Manchmal muss man gar nicht selbst dabei gewesen sein, um eine Geschichte richtig erzählen zu können. Sogar richtiger als so Mancher, der behauptet, 1989 dabei gewesen zu sein, als ein ganzes Land auf die Straße ging. Hanna Schott - aufgewachsen in Augsburg, Verden, Korbach und Aachen, war 1989 nicht dabei, als die Leipziger auf die Straße gingen. Aber sie hat eine der schönsten Geschichten darüber geschrieben.

Im Klett Kinderbuchverlag hat sie schon eine ganze Reihe Kinder-Reportagen veröffentlicht. Das Format hat was, denn es gilt auch im 21. Jahrhundert noch: “Kindermund tut Wahrheit kund”. Es hat mit der naiven, noch ohne Vor-Urteile gespickten Sicht der Kinder auf die Welt zu tun. Das kommt uns zuweilen nur naiv vor, ist es aber nicht wirklich. Denn all die Bedenken, Rücksichtnahmen, Verbeugungen und Verbiegungen, die für viele Erwachsene das “eigentliche Leben” ausmachen, die erlernt man erst später. Der Austritt aus der nicht verschuldeten Unmündigkeit (und kindlichen Naivität) ist für Viele der Eintritt in die selbstverschuldete Unmündigkeit, genau so, wie es Kant benannte.

Und 1989 lernten viele DDR-Bürger, was das eigentlich bedeutet und wie sehr sie sich verbogen und angepasst hatten. Um nicht aufzufallen, nicht anzuecken, ein guter Parteisoldat, Pionier oder Staatsbürger zu sein. Für die Meisten begann es mit einem Sommer der Verblüffung, als auf einmal die Nachrichten aus Ungarn und Prag durch die Welt rauschten und das Ende der Urlaubszeit für Viele mit der Erkenntnis begann, dass Kollegen und Freunde aus diesem Urlaub nicht wieder zurückkehrten.

Hanna Schott lässt ihre Geschichte am 1. September beginnen, dem traditionellen ersten Schultag in der DDR. Ein Tag, an dem auch viele Lehrer damit umgehen lernen mussten, dass Kinder in der Klasse fehlten.Fritzis Geschichte wurde schon 2009 veröffentlicht – zum letzten kleinen Jubiläum der Friedlichen Revolution. Aber an Aktualität hat die Geschichte nichts verloren. Im Gegenteil. Da die Autorin die Geschichte aus der Perspektive des Mädchens Fritzi erzählt, fehlen weitgehend all die belanglosen Deutungen, die Erwachsene gern über dieses seltsame Jahr 1989 stülpen. Vor allem fehlt dieser abgehobene, selbstgefällige Blick all derer, die glauben, sie hätten schon immer “auf der richtigen Seite” gestanden, alles richtig gemacht und immer die richtigen Entscheidungen gefällt. Es ist schlicht erstunken und erlogen.

Die Wirklichkeit war wesentlich diffuser, beklemmender und angstbesessen. Und sie drohte nicht nur das Land, die Stadt und die ach so kollegialen Arbeitskollektive zu zerreißen, sondern auch die Familien. Denn zu allem, was vor dem 9. Oktober geschah, gehörte Mut und ein großes Vertrauen, dass es doch irgendwie gut gehen könnte.

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Ein Vertrauen, das in Fritzis Geschichte ihre Mutter hat, die es nicht aushält, zu Hause abzuwarten, dass irgendetwas passiert, sondern sich Montag für Montag zur Nikolaikirche begibt, während Fritzis Papa seine Ängste und Unsicherheiten zugibt – aber auch daran zu verzweifeln droht. Selbst die Anrufe der Oma aus dem Westen verbreiten Unsicherheit: “Seid ihr noch da?”

Als wenn man einfach so alles schnappen und abhauen könnte. Darin drohen sich Fritzis Eltern gründlich zu zerstreiten, auch wenn sie sich doch irgendwie einig sind, dass Weglaufen keine Lösung ist, dass man die Dinge nur ändern kann, wenn man es selbst angeht. Doch den Mut, auch dann noch zur Nikolaikirche zu gehen, als die Zugriffe der Sicherheitskräfte immer offensiver und rücksichtsloser werden, hat nur Fritzis Mama. Während Fritzi mit großen staunenden Augen erlebt, wie sich die Welt um sie herum verändert. Eben noch war sie ein bisschen stolz darauf, beim Fahnenappell bei den größeren Kindern stehen zu können. Hanna Schott schildert so einen Fahnenappell fast, als wäre sie dabei gewesen.

