Das eine große Projekt, das ihn 2017 beschäftigen wird, kann Burkhard Jung gar nicht nennen. Er ist das Oberhaupt einer Stadt, die ganz seltsam wächst. Die alten Regeln für Erfolgsstädte gelten nicht mehr. Und selbst die Frankfurter Immobilienexperten laden den Leipziger OBM mittlerweile ein, damit er ihnen erzählt, wie so etwas geht, dass eine Stadt wie Leipzig wächst und wächst und wächst.

„Das wäre vor zehn oder auch nur fünf Jahren gar nicht denkbar gewesen“, sagt der Oberbürgermeister beim Pressetermin am Dienstag. Längst fragen auch internationale Immobilienentwickler an im Leipziger OBM-Büro. Die Bauwilligen geben sich die Klinke in die Hand. Ab und an sei auch ein Unternehmen darunter, bei dem es um Produktion ginge. Aber wer das sei, das sagt er lieber nicht in dieser Pressekonferenz am 20. Dezember. Weicht lieber aus und betont etwas, was für dieses seltsame Leipziger Wachstum längst typisch ist: Sowohl der Beschäftigungsaufbau wie auch das Wirtschaftswachstum werden in Leipzig von kleinen und mittelständischen Betrieben getragen. Fast ausschließlich.

Es sind die Kleinen, die lauter neue Arbeitsplätze schaffen und die vor allem für steigende Steuereinnahmen sorgen. Was Leipzig in diesem Jahr zu neuen Rekordeinnahmen bei den Steuern bringen wird.

Und es wird nichts nützen.

Denn das ist Jungs Problem: „Die Ausgaben steigen schneller als die Einnahmen.“

Vor allem die Sozialausgaben. Thema waren in der letzten Zeit immer wieder die Kita-Ausgaben und die „Hilfen zur Erziehung“, beides Begleiterscheinungen eines selbst im deutschen Vergleich ungewöhnlichen Wachstums. „Dresden hat 5.000 Einwohner dazugewonnen, Leipzig 15.000“, sagt Jung. Und man merkt, wie er eigentlich aus dem Sessel springen will wie beim Fußballspiel. Denn damit ist Leipzig 1. Liga. Genauso wie beim Fußball, der auch Burkhard Jung zum begeisterten Stadiongänger gemacht hat, seit RB Leipzig sich professionell in die Bundesliga hinaufgespielt hat und jetzt auch noch die Bayern ärgert. Da wird der einstige Olympiabeauftragte der Stadt Leipzig wieder munter und schwärmt. Denn nicht nur im Fußball steht Leipzig damit auf einmal, „wo es noch vor ein paar Jahren keiner erwartet hätte“, dasselbe ist ja auch im (Männer-)Handball passiert. Die Leipziger können sich wieder fühlen wie Aufsteiger.

Die Bevölkerungszahl wächst. Die 580.000 könnte in diesem Dezember noch fallen. Die Geburtenzahl strebt auf ein Rekordhoch irgendwo um die 7.000. „Da müssen wir wieder mehr Kitas bauen“, sagt Jung.

Und ist schon mitten im Thema.

Denn mit Bauen kommt er nicht hinterher.

Er versucht zwar, im Doppelhaushalt die Investitionen für Schulneubauten zu verdoppeln, aber das Geld hat er eigentlich nicht extra erwirtschaftet. Da ist kein großer Krösus, der schnell mal Millionen beisteuert. Also wird umverteilt. „Straßen und Brücken müssen nun etwas warten“, sagt er. Und gibt doch zu, dass der Bedarf dort nicht weniger geworden ist. Eher mehr.

Denn Bevölkerungswachstum heißt eben nicht nur, dass mehr Schulen und Kitas gebraucht werden, sondern auch: mehr Verkehr.

Die jüngste Untersuchung zum Verkehrsverhalten der Leipziger hat auch den OBM etwas geschockt. Viel früher als die Ratsfraktionen oder die Öffentlichkeit. Er hatte die Zahlen schon viel früher, die zeigen, dass der Pkw-Verkehr in Leipzig ganz und gar nicht zurückgeht – schon gar nicht zugunsten des Umweltverbundes. Fast 40 Prozent aller Wege legten die Leipziger auch 2015 mit dem Pkw zurück. Der ÖPNV stagniert. Der Fußverkehr macht dem OBM mittlerweile echte Sorgen. „Da müssen wir unbedingt etwas tun“, sagt er. Nur der Radverkehr wächst beharrlich Jahr für Jahr.

