Das Seltsame in diesen Zeiten ist: Mit ostdeutschen Augen sieht man Vieles, was im Westen schiefläuft, viel klarer. Man hat Erfahrungen sammeln können, auch wenn das schon lange her ist und seitdem eine Menge Großschwätzer dafür gesorgt haben, dass die Ostdeutschen das Gefühl haben, dass das alles nichts wert ist. Der Zustand der EU erinnert freilich trotzdem an die ratlosen Altherren der Tafelrunde.

Und mit den hellsichtigen Ostdeutschen meine ich ganz bestimmt nicht die Schlafmützen von PEGIDA, die sich für „das Volk“ halten, aber in Wirklichkeit nur das straßenlaufende Ergebnis sächsischer Wegduck-Politik sind.

Nein. Wer all die heutigen Diskussionen um den Zustand der EU beobachtet, der erinnert sich an ein schmales Bändchen, das 1988 parallel bei Reclam in Leipzig und Suhrkamp in Frankfurt erschien: Volker Brauns „Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie“. Denn ihre Akzeptanz verloren hat die greise Tafelrunde Erich Honeckers, weil sie – je häufiger das Volk, der große Lümmel, nachfragte, umso harscher – klarmachte, dass sie zu einem echten Dialog nicht gewillt war. Ohne ein Gespräch auf Augenhöhe, echten Respekt voreinander und eine richtige Transparenz in allen Entscheidungen gibt es keine Demokratie.

Ob die DDR überhaupt die Kraft dazu gehabt hätte, eine echte Demokratie auszuhalten, steht auf einem anderen Blatt.

Aber Brauns Schriftenbändchen, dass ganz und gar nicht alle Missstände einfach beim Namen nannte, sondern sie mit echt Braunscher Ironie verklausulierte, wurde dennoch – in Ost und West – als Generalkritik am Zustand der Demokratie in der DDR verstanden und gelesen. Und nicht nur das. Denn tatsächlich beschreibt Braun ja darin, wie zentralistisch geführte Betriebe (sprich Apparate, Institutionen usw.) schon aus menschlichen Gründen heraus dazu tendieren, sich zu verselbständigen und die Verwalteten von der Verwaltung ihrer ureigensten Angelegenheiten auszuschließen.

Es ist eine Grundtendenz jeder Bürokratie, egal, welche Ikonen sich die Sekretäre an die Wand hängen.

Was auch schon ein gewisser Franz Kafka wusste, der in seinen Büchern die Extreme einer solchen Bürokratie beschrieb, obwohl er eigentlich nur eine aus eigener Anschauung kannte: die k.u.k-Bürokratie des österreichischen Kaiserreiches.

Deswegen wirkte die Kafka-Konferenz von 1963 so explosiv – bei Kafka entdeckten die klugen tschechischen Reformer, was in allen östlichen Bürokratien falschlief.

Und bei Braun lasen die ans ironische Zwischen-den-Zeilen-Lesen gewohnten Bürger des Ostens, was in der innerbetrieblichen Demokratie der DDR falschlief. So eulenspiegelhaft hingesetzt, dass die Funktionäre sehr wohl ahnten, was für ein Sprenggut die Schrift war. Aber 1988 – da war deren Macht am Erodieren. Sie hatten ihre Akzeptanz verloren.

Und die EU?

Die hat noch eine Chance. Aber es deutet viel darauf hin, dass ganz Ähnliches passieren muss wie 1989. Und Ulrike Guérot hat es mit ihrer Streitschrift „Der neue Bürgerkrieg“ auf den Punkt gebracht: Wenn Europa nicht zur Republik wird mit einem voll verantwortlichen Parlament und einer demokratisch gewählten Regierung, dann wird es verpuffen wie 1989 die Macht der SED. Es verliert schlichtweg jede Akzeptanz.

Und wo die üblichen Kommentatoren noch immer lamentieren und orakeln, warum die Staatengemeinschaft gerade droht, auseinanderzufliegen, erfasst die simple Analyse der Politikwissenschaftlerin immer mehr Köpfe. Ja, klar. Da fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Den fatalen Zustand, dass die Regierungschefs in der Kommission unter Ausschluss der Öffentlichkeit das Europa zusammenschustern, das ihnen gerade in den Kram passt, kann man nur beenden, wenn die Europäer wirklich ein voll gesetzgebungsfähiges Parlament wählen und eine gemeinsame Regierung, deren Aufgabe es ist, die Grundlagen für ein wirklich gemeinsames Europa zu schaffen.

Die sächsischen Linken finden die Idee richtig. Der sächsische Landesvorstand der Linken hat deshalb beim Bundesparteitag der Linken in Hannover (9. bis 11. Juni) einen Antrag „Für die ,Republik Europa‘“ zur Abstimmung gestellt.

