Es ist ein Kinderbuch zu einer immer närrischeren Zeit, in der die Vorurteile blühen und sogenannte „soziale Plattformen“ dafür sorgen, diese Vorurteile auch noch anzuheizen und zu verschärfen. Denn damit schürt man Hass und Verachtung, Neid und Misstrauen – das Futter, mit dem dann finstere Parteien und Politiker ihre Wahlerfolge einfahren. Gift für eine friedliche Demokratie. Und so taucht – als hätte sie es geahnt – die Grafikerin Franziska Ludwig mit diesem Buch mitten hinein in das, was ein ziemlich aufgeblasener Bundeskanzler derzeit das Stadtbild nennt.
Friedrich Merz behauptete zwar, „wir“ hätten im Stadtbild noch immer ein Problem. Aber das Problem hat er ganz allein. Wohl auch deshalb, weil er selbst im Stadtbild selten bis nie zu sehen ist. Unvorstellbar, dass dieser Mann wie selbstverständlich durch die Einkaufsstraßen bummelt, im Café an der Ecke ein Eis isst oder seinen Sitzplatz im Bus räumt, wenn eine tatterige Oma einsteigt. Unvorstellbar.
Aber es geht in Franziska Ludwigs Buch nicht um einen empathielosen Politiker. Es geht um uns. Denn das Gerede in den Talkshows und den „Social Media“ hat Folgen. Es verfestigt Stereotype, stempelt Menschen auch einfach durch ihr Aussehen ab. Es schafft riesige Distanzen zu den anderen Menschen.
Und am Ende schauen sich alle nur noch voller Angst und Misstrauen an. Ohne überhaupt noch zu wissen, dass das eine Manipulation aus höheren Kreisen ist. Denn wenn Menschen Angst voreinander haben, dann kooperieren sie nicht. Dann zeigen sie sich, wenn es darauf ankommt, nicht mehr solidarisch.
Trennendes und Gemeinsames
Nur so am Rande: Solidarität ist eine der besten Eigenschaften des Menschen, die ihn durch seine ganze Geschichte begleitet hat. Sie hat erst all den Wohlstand und Reichtum ermöglicht, den wir heute haben. Auch wenn uns eitle Männer mit Business-Miene immerzu einreden wollen, das wären sie gewesen.
Waren sie aber nicht. Nichts, was unser Leben heute bereichert, ist ohne Solidarität möglich, ohne das selbstverständliche gemeinsame Tun von Menschen, die überhaupt nicht alle gleich aussehen. Im Gegenteil. Sie sehen alle so verschieden aus wie die Figuren, die Franziska Ludwig in diesem Buch gezeichnet hat.
Typen, wie man sie im Stadtbild ganz selbstverständlich trifft, Menschen wie Dilay, die ein rotes Kopftuch trägt, genauso wie Jürgen. Oder solche wie Juri, der die Angst vorm Krieg regelrecht verinnerlicht hat. Oder Fenja und Jante, die im wilden Verkehr nicht aufgepasst haben und mit ihren Fahrrädern zusammengeknallt sind.
Jede Seite zeigt dutzende dieser so ganz gewöhnlichen und unterschiedlichen Stadtbewohner. Sortiert nach allerlei Themen, nach denen man Menschen sortieren kann, wenn man mal einen müßigen Tag hat – nach ihren Kopfbedeckungen oder den Dingen, die sie im Gesicht tragen – manchmal ja geradezu finstere Bärte wie Hubert (wofür es einen Grund gibt, den man ganz am Ende auch erfährt).
Oder man sortiert sie nach ihren Haustieren. Und das sind nicht nur Hunde und Katzen. Oder – und da wird es ganz menschlich – man schaut nach dem, was den einen alles fehlt und die anderen alles zu viel haben. Eine echte Lernaufgabe für Kinder in einer Gesellschaft, die ständig in falschen Bedürfnissen badet.