„Da muss nur der erste Regen kommen“, meint Jung zwar.

Aber Regen kann es nicht sein, der die Leipziger am Radfahren hindert. Er bringt sie schon gar nicht zum Einsteigen in die Straßenbahn. Eher verfestigt er das Problem, dass die Stadt mit der steigenden Zahl von PKW im öffentlichen Raum hat. „Man steht deutlich öfter im Stau“, sagt Jung. Und um Stellplätze in den innerstädtischen Ortsteilen ist längst ein Kampf entbrannt. Eigentlich müssten die Millionen jetzt in moderne und innovative Verkehrslösungen fließen.

Zumindest ein Projekt hat sich Jung dazu vorgenommen im nächsten Jahr: „Wir werden richtig Geld in ein neues Verkehrsleitsystem stecken. Und ich hoffe, dass uns das wirklich hilft“, sagt er. Damit der Verkehr besser flutscht, weniger Staus an Ampeln entstehen und die Ampeln besser und intelligenter auf die Verkehrsflüsse reagieren.

Man kann gespannt sein.

Denn für 2017 rechnet Burkhard Jung mit einem weiteren Bevölkerungswachstum um die 10.000 neue Leipziger. Die Arbeitslosenrate sieht er im 7-Prozent-Bereich. „Vielleicht wird’s eine 6,9“, sagt Jung, will aber diesmal keine Wette eingehen. Denn die Prozesse, wie in Leipzig Arbeitsplätze entstehen, kann er kaum beeinflussen. Es kann auch schiefgehen. Denn Bevölkerungswachstum bedeutet eben auch einen enger werdenden Wohnungsmarkt. Im Neubau sind die Angebotsmieten schon über 10 Euro je Quadratmeter geklettert. Das können sich auch viele Zuziehende nicht leisten. Wohin aber weichen sie aus?

Oder steigt das Einkommensniveau deutlicher als bisher? Denn die jungen Leute, die nach Leipzig ziehen, sind gut ausgebildet und hochmotiviert. Deshalb interessieren sich ja Investoren für diese Stadt. Denn diese motivierten jungen Leute sind es, die die Wirtschaft voranbringen – als motivierte Arbeitskräfte, als Forscher, Entwickler, Gründer. Aber spätestens da ist man in einer Welt, die sich aus der großen internationalen Perspektive kaum greifen lässt. Da steht keine große Firmenzentrale neben der anderen, wo man merkt, wie strategische Abteilungen auch strategisch planen, entwickeln und einstellen.

Es wirkt eher wie ein Ameisenhaufen. Und ständig kommen neue Ameisen angeflitzt aus allen Richtungen. Und oben auf dem Gipfel sitzt der OBM und ruft ab und zu mit unüberhörbarer Begeisterung: „Tooor!“

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Es gibt 2 Kommentare

Zumindest steuert das Rathaus ganz bewusst den Miethaien und Spekulanten in die Hände. Ständig wird versucht oder praktiziert, weiteres Tafelssilber zu privatisieren oder berechtigte Interventionen zu unterlassen. Anders kann ich mir das Debakel mit dem Nichtinteresse der Stadt am Bayrischen Bahnhofsgelände nicht erklären. Hier hätte die Kommune die Chance gehabt, struktursteuernd sozialen Wohnungsbau selbst zu bestimmen. Aber diese Spielwiese hat Herr Jung ja großzügig der Stadtbau AG überlassen. Ein gemein-nütziger Verein, der durch kleinteilige bescheidene Bauweise das Leipziger Porsche-Prekariat schon mehrfach beglückt hat. Weiter so, und immer schön verstört gucken- bald spielen wir mit in der Liga der Psychopathen- Großstädte!

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass unser OBM die Veränderungen in Leipzig staunend, mit großen Augen und offenem Mund, beobachtet, aber keine Ahnung hat, was da vor sich geht – geschweige denn, irgend etwas steuern zukönnen oder auch nur zu wollen…

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