Kindheit kann so schön sein. Ist es in der Regel auch, egal, was für eine Kindheit wir erlebt haben. Die meisten erinnern ihre Kindheitsjahre als Zeit voller Abenteuer, Entdeckungen, Unbeschwertheit. Auch Kinder aus dem Osten, worüber ja Gerda Raidt und Stefan Schwarz in ihren Geschichten aus der Reihe „Wir Kinder von früher“ schon erzählt haben. Die Grafikerin Anke Kuhl hingegen hat ihre Kindheit im Westen verbracht und erinnert sich in ihrem Beitrag für die Reihe vor allem an Ferien auf dem Reiterhof im Odenwald.
Und auf den ersten Blick hat man das GefĂĽhl: Das unterscheidet sich ja grĂĽndlich von dem, was die in der DDR Heranwachsenden erlebt haben, in einem Land, wo auch die Kindheit schon durch und durch politisiert war. Aber der zweite Blick macht dann etwas deutlich, was so viele Zeitgenossen regelrecht vergessen zu haben scheinen.
Denn die Politisierung von Kindheit in Kindergarten und Schule ist nicht der Normalzustand. Die Regel ist, dass Eltern ihre Kinder möglichst eine unbeschwerte Kindheit erleben lassen möchten – mit kindgerechten Abenteuern und auch vielen erfüllten Wünschen, je nachdem, was der Geldbeutel der Eltern hergibt.
Abenteuer Bauernhof
Und für Anke und ihre Freundinnen Annette und Tamara und ihre Schwester Eva waren die Ferien auf dem Bauernhof, wo sie auf niedlichen Fjordpferden reiten konnten, der Höhepunkt ihres Jahres. Und dass das mit Oberklasse und reichen Eltern eher nichts zu tun hatte, wird deutlich, als sie den Mädchen zuschauen, die das ganze Jahr Reitstunden haben und richtige Reithosen und Reiterhelme tragen. Und die auf die vier Mädchen aus der Stadt mit einer gewissen Herablassung schauen. Da hat man die fein sortierte Gesellschaft der alten BRD gleich vor Augen. Überall schaut Statusdenken aus den Ecken und Winkeln. Motto: Wer hat, der hat.
Während Anke und ihr Begleiterinnen eigentlich nur die herrliche Zeit genießen, in der sie mit richtiger Tieren zu tun haben – neben den Pferden auch noch den Schweinen, Kühen und dem Hofhund. Für Mädchen aus der Stadt ist so etwas auch heute noch ein Abenteuer.
Genauso, wie sie dabei ihr Mitgefühl mit den Tieren entdecken und vom Bauern erklärt bekommen, wie das mit dem kleinen, überzähligen Ferkel ist und mit der Kälbchengeburt mitten in der Nacht. Das sind wirklich Kindheitserinnerungen, die bleiben. Und die sich immer tiefer eingraben, je kürzer die Ferientage auf dem Bauernhof am Ende wirken.
Während die Politik am Horizont dennoch lodert. Nur nicht so, wie es die Kinder in der DDR erlebten, sondern als Thema, das in diesem Fall die Mutter von Anke und Eva bewegt, die bei den großen Friedensdemos teilnahm, die 1983 gegen den Nato-Doppelbeschluss stattfanden.
In einer Zeit, in der sich die Militär-Blöcke unversöhnlich gegenüberstanden und mit immer neuen Aufrüstungsschritten das weltpolitische Klima immer mehr aufheizten. So sehr, dass Menschen nicht nur in Westdeutschland tief sitzende Ängste davor entwickelten, dass jemand einfach irgendwo auf den Knopf drücken und die Bombe niedergehen lassen würde.
Wenn es um die Wurst geht
Eine Angst, die heute wieder viele Menschen umtreibt. Und ohnmächtiger macht als damals. Dass auch damals schon die Landesverteidigung kein leises Thema war, erleben die vier Mädchen, als bei einem Reitausflug die Düsenjäger der Bundeswehr über sie hinweg schmettern. Die Idylle ist keine wirkliche. Nur die Pferde haben sich irgendwie an diesen Lärm gewöhnt. Und die Rentner, die am letzten Tag mit dem Bus anreisen, singen unbekümmert ihr „Ostertal, oh Ostertal“. Gibt es so ein Lied überhaupt?
Die Ferien auf dem Bauernhof jedenfalls sind für die vier Mädchen aus der Stadt eine kleine Lehrstunde. So wie man sie sich als Kind eigentlich wünscht: Die Wirklichkeit einmal genau dort zu erleben, wo sie vor sich hin grunzt, wo es letztlich um die Wurst geht, auch wenn die Mädchen das gemütliche Grunzen im Schweinestall nicht wirklich mit der Wurstsuppe zusammenbringen, die ihnen die Wirtin am Abend vorsetzt.
Und das alles erzählt Anke Kuhl im Wesentlichen über ihre Bilder, als eine Art Ferien-Comic, mit jeder Menge Augenzwinkern. Vielleicht auch als eine Erinnerung für alle, die vergessen haben, dass Kindheit einmal ein Abenteuer bedeutete. Und man sich gerade deshalb an alles erinnert, weil es eben nicht nur eitel Fried und Freude war.
Anke Kuhl „Pferde, Tränen, Lachanfälle“ Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2025, 16 Euro.
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