Man vergisst sie immer wieder, obwohl man ständig drüber schreibt und sich ärgert, dass ein paar menschenfeindliche Dauerredner vom rechten Rand sich fortwährend boshaft und dumm über die Vielfalt unserer Gesellschaft auslassen. Sie klammern sich an einem alten, simplen Bild von Menschen fest, die wahrgenommen werden dürfen – und die anderen nicht. Dabei leben wir in einer schon immer sehr differenzierten Gesellschaft. Darauf macht ein einfacher Freibeuter-Antrag jetzt aufmerksam.

Denn der beschäftigt sich mit dem für 2019 geplanten Umbau des düsteren Sitzungssaals im Neuen Rathaus für 3,9 Millionen Euro. Speziell mit dem ersten Beschlusspunkt: „Die Baumaßnahme Variante III, Möblierung 1 wird realisiert. (Baubeschluss gemäß Hauptsatzung § 8 in der zurzeit gültigen Fassung).“

Diesen Punkt wollen sie um eine kleine, wichtige Nuance ergänzt haben: „Das Rednerpult wird für Rollstuhlfahrer barrierefrei umgebaut.“

Die logische Begründung: „Einem Rollstuhlfahrer soll es möglich sein, uneingeschränkt am Rednerpult reden zu können. Deshalb werden technische Voraussetzungen geschaffen, die eine Absenkbarkeit des Rednerpults auf eine individuelle Höhe gewährleisten.“

Und eigentlich müsste es auch noch darum ergänzt werden, dass auch in den Sitzreihen für die gewählten Stadträtinnen und Stadträte Optionen für Menschen mit Behinderungen vorgesehen werden. Augenscheinlich sind sie bis jetzt auf den Kandidatenlisten der Leipziger Parteien noch nie aufgetaucht und deshalb auch noch nie in den Stadtrat gewählt worden, sonst wäre das Thema längst schon angesprochen worden.

Viele – sehr viele – Diskussionen im Stadtrat haben ja gezeigt, dass zwar alle die gesetzlichen Regeln zur Barrierefreiheit kennen, wenn es dann aber konkret wird, wird genau diese Barrierefreiheit oft genug „einfach vergessen“. Man denke nur an die Barrierefreiheit auf der Verteilerebene zur S-Bahn-Station Hauptbahnhof, wo mittlerweile der nachträglich eingebaute Lift die Höhe zum Eingang in die Promenaden überwindet. Wie zäh und seltsam waren dazu die Diskussionen im Stadtrat …

Aber der Antrag erinnert eben auch daran, dass es in der Leipziger Politik überhaupt nicht selbstverständlich ist, Menschen mit Handicap in politische Ämter zu wählen. Entweder hat man mit solchen Menschen nichts zu tun – oder sie werden auch in den Parteien nicht für ernst genommen.

Und dabei ist ja noch nicht einmal das Thema der Gleichberechtigung der Frauen geklärt. Was auch mit dem alten, paternalistischen Denken zu tun hat, das sich heute so gern als Menschenfeindlichkeit austobt.

Und auch die Leipziger mit Migrationshintergrund sind im Leipziger Stadtrat sträflichst unterrepräsentiert. So ein kleiner Antrag macht doch recht schnell sichtbar, wie sehr selbst Politik in Leipzig zumeist ihren alten Trott läuft und Selbstverständlichkeiten annimmt, wo gar keine sind, wo in Wirklichkeit eine stille Ausgrenzung passiert, weil man einfach nicht hinschaut und die Gegebenheiten im gewählten Parlament für normal hält. Aber das sind sie nicht.

Die Möblierung jetzt wenigstens barrierefrei zu machen ist auf jeden Fall ein wichtiger Ansatz, diese Scheuklappenmentalität etwas aufzulösen.

Der Sitzungssaal des Leipziger Stadtrats wird im Frühjahr 2019 für 3,9 Millionen Euro umgebaut

Der Sitzungssaal des Leipziger Stadtrats wird im Frühjahr 2019 für 3,9 Millionen Euro umgebaut

 

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