Und wo Sachsens CDU die Nähe zu Polen und Tschechien immer wieder als Ausrede für sächsische Sonderwege nimmt, betont Rico Gebhardt, Vorsitzender der sächsischen Linken, dazu: „Wir aus Sachsen, dem Bundesland mit der ehemals längsten EU-Außengrenze, haben besonders lange und intensive Erfahrungen mit Schritten auf dem Weg ins Europa der Regionen. Denn Wrocław und Liberec sind uns näher als Köln oder Aachen. Unsere Landtagsfraktion pflegt seit rund anderthalb Jahrzehnten grenzübergreifende Zusammenarbeit mit Partnerinnen und Partnern aus Tschechien und Polen.“

Und dann formuliert er etwas, was den Blickwinkel auf die mitteleuropäischen Partnerschaften verändert. Nicht Abgrenzung ist die Lösung, sondern Kooperation und Partnerschaft.

Rico Gebhardt: „Unser Antrag setzt ein klares Signal: Mehr Sicherheit, gerade auch soziale, gibt es nicht in Abgrenzung und Abschottung aller gegen alle. Das Nationale ist Geschichte, wir brauchen eine europäische Bürgerschaft und ein europäisches Parlament, das über alle üblichen Parlamentsrechte verfügt. Deshalb wollen wir sächsischen Linken die ‚Republik Europa‘, deren Stützen starke Regionen sind.“

Im Antrag heißt es: „Unsere europäische Republik setzt auf gleichwertige Lebensverhältnisse für alle Menschen. (…) Mit der Vereinheitlichung des europäischen Steuerrechts, der sozialen Sicherung, der Rente, des Mindestlohnniveaus und der Arbeitslosenversicherung stellen wir sicher, dass das Projekt Europa ein Miteinander statt ein Gegeneinander wird.“

Harter Tobak – zumindest für die Kofferträger des Neoliberalismus.

Aber genau das erwarten die meisten Europäer von der Union: eine Zusammenarbeit, die zuallererst die gravierenden sozialen Probleme löst.

Formuliert haben die sächsischen Linken auch: „Das republikanische Selbstverständnis orientiert sich am Republikanismus der französischen Revolution.“ In der Begründung des Antrags heißt es abschließend: „Wir müssen ein positives Bild zeichnen, wie Europa neu gestartet werden kann.“

Es ist überfällig.

Auch mit der Erkenntnis, dass es das geradezu ignorante Markt-Denken der EU-Kommission ist, das die meisten Europäer als technokratisch und elitär empfinden. Auch und gerade im europäischen Osten, wo man den Beitritt zur EU auch als den Beitritt zu einer großen humanistischen Idee begriff. Bis man dann nach einigen Jahren merkte, dass irgendetwas falschläuft und augenscheinlich Freihandelsverträge mit Amerika und China wichtiger sind als die Stärkung der Regionen.

Das kannte man irgendwie schon aus der Zeit des seligen RGW.

Nur dringen Vernunftargumente augenscheinlich nicht mehr durch, wenn Bürokraten an ihrer Macht festhalten und immer weitermachen, als würde es nicht überall brodeln auf dem Kontinent.

„Das ist die soziale und zivilisierte Alternative zum neoliberalen und entsolidarisierendem ‚Weiter so‘, aber auch zu Rechtspopulismus und Nationalismus“, sagt Rico Gebhardt. „Das Problem der Europäischen Union ist, dass es in ihr zu wenig ‚Europa‘ und zu viel nationalen Egoismus der einzelnen Regierungen, besonders der ‚starken‘ Staaten gibt. Unser Ziel ist die Republik Europa mit Regionen, in denen mehr als bisher wichtige Belange des Alltags vor Ort geregelt werden können.“

Das Zauberwort der EU dazu (das mehr missbraucht als wirklich angewandt wird) heißt übrigens Subsidiarität: Was auf den unteren Ebenen der politischen Struktur geregelt und entschieden werden kann, das wird auch dorthin delegiert.

Gerade das Prinzip ist massiv unter die Räder gekommen. Die Europäer erleben den Aktionismus der EU-Kommission als Bevormundung. Was dann noch an ein anderes Buch aus dem Osten erinnert: „Der vormundschaftliche Staat“ von Rolf Henrich (1990).

Es ist schon erstaunlich, wie vertraut einem die EU-Bürokratie ist, wenn man sie so aus östlicher Perspektive betrachtet.

Jetzt kann man gespannt sein, wann auch die anderen demokratischen Parteien aufwachen und begreifen, worum es gerade geht.

Die Serie zum Europa-Projekt.

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