Dann fehlen eben auch so wichtige Dinge wie Freunde, Familie oder – ja, wir sind mitten im Stadtbild – eine Wohnung. Und wenn es ums zu viel geht, kann das – wie bei John – zu viel Arbeit sein oder zu viel Zeit, für die dann eine sinnvolle Aufgabe fehlt.
Warten, Sachensammeln, Angsthaben
Es ist ein Buch zum Nachdenken und Sich-Hineinversetzen, zum Herausbekommen, was die ganzen Leute da draußen auf der Straße eigentlich beschäftigt und auf Trab hält. Und was einem davon vertraut ist und was fremd. Und zum Glück gibt es auch in Franziska Ludwigs Buch eine Menge Leute, die miteinander befreundet sind.
Aber auch etliche, die sich nicht leiden können … sorry, da stimmt leider die Beschreibung nicht: Es sind alles Leute, die einander nicht leiden können. Wobei sich hinter den grimmigen Gedanken über Andere eben auch oft das eigene Problem verbirgt, dass man sich selbst nicht mag. Auch das gibt es.
In Franziska Ludwigs Buch geht es aber auch um Allergien (also Dinge, die wir einfach nicht vertragen) und die verschiedenen Zeiten des Wartens. Die einen warten auf den Bus, die anderen auf die Rente, Ari wartet auf ein Lebenszeichen aus der Heimat und Rubina auf die Aufenthaltserlaubnis. Manchmal sind wir ja einfach zum Warten verdammt, weil andere das so bestimmt haben.
Und trotzdem bleibt Platz für eine Doppelseite zum Verliebtsein, zwei übers Sachensammeln und auch eine übers Müssen. Und natürlich geht er auch ums Angsthaben, ums Lautsein und ums Leisesein. Fast jede dieser großen bunten Seiten sieht aus wie ein quirliges und ganz normales – hoppla! – Stadtbild. Wie gesagt: Als hätte Franziska Ludwig geahnt, was für einen Blödsinn der Bundeskanzler demnächst von sich geben würde.
Der wahrscheinlich einfach den Menschen, die da wimmeln und wuseln, missgönnt, dass sie glücklich sind. Ohne ihn gefragt zu haben.
Die kleinen Freuden
Denn alle Menschen erleben das Glücklichsein, meist für Momente. So wie Piet und Isabella, die sich endlich finden, Olaf, der auf der Wiese liegt und die Wolken beobachtet, oder Hubert, der endlich seinen Bart loswird, während Nadja sich über einen Strauß Blumen und Meio endlich über einen Anruf freut. Es liegt vor unseren Augen. Wir können es sehen. Aber warum sind wir dann so missgünstig und neidisch?
Das ist nicht zu verstehen. Ode eben nur, dass die Leute, die ihre Missgunst in die Mikrofone blasen, sich selbst nicht mögen. Oder eine Heidenangst vor anderen Menschen haben. Und dann lieber den Aufpasser und Verbieter spielen, als sich auf Bekanntschaften einzulassen, die ihnen einen anderen Blick auf das Leben und seine Schönheit bieten könnten. Oder einen anderen Blick aufs Stadtbild, das natürlich aus der abgeschotteten Luxuskarosse völlig anders aussieht, als wenn man selbst mittendrin unterwegs ist, mit Hund oder Kindern. Offenen Auges.
Denn es gibt viel zu sehen und zu entdecken. Gerade im Stadtbild zeigt sich, wie bunt die Welt der Menschen ist. Vieles unvertraut, manches erstaunlich bekannt. Das Buch lädt geradezu dazu ein, sich genau auf diese Entdeckungsreise zu begeben. Und wer aufpasst, entdeckt auch Siggi, das Eichhörnchen, das sich manchmal genau wie die Menschen benimmt. Und sich sicher ist, noch nie im Leben gelogen zu haben.
Franziska Ludwig „Kennen wir uns?“ Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2025, 18 Euro.
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