Aber dann merkt sie, dass es doch noch eine Menge Wünsche gibt, die in diesem abgeschlossenen Land nicht zu verwirklichen sind. Und dass es auf einmal Leute gibt, die sich trauen, sie öffentlich zu äußern. Wenn auch zuerst nur in der Kirche, wo dieser Pfarrer mit dem Igelschnitt spricht. Da kommen Fritzi und ihre Mama tatsächlich ins Fernsehen, als sie die Kirche verlassen. Es ist der Tag, als die Bilder aus Leipzig beginnen, den Weg in die westlichen Medien zu finden. An dem all das, was vorher hinter verschlossenen Mauern stattfand, auf einmal öffentlich wurde.Und wäre da nicht dieser misstrauische Herr Spieker aus dem Erdgeschoss, dann wäre Fritzis selbstgemaltes Plakat “Ein Land ohne Mauer / da ist keiner sauer” am 9. Oktober im Fernsehen zu sehen gewesen. Aber weil Herr Spieker zu neugierig ist, ist Fritzis Mutter ohne Plakat losgegangen. Dafür mit einer Schwesterntasche voller Verbandspäckchen, denn die Gerüchte nimmt sie als Krankenschwester ernst, die an diesem Tag durch Leipzig wabern.

Am Ende zieht der Zug der 100.000 auch am Haus vorbei, in dem Fritzi wohnt. Und jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, dass auch Papa und Fritzi dabei sind in dieser riesigen Menge, die friedlich um die Stadt zieht und am Ende Kerzen vor die “Runde Ecke” der Staatssicherheit stellt. Es ist auch nicht mehr weit bis zu diesem 9. November, an dem die Grenze auf einmal durchlässig wird.

Die Leipziger Grafikerin Gerda Raidt hat die Geschichte liebevoll und einfühlsam illustriert. Und weil sich das nächste kleine Jubiläum nähert, hat der Klett Kinderbuchverlag das Buch zur Leipziger Buchmesse 2014 in einer preiswerten Sonderausgabe herausgebracht, damit auch Schulklassen es sich leisten können. Es ist nicht nur eine “Wendewundergeschichte”, wie es im Untertitel heißt. Es ist auch eine Geschichte über das Wieder-Aufrecht-Gehen, und damit eigentlich gar keine Wundergeschichte. Das ist so eine verklärende Formel aus dem (West-)Fernsehen, mit der alles zugeklatscht wird, was die Emotionen aufrührt.

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Fritzi war dabei
Hanna Schott, Klett Kinderbuch Verlag 2014, 6,95 Euro

Als hätte die “Wende” gar keine Akteure gehabt, als wäre sie nicht das Ergebnis mutigen menschlichen Handelns gewesen. Und auch Ergebnis dieser 70.000 oder auch 100.000 mutigen “Ich geh doch!” am 9. Oktober. Aber vielleicht verblüfft das gerade Jene noch heute, die diesen Mut nie finden mussten und das alles nur aus dem Fernsehen kennen. Die auch nicht wissen, wie es sich anfühlt, wenn die Angst tickt in einer großen Stadt und niemand weiß, wie es ausgeht – auch die scheinbar Mächtigen nicht.

Die nicht wissen, wie es sich anfühlt, wenn Fritzi ihre Eltern sich streiten und verletzen sieht, weil vor diesem 9. Oktober gar nichts so einfach und eindeutig ist. Weil hinter der Angst von Fritzis Vater natürlich auch die Sorge um seine Liebsten steckt. Von außen und aus der Ferne sehen Revolutionen immer ganz simpel aus. Wer aber drin steckt, der sieht mehr und merkt auch, wie schwer es fällt, wieder Zutrauen zu haben in sich selbst. Fritzi jedenfalls kann nun erzählen: Ich war dabei. Und ein bisschen sind auch ihre Leser mit dabei und dürfen miterleben, wie das ist, wenn eine ganze Welt sich ändert.

Hanna Schott “Fritzi war dabei”, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2014, 6,95 Euro

www.gerda-raidt.de

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