Je länger die Einschränkungen in der Corona-Pandemie dauern und je weniger erklärt wird, welchen Sinn welche Maßnahmen machen, umso ungeduldiger werden viele Menschen. Und zwar jene, die dabei die größte Last zu tragen haben und sehnsüchtig auf einen Hoffnungsschimmer am Horizont warten. Der Delitzscher Oberbürgermeister Dr. Manfred Wilde hat jetzt deshalb einen Offenen Brief an Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer geschrieben.

Am 15. März meldete der Landkreis Nordsachsen, zu dem Delitzsch gehört: „Gemäß Paragraph 8f der sächsischen Corona-Schutzverordnung gibt das Landratsamt Nordsachsen hiermit bekannt, dass der Landkreis am 14. März 2021 den dritten Tag in Folge die Sieben-Tage-Inzidenz von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner überschritten hat. Ab dem zweiten darauffolgenden Werktag, also ab 16. März 2021, gelten daher wieder Alkoholverbot, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, wie sie in Paragraph 8 der Rechtsverordnung des Freistaates definiert sind.“Drei Tage später nahm auch der Landrat Stellung. Denn ab dem 18. März musste wieder die Schließung der Schulen und Kitas angeordnet werden. Seit Montag, 22. März, wurde wieder eine Notbetreuung eingerichtet. Ausgenommen davon sind nur die Abschlussklassen und Abschlussjahrgänge.

Wozu Nordsachsens Landrat Kai Emanuel erklärte: „Wir hätten uns eine andere Entscheidung gewünscht, um lokal noch stärker differenzieren zu können, müssen diese aber so akzeptieren, da sie der aktuellen Rechtslage entspricht. Bildung ist Ländersache, die Corona-Schutzverordnung auch. Es ist dem Freistaat nicht vorzuwerfen, dass er sich selbst ernst nimmt. Das alleinige Fixieren auf Inzidenzwerte muss allerdings dringend überdacht werden.“

Aber so etwas einfach nur auf Landesebene anzuweisen, genügt nicht, findet der Oberbürgermeister von Delitzsch, Manfred Wilde. Eigentlich ist es höchste Zeit für neue Runde Tische, betont er in seinem Brief an Michael Kretschmer.

Der Offene Brief

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmer,

unser Bundesland befindet sich wie die gesamte Bundesrepublik in einer seit Monaten andauernden Pandemie. Global gesehen haben sich die Nationalstaaten und Staatenbündnisse in ihrer Bekämpfungs- und Hygienestrategie unterschiedlich ausgerichtet. Die Beispiele in Israel, Chile, Großbritannien und der USA zeigen, dass man mit Entschlossenheit erfolgreich bei der Pandemiebekämpfung vorankommen kann. Die Gründe, warum diese Fortschritte in unserem Bundesland und in der Bundesrepublik nicht verzeichnet werden können, sind hinlänglich bekannt.

Wir sind jetzt dadurch an einem Punkt angekommen, wo der soziale und gesellschaftliche Zusammenhalt nicht nur gefährdet ist, sondern an einem Scheideweg steht. Dazu tragen nicht nur die stark polarisierenden politischen Diskussionen bei, sondern die auf das äußerst angespannte Situation in allen gesellschaftlichen und familiären Bereichen.

In ihrer Gesamtwirkung – wenn auch auf anderen Ursachen basierend und an dieser Stelle ohne Wertung – ist die Situation mit der im Jahre 1989 in der früheren DDR vergleichbar. Politische Entscheidungen werden unzureichend und widersprüchlich abgestimmt kommuniziert. Die Zielgruppenansprache ist nicht mehr gegeben und die Meinungsbildung findet zunehmend in den sozialen Netzwerken statt und wird auf die Straße getragen.

Damit entsteht eine unsere freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdende Situation, mit der die gesellschaftliche Verantwortung tragenden Kräfte insbesondere in den Schulen, Kindertagesstätten, Kommunalverwaltungen, Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Justiz, Rettungsdiensten konfrontiert sind und damit umgehen müssen. Dort sind wiederum die Bürgerinnen und Bürger tätig oder haben ihre Kinder in Betreuung, die mit und in ihren Familien die Gesellschaft tragen.

Die Tragfähigkeit sehe ich aus kommunaler Sicht als brüchig an, da die landes- und bundespolitischen Entscheidungen in der COVID-19-Bekämpfung nicht auf einer ganzheitlichen Betrachtungsweise und darauf basierenden wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen über die Virologie hinaus beruhen. Damit schließt sich der Wirkungskreis zur gesamtgesellschaftlich, wirtschaftlich und politischen Situation des Jahres 1989.

Es werden in naher Zukunft nicht mehr nur die politischen oder anders motivierten Randgruppierungen sein, die auf die Straße gehen. Es werden vor allem die jungen Familien mit Kindern sein, die ihre Rechte oder zumindest Wahrnehmung einfordern. Noch sind es die auf den Rathaustreppen abgelegten Kinderschuhe, die sich aber bald in Bewegung setzen werden. Die damit entstehenden Bilder und Leitmotive werden tiefe gesellschaftliche Gräben hinterlassen.

Insofern halte ich es für angezeigt, auf das bewährte Instrument des „Runden Tisches“ hinzuweisen. Der Zeitpunkt ist erreicht, wo nur noch mit diesem Instrument breiter gesellschaftlicher Beteiligung ein weitestgehend konsensualer Entscheidungsfindungsprozess eingeleitet werden kann. An diesen „Runden Tisch“ gehören Fachvertreter aus den Rettungs- und Sozialverbänden, Elternvertreter, Schülervertreter, Fachleute der Medizin und Psychologie, der Kommunalverwaltungen, der IHK und Handwerkskammer, Handels- und Wirtschaftsverbände sowie der Gastronomie und des Hotelgewerbes.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmer, da ich Sie als Politiker schätze und Sie auch meinen Respekt vor Ihrer bisher geleisteten Arbeit haben, gerade deshalb wähle ich diese offene Form der kommunikativen Ansprache. Mir geht es hierbei nicht um Kritik, sondern um eine vertrauensbildende Maßnahme.

Unsere freiheitlich demokratische Grundordnung hat es verdient und zugleich ist es auch unsere moralische Pflicht, in dieser Krisensituation ausgetretene Wege parteipolitischen Handelns zu verlassen. Ich komme selbst aus der Bürgerrechtsbewegung von 1989 in der früheren DDR, sodass mir die Wirkmächtigkeit einer positiv ausgerichteten „Denkfabrik“ wie der eines „Runden Tisches“ nicht fremd ist, und hoffe, Sie werden meinem Vorschlag im Interesse des gesellschaftlichen Zusammenhalts folgen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Wilde
Oberbürgermeister

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