Rund 20.000 Wohnungen fehlen in Leipzig laut einer Analyse des Pestel-Instituts, um aktuellen Wohnbedarf zu decken. Eine mögliche Lösung könnte der sogenannte „Gebäudetyp E“ werden: Eine Bauinitiative, die auf nicht zwingende Baustandards verzichtet und auf solche Weise schnelleres sowie kostengünstigeres Bauen ermöglichen soll. Obwohl Sachsen mit einer Änderung der Bauordnung im Jahr 2024 den Weg für diese Initiative freigemacht hat, kommt die Umsetzung bislang kaum voran.​

Welche Gründe hinter dem stockenden Fortschritt stehen und ob es Perspektiven für die Baubranche gibt, wurde im April bei der Veranstaltung „Ein Jahr Gebäudetyp E in Sachsen“ diskutiert.

Heute genießen rund 630.000 Menschen das Leben in Leipzig – etwa 100.000 mehr als zur Zeit der Wiedervereinigung. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass das städtische Wachstum einst noch rasanter verlief. Im Jahr 1870 lebten in Leipzig rund 100.000 Menschen. Nur 30 Jahre später, um 1900, hatte sich die Bevölkerung auf etwa 456.000 vervielfacht.

Dieses Wachstum war zum Teil durch Eingemeindungen bedingt, in großem Maße jedoch auch durch Zuzug infolge der Industrialisierung und natürliches Bevölkerungswachstum.

Architekten und Stadtplaner haben in atemberaubendem Tempo ganze Stadtviertel gebaut, die noch heute als beliebte Wohnstandorte existieren. Sie verwendeten Naturstein, Vollziegel, Vollholz, Dachziegel, Putz, ein wenig Glas und Metall – alles Materialien, die es noch immer gibt. Heute jedoch sind die Anforderungen an Statik, Schall-, Brand- und Wärmeschutz erheblich höher geworden.

„Deshalb nutzen wir zusätzlich viele neue Baustoffe: statt Vollziegel StB, HLZ, KS, BSt, RC; statt Vollholz KVH, BSH, CLT, BFU; statt Putz GKW, GKF, OSB, MDF, HPL. Hinzu kommen moderne Dämmungen und Dichtungen wie PS, PE, PUR, EPS, XPS, MiWo, KMB, EPDM und zusätzlich jede Menge Haustechnik“, erklärt Andreas Wohlfarth, Präsident der Architektenkammer Sachsen.

Für all diese Bauteile und Bauarten existieren Vorschriften, Verordnungen, DIN-Normen und Fachregeln – viele davon gelten als anerkannte Regeln der Technik (a.R.d.T.). Wenn man all diese Normen strikt einhalten will, was teils auch die Interessen der Hersteller widerspiegelt, steigen die Baukosten so stark, dass sich nur noch wenige die Wohnungen leisten können.

Aus dieser Erkenntnis entstand 2022 die Idee des Gebäudetyps E – eine Initiative der Bayerischen Architektenkammer. Das Ziel besteht in der Abweichung von überzogenen Baunormen, was zur Kostenreduktion führt und zugleich ein nachhaltiges und umweltfreundliches Bauen ermöglicht. Weiterhin ergeben sich hieraus Gestaltungsspielräume für innovatives oder experimentelles Bauen, was für die Weiterentwicklung des Bauwesens unverzichtbar ist und derzeit nur im akademischen Umfeld als Forschungsbau stattfindet.

​Seit dem Januar 2024 ist der Gebäudetyp E in Sachsen gesetzlich verankert. Im Gegensatz zur bisherigen „Kann-Bestimmung“ heißt es nunmehr, die Bauaufsichtsbehörden „sollen“ Abweichungen von bestehenden Standards zulassen – ein deutlich verbindlicherer Rahmen als zuvor. Trotzdem wurde in Leipzig bisher kein einziger Bauantrag eingereicht, der sich spezifisch auf den „Gebäudetyp E“ beruft. Es fehlt noch an praktischer Umsetzung. Und das liegt auch daran, dass mit der Liberalisierung des Baurechts mehr Verantwortung auf die Planenden übergeht – was viele abschreckt.

Frischer Bauwind aus der Hansestadt

Während Leipzig und ganz Sachsen zögern, ist Hamburg bereits einen Schritt weiter. Dort wurde im Februar dieses Jahres der sogenannte „Hamburger Standard“ etabliert – fast wie ein Leuchtturm in der Fachwelt.
In Hamburg sinken seit zwei Jahren genauso wie in Leipzig die Genehmigungszahlen – u.a. bedingt durch gestiegene Baukosten und Zinsen.

