Wenn man vollmundig behauptet, Deutschland sei das coolste Land der Welt, ist das, wie meistens, eine Frage der Perspektive (Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler anlässlich seiner Verteidigung der "Änderungen" am Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung). Für den Zitierenden mag das in diesem Fall so sein, blickt er doch von weit oben herab auf dieses seiner Aussage nach coolste aller Länder. Zugegeben, da hat man vielleicht den Überblick.

Aber sicher auch kein Auge fürs Detail. Denn was aus der Ferne in Ordnung scheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als arg porös und marode. Wie auch der bundesdeutsche Arbeitsmarkt im Allgemeinen und speziell der in den ostdeutschen Bundesländern.

Als Beispiel sei einmal Leipzig genannt. Hier verkünden (wie im Übrigen überall) Politiker, Beamte und sonstige Angehörige relevanter Institutionen aus der sogenannten Arbeitnehmerüberlassung mit stolzgeschwellter Brust aus (finanziell und beruflich) abgesicherter Position heraus, wie toll doch der Arbeitsmarkt sich entwickelt habe und dass doch so viele Menschen in Lohn und Brot stünden. So weit so schlecht.

Wer mit dem vielzitierten Arbeitsmarkt und dessen undurchschaubarer Peripherie schon einmal innige Bekanntschaft gemacht hat, wird über die gegenseitigen Bauchpinseleien von Politik, Arbeitsagenturen und Leiharbeitsfirmen nur mitleidig lächeln können. Gut, lästern kann jeder, mag man hier nicht ganz zu unrecht anfügen. Schließlich sollte man auch wissen, worüber man spricht. Bei dieser Gelegenheit erinnern wir uns eines gewissen Günter Wallraff, der sich mit einem nicht weg zu leugnenden Masochismus und einer offensichtlichen Lust an Rollenspielen und an Tiefenrecherche die unmöglichsten Jobs undercover antat, um aufzuzeigen, wie kaputt, brutal und menschenverachtend unsere Arbeitswelt ist. Das war sie vielerorts auch, zu seiner Zeit.

Doch seitdem hat sich viel geändert. Die Arbeitswelt hat sich seit Wallraffs Zeiten hinsichtlich Perfidität und Raffinesse in Bezug auf psychologische Beeinflussung und des Aufbaus von Druck wesentlich weiter entwickelt: Ausgeklügelte Systematiken hinsichtlich der Überwachung von Arbeitnehmern, subtile Beeinflussung mittels Gruppenzwang, Entsolidarisierung durch das praktisch angewandte altrömische Prinzip “divide et impera” (“teile und herrsche”), Ausgliederung firmeneigener Betriebsteile, Mobbing, Bossing, unverblümte Aufforderungen, trotz Krankschreibung am Arbeitsplatz zu erscheinen, sind inzwischen an der Tagesordnung und haben mittlerweile auch einst heile Arbeitswelten wie zum Beispiel den öffentlichen Dienst ereilt.

Last but not least sei die immer erbärmlichere Bezahlung trotz hoher Qualifikation nicht vergessen (Sachsen ist im bundesweiten Vergleich mit 34.000 Euro brutto pro Jahr Zweitletzter vor Schlusslicht Mecklenburg-Vorpommern (Quelle “Die Welt”, Jan. 2012). Wer heutzutage in Leipzig seinen Lebensunterhalt mit einem Job einkömmlich verdient und dabei am Ende noch in der Lage ist, Familie, Haus und Hof zu finanzieren, befindet sich in einer vergleichsweise luxuriösen Situation. Viele “Aufstocker”, Zweit- oder Drittjobber und Schwarzarbeiter wissen davon ein traurig Lied zu singen.Die Zahl der Arbeitnehmer, die trotz eines Verdienstes von mehr als 800 Euro brutto im Monat auf Hartz IV angewiesen sind, ist in den vergangenen vier Jahren einem Bericht der “Süddeutschen Zeitung” zufolge kontinuierlich gestiegen. Die Zeitung beruft sich auf neue Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA). Demnach gab es 2012 im Jahresdurchschnitt etwa 323.000 Haushalte mit einem sogenannten Hartz-IV-Aufstocker, der ein sozialversicherungspflichtiges Bruttoeinkommen von mehr als 800 Euro bezog. 2009 waren es noch etwa 20.000 weniger.

