Es ist nicht nur die wachsende Stadt, die die Aggressionen in Leipzig schürt. Es ist ein gesellschaftliches Klima, das immer mehr Menschen sichtlich an die Grenze ihrer Selbstbeherrschung bringt. Denn wenn jeder dritte Leipziger 2016 sagte, er sei in der Öffentlichkeit angepöbelt worden, dann ist das ein bedenklicher Wert. 2011 sagte das nur jeder fünfte.

Und es betrifft vor allem die Jüngeren. Augenscheinlich tut die aufgeheizte Stimmung in den sozialen Netzwerken niemandem gut, schon gar nicht jenen, die dort am häufigsten unterwegs sind. 52 Prozent der jüngeren Männer berichten von Pöbeleien in der Öffentlichkeit, 48 Prozent der jungen Frauen. Auf ähnlich hohe Werte kommen dann nur noch jene Menschen, die trotz aller Schönmalerei am Arbeitsmarkt immer noch arbeitslos sind: 53 Prozent. Fast jede fünfte junge Frau erzählt von sexuellen Belästigungen.

Und wer jetzt wieder glaubt, das habe einen Grund, den scheinbar alle kennen, der irrt: Menschen mit Migrationshintergrund werden genauso oft angepöbelt wie Leipziger mit deutscher Staatsangehörigkeit. Und gerade jüngere Leipziger – Männer wie Frauen – berichten von einer zunehmenden Zahl von Belästigungen im ÖPNV – 10 bis 18 Prozent.

Das alles erzählt von einer Stadt, die zunehmend ihr seelisches Gleichgewicht verliert. Mit einer (gefühlten) Zunahme der Kriminalität hat das eher wenig zu tun, auch wenn 7 Prozent der Leipziger in den vorhergehenden zwölf Monaten mit einem Wohnungseinbruch zu tun hatten (2011: 6 Prozent). Wobei es selbst hier einen erstaunlichen Ausreißer gibt: Ausländer sind mit 14 Prozent doppelt so häufig von einem Wohnungseinbruch betroffen wie Deutsche. Jene Bevölkerungsgruppe, die in einigen Medien immerfort zu Tätern stigmatisiert wird, ist tatsächlich noch häufiger Opfer als die heimische Bevölkerung.

Was natürlich auch an einer gewissen Schutzlosigkeit liegt. Wer schon da ist und gut verdient, kann sich auch besser schützen – zum Beispiel gegen Einbrecher.

Ein Thema, das Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal ebenfalls verstärkt propagieren möchte. Denn aus den Zahlen der Bürgerumfrage zur Sicherheit liest er heraus, dass sich die Leipziger zu wenig gegen Diebstahl und Einbrüche schützen. „Dabei fördert die Kreditanstalt für Wiederaufbau Vorsorge gegen Einbruch schon ab 500 Euro“, sagt er.

Aber – das Aber ist überdeutlich herauszulesen aus dem Bericht: Die meisten Straftaten, von denen Bürger betroffen sind, haben wenig bis gar keine Aussicht, von der Polizei aufgeklärt und gerichtlich geahndet zu werden.

Unter anderem: Weil Leipzigs Polizei seit über sechs Jahren personell unterbesetzt ist. Viele Anzeigen – gerade zu kleineren Delikten – bleiben einfach liegen, weil kein Polizist da ist, der sich speziell darum kümmern könnte.

Was die Stadt selbst tun kann, ist, mehr Ordnungsamtskräfte einzustellen. Am Dienstag, 18. Juli, betonte Heiko Rosenthal, die Stadt Leipzig werde ihren Stadtordnungsdienst personell weiter verstärken. „Neben zehn zusätzlichen Stellen in diesem Jahr soll es im Jahr 2018 weitere zehn Stellen geben. Perspektivisch ist die Einrichtung einer neuen Dienstgruppe des Stadtordnungsdienstes im Zentrum vorgesehen.“

Und dann betonte er etwas, was sich Leipzig zwar seit der verkorksten „Polizeireform 2020“ von Innenminister Markus Ulbig (CDU) wünscht, was aber selbst der OBM erst seit einem Jahr öffentlich und lautstark so formuliert.

Und ebenso Heiko Rosenthal: „Ungeachtet dessen setzt sich die Stadt Leipzig auf Landesebene weiterhin für Korrekturen bei der Polizeireform Polizei.Sachsen.2020 ein, die den Bedürfnissen der wachsenden Stadt gerecht werden.“

Im Klartext: Es fehlen 200 Polizisten in Leipzig. Und Rosenthal weiß auch genau, wo: „Die Polizei muss endlich auch wieder verstärkte Präventionsarbeit leisten.“ Da wurde nämlich das Personal eingespart – bei der Drogenprävention genauso wie bei den Verkehrskontrollen.

„Obwohl 33 Prozent der Leipzigerinnen und Leipziger angeben, in den letzten 12 Monaten in der Öffentlichkeit beschimpft worden zu sein, haben nur 3 Prozent der Betroffenen eine Anzeige bei der Polizei erstattet“, heißt es im Bericht.

Die Leipziger glauben nicht mehr daran, dass sich die Polizei überhaupt noch mit solchen Bagatellen beschäftigt. Selbst bei sexueller Belästigung liegt die Anzeigequote nur bei 5 Prozent. Und dann denkt man kurz an die tollen Kameras in den Straßenbahnen, die man so gern als Hilfsmittel für mehr Sicherheit propagiert hat – aber das Vertrauen, dass die Kameras irgendetwas helfen, ist zumindest gesunken – von 74 auf 71 Prozent. In öffentlichen Fahndungen tauchen Bilder aus diesen Kameras meist nur auf, wenn es um Diebstahlsdelikte geht. Und wie ist das bei Belästigung und Überfall im ÖPNV? Nur 2 Prozent der Betroffenen melden solche Vorfälle. So recht von Vertrauen in die Hilfsmaßnahmen der LVB spricht das nicht.

Es erzählt eher von einer Stadt, in der sich immer mehr Menschen auf sich selbst zurückgeworfen sehen. Was nicht unbedingt Selbstjustiz bedeuten muss, auch wenn es Leute gibt, die da gern den Kraftmeier spielen.

Leipzig wird zu einer misstrauischen und vorsichtigen Stadt.

Dazu mehr im nächsten Teil.

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