Hamburg reagierte mit Sofortmaßnahmen: Erhöhte Förderung, ein Zinssatz von 1 % für 30 Jahre im sozialen Wohnungsbau und die Verpflichtung seitens der Stadt, alle „toten“ Projekte zu übernehmen. Jährlich gibt die Stadt etwa 1 Milliarde Euro für Wohnungsbau aus, aber das kann nicht dauerhaft tragbar sein.

Daher wurden in Workshops und Arbeitsgruppen konkrete Arbeitshilfen erstellt und ein Einsparpotenzial von 600 Euro pro m² identifiziert – besonders durch Reduktion technischer Standards. Darunter fielen 50 % DIN-Normen und 20 % weitere eingeführte technische Regeln. Der Rest beruht auf Verwaltungsvorschriften, Dienstanweisungen (z. B. Brandschutzvorgaben) und internen Regelungen.

„Hamburger Standard“ würde in einem neuen Quartier im Stadtteil Wilhelmsburg mit ca. 1.000 Wohneinheiten getestet, berichtet Michael Munske, Leiter des Amtes für Bauordnung und Hochbau, Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen Hamburg. Zudem würden in jedem Bezirksamt ein bis zwei Pilotprojekte gestartet. Die Umsetzungen seien für den Sommer 2025 geplant.

„Ohne Bundesgesetz für Gebäudetyp E haben wir selbst Konzepte entwickelt“, erzählt Munske. „Dazu luden wir Prof. Dr. Andreas Jurgeleit vom Bundesgerichtshof nach Hamburg ein. Seine Empfehlung: rechtliche Vereinbarungen so kurz und verständlich wie möglich halten. Wir entwickeln daher Mustervereinbarungen auf 1 bis 2 Seiten, die den reduzierten Standard klar beschreiben – auch für Mietverträge.“

So wurden beim Brandschutz alternative Nachweismöglichkeiten für den zweiten Rettungsweg eingeführt, z.B. durch den Einsatz von Feuerwehrleitern. Die Regelungen zur Geschossflächenzahl wurden überarbeitet, um schlankeres Bauen zu ermöglichen. Außerdem wird nicht nur an Baunormen, sondern auch an der Einführung eines digitalen Kommunikationsraums gearbeitet, der Genehmigungsverfahren beschleunigt und transparenter gestaltet.

Über 20% weniger Baukosten – erste Schritte in Sachsen

Die Grundidee des Gebäudetyp E wird nicht nur auf der Stadtebene neu gedacht, sondern auch von einzelnen Bauunternehmen aufgegriffen und weiterentwickelt. Ein vereinfachtes Gebäudemodell erarbeiteten BUWOG Bauträger GmbH aus Leipzig. Der Projektleiter Lars Bendixen berichtet von einer Nachverdichtung mit insgesamt 134 Wohnungen und 3 Gewerbeeinheiten in der Seidnitzer Straße in Dresden.

Die Gebäude sind in Schottenbauweise mit 6,50 m Abstand zwischen den tragenden Wänden realisiert. Die Neubauten zeichnen sich durch eine sehr durchdachte Planung aus – nur 1 m² Gesamtfläche wurden benötigt, um 0,76 m² Wohnfläche zu schaffen.

Die Haustechnik wurde dabei bewusst auf das Wesentliche beschränkt. In die Wohnungen wurden nur Strom- und Kaltwasserleitungen verlegt. Warmwasser wird dezentral mittels elektrischer Durchlauferhitzer erzeugt. Für Lüftung sind Pendellüfter installiert. Die Bauweise erfolgte nur teilweise gemäß der DIN-Norm 18040-2, beispielsweise bei Bewegungsflächen im Bad und Schlafzimmer.

Die Baukosten für Kostengruppen 300 + 400 betrugen ca. 2000 Euro pro m² brutto (Stand 2022). Die größte Kostenersparnis in Höhe von insgesamt 22–23 % ergab sich aus 8 % Optimierung der Gebäudestruktur und Skalierung, 6 % Schottenbauweise bis in den Keller, 3 % einfache Konstruktion und Detaillierung und 6 % vereinfachte Haustechnik. Nach ähnlichem Konzept entwickelt BUWOG ein Großprojekt mit 1.500 Wohnungen am Bayerischen Bahnhof in Leipzig – Fertigstellung ist schon für dieses Jahr geplant.

Ohne Keller geht es nicht

Doch wären Mieter bereit, in Wohnungen mit vereinfachten Baustandards zu leben? Das wurde in einer Umfrage untersucht, die im Rahmen einer Bachelorthesis über den Gebäudetyp E durchgeführt wurde. Dabei wurden rund 200 junge Menschen – überwiegend im Alter zwischen 18 und 25 Jahren – befragt.

