungen auf Grundlage von Wertorientierung vornehmen. Ich würde auch nicht sagen, dass die CDU eine christliche Partei ist, sondern das christliche Menschenbild, das sich auch im Namen der CDU wiederfindet, ist Grundlage ihrer Entscheidungen.

Und das betrifft die Würde des Menschen und die Freiheit jedes Menschen und die Verantwortlichkeit, die mit der Freiheit zusammenhängt. Keine christliche Partei heißt: auch offen für Menschen ohne religiöse Bindung oder auch für Menschen mit einer anderen religiösen Bindung zu sein, wenn sie sagen, dass sie [die religiöse Bindung] Grundlage des besonderen Wertes des Menschen ist, den wir Christen als Gottesebenbildlichkeit bezeichnen. Das kann man auch in andere Sprachen übersetzen.

Im zweiten Teil des Interviews geht es um das Verhältnis von Kirche und Staat, über den Einfluss der Türkei auf Muslime in Deutschland und die Kernaufgabe von Kirche.

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