Noch deutlicher ist der Anstieg laut Bericht bei den Singles mit einem entsprechenden Verdienst. Ihre Zahl habe im selben Zeitraum um 38 Prozent auf etwa 75.600 zugenommen. Zum gleichen Ergebnis war vor kurzem die Universität Duisburg-Essen in einer Untersuchung gekommen. Demnach mussten im vergangenen Jahr 1,33 Millionen Menschen aufstocken, 2011 waren es im Schnitt 1,36 Millionen Menschen. Arbeitnehmer, die ihren Lohn aufstocken müssen, arbeiten vor allem im Handel, in der Gastronomie, im Gesundheits- und Sozialwesen sowie als Leiharbeiter.

Doch das sind nur einige wenige Aspekte einer Arbeitswelt, die auf einen moralisch-ethischen Niedergang hinweisen, dem sich Arbeitnehmer und Arbeitsuchende heutzutage ausgeliefert sehen. All dem leistet eine Politik Vorschub, in der Profit und die Interessen der sogenannten Share Holder (Anteilseigner) von großen, börsenorientierten Unternehmen als alleinig entscheidende Kriterien gelten, und denen von Seiten der “Generation Controller” gehuldigt wird wie einst dem biblischen Goldenen Kalb.

Mehr zum Thema:

Bürgerumfrage 2012 (5): Einkommensentwicklung, Lebenszufriedenheit und eine schöne Erkenntnis zum Radfahren

2012 machten sich die Tarifsteigerungen …

Bürgerumfrage 2012 (4): Was haben Fahrrad und Auto mit dem Einkommen zu tun?

Leipzigs Bürgerumfragen sind Gold wert …

Deutsche Arbeitsmarktstatistik: Integrationen sind noch längst keine Vermittlungen in den Arbeitsmarkt

Und noch ein kostbares Stück deutscher …

Für eine kleine Serie habe ich mich zu einem Selbsterfahrungstrip in den Dschungel des Arbeitsmarktes gewagt, um einmal selbst zu erleben, wie es einem gut qualifizierten Arbeitsuchenden Anfang 50 so ergeht. Ein nicht leichter und steiniger Weg (sorry für das Zitat), der selbst für einen erfahrenen und weitgereisten Journalisten viele Überraschungen und jede Menge Erkenntnisse hinsichtlich der Beschaffenheit der heutigen Arbeitswelt parat hält.

Unzählige Bewerbungen, skurrile Vorstellungsgespräche, Einstellungstests, absurde Angebote, quälende Arbeitswochen inmitten einer Herde gleichgeschalteter Firmensklaven, erhellende Beantwortung von brandaktuellen Fragen wie zum Beispiel, warum ein Fisch nicht in einen Koffer gehört, wie man einen wasserfesten Marker überzeugend verkauft, oder die monatelange Wartezeit auf die Beantwortung von Bewerbungen liegen hinter mir, einem Redakteur, der beim besagten Warten schon lange hätte verstorben oder in einem anderen Arbeitsverhältnis hätte sein können. Wobei Ersteres wesentlich wahrscheinlicher wäre. Meine Erlebnisse schildere ich ab dieser Woche in der Leipziger Internet Zeitung im Rahmen einer kleinen Serie in loser Reihenfolge.

Hier gehts zu Teil 1 der Serie vom 6. August 2013 auf L-IZ.de

Overdressed zum Massentest: Von gelben Markern, die in allen Farben schreiben, und “interessanten” Jobs mit Niedriglohngarantie (1)

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar