Humor erzählt eine ganze Menge über die Befindlichkeiten eines Volkes. Oder Völkchens, wie dem der Ostdeutschen. Wobei sich das nicht viel nimmt. Wenn man die weltoffene Patina abstreicht, kommen ganz ähnliche Befindlichkeiten auch bei den Brüdern und Schwestern in westdeutschen Einfamilienhäusern zutage. Denn Deutschland ist ein nachrichtenguckendes Pantoffelland. Was U. S. Levin mit diesem Buch voller Glossen erneut auf den Punkt bringt.

Denn zum Anlass für die nun in diesem Band versammelten 72 Glossen nahm der in Markkleeberg lebende Satiriker skurrile Nachrichten aus Presse, Funk und Fernsehen. Lauter Meldungen – teilweise aus humorvollen Polizeitickern – über die sich Hörer, Schauer und Leser meist köstlich amüsieren, die aber auch an manchen Tagen einen erstaunlichen Platz einnehmen in der Berichterstattung, weil sich auch ganze Redaktionen darüber amüsieren, wie – na ja – blöd die Menschen so sein können. Lang gesuchte Verbrecher, die besoffen direkt vor der Polizeiwache einparken, Ehefrauen, die von ihren Männern mitten auf der Autobahn ausgesetzt werden, Senioren, die beim Diebstahl in der Kosmetikabteilung erwischt werden usw.

Das Kleinteilige also, das früher meist auf der letzten Seite der Zeitung stand, meist neben den Berichten aus dem Gerichtssaal. Hier erdete sich die Zeitung und zwinkerte ihren Lesern zu: Das hätte auch ihnen passieren können. Ein Nachbarschaftsstreit, der völlig ausartet, ein langer Kneipenabend, der fatale Folgen hat, ein Foto im Netz, das den Ehemann beim Fremdgehen zeigt oder gar bei einer Heirat mit einer anderen Frau.

Im Lauf der Jahrzehnte ist dieser Stoff immer weiter nach vorn gewandert, wurde manchmal gar zum hämischen Aufmacher. Oder zum Angstmacher, denn wenn immer wieder der „lustige“ Stoff aus den Polizeinachrichten die Schlagzeilen bestimmt, passiert genau das, worüber die „Frankfurter Rundschau“ am 18. September wieder berichtete: Die Bürger haben immer mehr Angst, obwohl die Kriminalität tatsächlich zurückgeht. Einzelne, besonders schlimme Straftaten, werden immer stärker ins Rampenlicht gestellt und von Parteien wie der AfD instrumentalisiert. Und daran sind – ja – die Medien nicht ganz unschuldig. Mit dieser Gier nach Aufmerksamkeit und Sensation verzerren sie die Wirklichkeit.

Oder mit den Worten der FR: „Wissenschaftler rügen die Medien für eine verzerrte Darstellung der Sicherheitslage im Land. Denn das Land ist sicherer geworden, auch wenn die AfD das Gegenteil behauptet.“ Nur dass die AfD und ihre Scharfmacher natürlich jedes öffentliche Podium dafür nutzen zu behaupten, in Deutschland wäre alles noch viel schlimmer als dargestellt.

Das Erholsame bei U.S. Levin ist: Er holt diese skurrilen Nachrichten wieder zurück in den Alltag. Man kann sich den bald Sechzigjährigen richtig vorstellen, wie er hemdsärmelig am Küchentisch sitzt und sich köstlich über die ganzen verrückten Meldungen aus aller Welt amüsiert, die davon berichten, wie närrisch sich Menschen benehmen. Nur dass er es dabei nicht belässt, sondern diese Meldungen mit seinen eigenen Erfahrungen vergleicht. Dadurch bekommen diese Glossen ja erst ihre Erdung.

Da sitzt einer, der auf ein ganzes Stück Leben gucken kann, der seine Glossen früher auch in allen möglichen Zeitungen veröffentlichen konnte und wusste, dass sie von Menschen mit ganz ähnlichen Erfahrungen gelesen und genossen wurden. Und er zeigt etwas, was professionelle Zeitungskommentatoren meist vergessen, wenn sie ihre Kommentare schreiben: Dass ein Mensch, der Zeitung liest, immer wertet, immer vergleicht und einsortiert. Und dabei auch gern überzieht und übertreibt.

Ob das nun die Geschichten vom Eheleben sind, Geschichten aus der Arztpraxis, wenn die ganzen Zipperlein des Alters anfangen, Geschichten von der Not, in der Öffentlichkeit mal schnell ein Örtchen fürs Bedürfnis zu finden usw. Alles Geschichten, die jeder irgendwie kennt. Mit denen manche gern auch burschikos und flapsig umgehen. Das darf auch manchmal wehtun. Die Frage ist eher: Darf Levins Ehefrau die Texte auch lesen? Oder lässt sie ihren fröhlichen Ehemann bei seinen verschriftlichten Späßen lieber allein und will gar nicht wissen, was er so über (Ehe-)Frauen schreibt?

Es geht nicht immer korrekt zu. Schon gar nicht, wenn Levin seiner Lust am Sprachspiel freien Lauf lässt. Und viele der Dinge, die Menschen so passieren, animieren ja geradezu zu witzigen Wortspielen. Braucht man also eine Schutzbrille, um die 72 Glossen über Menschliches und Allzumenschlichstes zu lesen und Levins zuweilen akrobatische Einordnungen in ein durchaus burschikoses Weltbild? Nicht unbedingt. Auch wenn es zuweilen sehr derb werden kann, etwa in Sätzen wie: „Und auch wenn man mit seiner Frau Sorgen hat, sollte man sie nicht gleich auf der Autobahn entsorgen.“

Kurz Luft durch die Zähne ziehen.

Aber solche Sätze verraten auch viel über die Welt, in der solche Texte ihre Leser erreichen. Eine Welt mit Gartenzaun, Eigenheim und Auto (auch wenn das nicht mehr bewegt wird, weil sonst der Parkplatz weg ist). Und mit einer Ehefrau, die in manchen Gegenden Sachsens von ihrem Gemahl nur „meine Ollsche“ genannt wird. Und wüsste ich nicht, dass viele Männer hierzulande und auch dortzulande über ihre Angetrauten genauso reden, würde ich es gar nicht erwähnen.

Und trotzdem leben diese Paare miteinander, mutmaßlich gern, auf vertrautem Fuß und selbst im Hadern miteinander stets bedacht darauf, den Unfrieden nicht unbedingt eskalieren und die Ehe scheitern zu lassen. Denn hinter dem flapsigen Ton steckt eine festgefügte und stets verteidigte Moral. Ein ganzes Moral-Bauwerk, das weit über die zehn Gebote aus der Bibel hinausgeht und mit harten Paragraphen beschreibt, wie sich ein anständiger Mensch im Leben zu verhalten hat.

Und dass das nicht von ungefähr kommt, macht U. S. Levin am Ende auch noch in einer Geschichte deutlich, in der er ein wichtiges Stück seiner Lebenserfahrung gucken lässt. Eigentlich gibt es zwei solcher Blitzlichter in seiner Lebensgeschichte – das eine handelt vom Klauen und wie man emotional begreift, dass man so eine Bloßstellung sich selbst und anderen nicht zumuten möchte. Entsprechend deutlich ist seine Verachtung für Diebe aller Art, deren dummes Verhalten er nur zu gern aufs Korn nimmt.

Aber viel eindrucksvoller ist seine Erinnerung an seinen wortkargen Großvater, der zum Enkel kaum etwas anderes sagte als „Steh gerade!“, „Mach die Gusche zu beim Essen!“ oder „Sprich, wenn du gefragt wirst!“

Und da darf jeder Ältere unter uns einfach mal nachdenken, wie oft und von wem er das gehört hat in seiner Kindheit und Jugend. Bei Levin erfahren wir noch, dass das augenscheinlich viel mit den Erlebnissen in der Wehrmacht und in russischer Gefangenschaft zu tun hat, wo der Großvater gelernt hat, dass man nur überlebt, wenn man sich kleinmacht und nicht auffällt. Und trotzdem tut, was getan werden muss. Ein stilles, aus autoritärer Erfahrung sehr strenges Verhalten, das kaum Momente der Zuneigung, des Lobes und der Hochachtung zeigt. So etwas prägt eine ganze Gesellschaft. Erst recht, wenn die neuen Autoritäten ganz ähnlich rachsüchtig und disziplinierend sind wie die alten.

Die Frage ist nur: Was richtet das mit einer Gesellschaft an? Und wie pflanzt sich das über die Generationen fort?

Levin hat Glück: Er kann sich aus vollem Herzen über die Geburt seiner Enkel freuen, auch wenn er augenscheinlich mit den eigenen Kindern all die Jahre eher ein kompliziertes Verhältnis hatte. Was irgendwie mit seinem Großvater zu tun gehabt haben muss (oder doch seinen Eltern?), der ihm das Gefühl gab, ein missratener Jungspund zu sein.

Kann auch jeder nachdenken, wie das bei ihm war. Wenn Disziplin die heilige Kuh einer Gesellschaft ist, wird man ziemlich schnell zum Rowdy und Tunichtgut abgestempelt. Und so ein Druck schafft Angepasste, Brave und Regelgerechte. Menschen, die verinnerlicht haben, dass man sich aus der Gemeinschaft katapultiert, wenn man die Regeln nicht einhält.

Das steht so direkt nicht da. Nur zwischen den Zeilen. Und man versteht den Autor nur zu gut. Ja, das ist ein ganz spezielles Stück ostdeutscher Zivilisierung. Ob es jenseits der Demarkationslinie anders war, müssen die dortigen Leserinnen und Leser wissen. Aber was man jüngst in der „Zeit“ zu lesen fand („Warum Hitler bis heute die Erziehung von Kindern beeinflusst“), deutet darauf hin, dass die Großväter dort nicht die Spur anders waren. Und die Eltern genauso im Clinch zwischen strenger Moral und gewünschter Lebensfreude, die aber eben oft genug mit dieser allgegenwärtigen Moralerwartung kollidiert.

Denn oft genug geschehen auch Levins Helden all diese peinlichen Dinge ja nur, weil sie übers Ziel hinausgeschossen sind, einen zu viel gepichelt oder ihren Frühlingsgefühlen nachgegeben haben. Die Glossen sind wie ein Augenzwinkern von Autor zu Leser: Darüber können wir lachen, denn eigentlich ist das auch unsere Klemme – wir würden ja gern auch mal wieder … aber das Kreuz macht nicht mehr mit oder die Blase oder die Kinder würden erschrocken gucken. Von der Ehefrau, die er eben gerade forsch in die Küche geschickt hat, ganz zu schweigen.

Irgendwo muss man ja als Bestimmer die Pantoffel anhaben. Und wenn Frau Levin jetzt ihrerseits ihre Glossen aus dem Alltag aufschriebe, ginge es ganz bestimmt genauso deftig zur Sache. Könnte sich ihr „Ollscher“ auch was anhören …

Ist das nun typisch für die Gegend hier? Auf jeden Fall. Was man spätestens merkt, wenn Levin auch die alten Polizistenwitze und die Witze über „die Partei“ zitiert. Die kritische Distanz zur Obrigkeit hat eine lange Tradition – mitsamt dem Misstrauen des täglich Rackernden, ob „die da oben“ überhaupt eine Ahnung haben von dem, was sie tun. Die Obrigkeiten wechseln, der eulenspiegelhafte (und zum Teil sehr bissige) Humor der braven Bürger bleibt. Und er verliert seine Bissigkeit auch nicht, wenn dieses schreckliche Kribbeln im Schlauch anfängt und signalisiert, dass jetzt die Zeit der vielen Arztbesuche kommt.

U.S. Levin Dieses Kribbeln im Schlauch, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2018, 10 Euro.

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