Der Umfrage ging ein hypothetisches Szenario voraus: Ein experimenteller Neubau, errichtet nach vereinfachten Baustandards, aber für eine um von 3 bis 4 Euro pro m² unter dem ortsüblichen Niveau günstigere Kaltmiete. Die Fragen basierten größtenteils auf den Leitlinien und Prozessempfehlungen zum Gebäudetyp E, die vom Bauministerium herausgegeben wurden.

Geringerer Schallschutz, reduzierter Anzahl von Steckdosen, ein einfach gestaltetes Treppenhaus sind für die Mehrheit der potenziellen Mieter akzeptabel. Vorhandensein eines Balkons wird von vielen als wichtiger Bestandteil des Wohnkomforts angesehen. Viele wollen nicht auf eine gewöhnliche Badtemperatur verzichten. Der Verzicht auf einen Keller stößt ebenso auf größere Ablehnung. Allgemein wären die potenziellen Mieter bereit, in eine Neubauwohnung mit vereinfachten baulichen Standards zu ziehen – nur ein Viertel der Befragten äußert sich definitiv gegen einen Umzug.

Die Haltung, einerseits bereitwillig auf zahlreiche Baustandards zu verzichten, andererseits die einzelnen Abweichungen von Bauvorschriften nicht zu tolerieren, lässt sich mithilfe der Prospect Theory erklären, wenn Verluste schwerer als gleichwertige Gewinne wiegen.

Mieter bevorzugen gewohnte Standards und empfinden Veränderungen als potenziell nachteilig, selbst wenn diese objektiv zu Kosteneinsparungen führen. Die individuellen Bedürfnisse und Prioritäten der Wohnungsnutzer sollten stärker in den Mittelpunkt rücken. Wahrscheinlich wären an dieser Stelle detaillierte Umfragen hilfreich, um besser zu verstehen, worauf Menschen beim Wohnen wirklich Wert legen.

Fällt Versicherungsschutz aus?

Sogar wenn Gebäudetyp E auch von Nutzern positiv angenommen wird, stoppt die Initiative in den haftungsrechtlichen und insbesondere versicherungsrechtlichen Hürden. Wenn die Abweichung nicht klar dokumentiert und vertraglich vereinbart wurde und wenn der Bauherr nicht ausreichend über die Risiken informiert wurde, kann der Versicherungsschutz entfallen. Das betrifft insbesondere Abdichtungen, Statik und sicherheitsrelevante Bauteile.

Richard Schwirtz, Rechtsanwalt und Leiter Schadensabteilung bei Euromaf, rät, so früh wie möglich mit dem Versicherer über geplante Abweichungen zu kommunizieren. Alle Abweichungen müssten detailliert dokumentiert und die Bauherrschaft umfassend über deren Auswirkungen aufgeklärt werden. Diese Abweichungen sollten durch individuelle Vertragsklauseln festgehalten werden, um Transparenz und Rechtssicherheit für alle Beteiligten zu gewährleisten.

Wichtig sei es, Abweichungen in sicherheitsrelevanten Bereichen zu vermeiden, um Haftungsrisiken zu minimieren. Nur dann stellten Abweichungen von den a.R.d.T. keinen Sachmangel dar.

Die bestehenden Musterverträge wurden bislang noch nicht an die möglichen Abweichungen vom Standard angepasst. Dies sei ein wichtiger nächster Schritt, da ursprünglich erwartet wurde, dass es eine gesetzliche Regelung geben würde, auf deren Basis man ohnehin hätte anpassen müssen. Derzeit herrscht jedoch noch Unsicherheit, in welche Richtung sich die Entwicklung bewegt. Hilfreich hier wäre weitere Entwicklung transparenter Leitlinien, z. B. mit Orientierung an Hamburger Standard.

Gebäudetyp E ist kein Rezeptbuch mit fertigen Bauteilaufbauten oder preisgünstigen Materialvorgaben. Vielmehr soll er neue Denkweisen ermöglichen und den Freiheitsgrad im Planen und Bauen erweitern. Damit sind wir wieder bei den Gründerzeitbauten: Wenn alle heutigen Vorschriften wirklich unverzichtbar für ein menschenwürdiges, gesundes und sicheres Wohnen wären, müssten die Mieter aus den Altbauten in Scharen ausziehen – oder die Nutzung müsste bauordnungsrechtlich untersagt werden. Doch weder das eine noch das andere geschieht.

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