Warum die beiden Journalisten Lars-Broder Keil und Sven Kellerhoff ihr Buch โ€žLob der Revolutionโ€œ genannt haben, das erklรคren sie im Nachwort. Und sie haben recht. Aber vorher geht es auf 240 dichtgepackten Seiten auf einer furiosen Reise durch diesen Herbst 1918 und das halbe Jahr 1919. Der Bogen spannt sich also deutlich weiter als in Lothar Machtans โ€žKaisersturzโ€œ. Denn am 9. November 1918 war noch gar nicht alles zu Ende. Im Gegenteil: Da fing es erst so richtig an.

Und das Faszinierende ist: Die beiden gehen tatsรคchlich wie Zeithistoriker an den Stoff, tauchen ein ins Tagesgeschehen, gehen also auf die Ebene, auf der alle ihre Heldinnen und Helden damals tatsรคchlich agierten.

Denn viele promovierte Historiker machen einen entscheidenden Fehler: Sie โ€žerklรคrenโ€œ Geschichte aus ihren Folgen, geben ihr also nachtrรคglich einen Sinn. Das ist zwar menschlich โ€“ aber falsch. Denn so entsteht erst der fatale Eindruck, dass Geschichte einen โ€žSinnโ€œ hat โ€“ und der Sinn sind ausgerechnet die paradiesischen Zustรคnde, in denen wir gerade leben.

Journalisten โ€“ wenn sie denn wirklich journalistisch denken und arbeiten โ€“ wissen, dass fรผr so einen allumfassenden Sinn die Motive und Handlungszwรคnge der Menschen viel zu komplex sind. Idealisten trรคumen davon, dass sie Geschichte in eine bestimmte Richtung treiben kรถnnen. Oft sind sie so besessen vom โ€žSieg der Geschichteโ€œ, dass sie den Blick fรผr die Wirklichkeit und die tatsรคchlichen Krรคfteverhรคltnisse und die Wรผnsche der Menschen verlieren.

Das ist die Tragik einer kleinen Gruppe von Menschen, die in dieser ersten wirklich geglรผckten Revolution der Deutschen eine zutiefst kontroverse Rolle spielen.

Es sind nicht nur Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die schon am 10. November begannen, die Revolution weitertreiben zu wollen und einen blutigen Aufstand zu provozieren. Was dann zu den SchieรŸereien im Zeitungsviertel und dem ersten Einsatz der Freikorps fรผhrte.

Immerhin beide auch heute noch Heldengestalten und Mรคrtyrer โ€“ nicht nur bei den Linken. Aber vielleicht wรคre es wirklich gut, wenn auch Linke das Buch aufmerksam lesen und auch diesen Mรคrtyrerkult beenden. Denn er รผberschattet die Erinnerung an diese Revolution bis heute.

Sogar noch mehr als die โ€žDolchstoรŸlegendeโ€œ der Rechtsextremen, die am Ende des Buches auch noch eine Rolle spielt, wenn Keil und Kellerhoff den alten Feldmarschall Hindenburg in den ersten Untersuchungsausschuss des demokratisch gewรคhlten Reichstags stolzieren lassen und dort genau jene Schrift vortragen lassen, die ab da zur Argumentationsschiene der Rechten werden sollte.

Und der Boden war in diesem Herbst 1919 schon fruchtbar, denn im Sommer hatte die Delegation der nun endlich demokratisch legitimierten Regierung in Paris die Friedensbedingungen der Alliierten entgegennehmen mรผssen โ€“ Bedingungen, die selbst von friedliebenden Menschen wie Kรคthe Kollwitz und Thomas Mann als hart und erniedrigend empfunden wurden.

Man muss kurz aus dem Buch aussteigen und sich mit der Rolle des franzรถsischen Prรคsidenten Georges Clemenceau beschรคftigen, der fรผr diese harte Linie der Alliierten stand und damit den Wunsch verband, Deutschland fรผr alle Zeiten so zu schwรคchen, dass es nie wieder einen Krieg gegen Frankreich wagen wรผrde.

Eine Politik, fรผr die er auch in Frankreich bald umstritten sein sollte, denn damit erreichte er tatsรคchlich das Gegenteil. Es ist so ein kleiner Moment am Rande, der einem bewusst macht, wie sehr Politik von ganz persรถnlichen Gefรผhlen geleitet wird, wie Rache und Stolz das rationale Denken รผbertรถnen und zu Entscheidungen fรผhren, von denen man eigentlich schon vorher weiรŸ, dass sie neue, schlimme Folgen nach sich ziehen werden.

Clemenceau kommt nun freilich unter den vielen Zeitzeugen, die die beiden Journalisten direkt zitieren, nicht vor. Das wรผrde das Buch sprengen und tatsรคchlich ein gewaltiges Epos nรถtig machen, das zeigt, wie vielstimmig und facettenreich auch die AuรŸensicht auf den ersten Weltkrieg und Deutschland war. Auch hier hรคtte nichts zu genau den Folgen treiben mรผssen, die dann zu den Dramen in den 1930er Jahren fรผhrten.

Politik ist auch ganz offensichtlich immer ein โ€žLearning by doingโ€œ. Und wahrscheinlich tรคten Lรคnder gut, die Politiker mit festgefahrenen Vorurteilen in Krisensituationen lieber in den Ruhestand zu schicken. Sie halten ihre Sicht auf das Ganze fรผr die einzig richtige โ€“ wofรผr ja in der Heeresleitung der Deutschen auch Hindenburg und Ludendorff standen, die beiden Generรคle, die den Krieg nicht beenden wollten und am Ende auch noch sรคmtliche Chancen auf einen gerechten Frieden verspielten.

Beiden ist in diesem Buch eigentlich nur diese letzte Szene vorm Untersuchungsausschuss gewidmet. Denn ein Jahr lang spielten beide praktisch keine Rolle mehr in der deutschen Politik. Hindenburg war der oberste Feldherr einer Armee, die keinen Krieg mehr fรผhren konnte, deren Soldaten fast alle kriegsmรผde waren und auch mรผde der alten Feudalzeiten.

รœberall im Land, wo sie zurรผckkehrten, mischten sie die Verhรคltnisse auf, grรผndeten Arbeiter- und Soldatenrรคte, besetzten Rathรคuser und nahmen den Umbruch der Machtverhรคltnisse selbst in die Hand. Meist sehr dilettantisch. Deswegen ging das oft genug schief. Und deshalb wurde in der Frรผhzeit vor allem die USPD zum neuen Partner dieser Rรคte.

Wobei gerade die Vielstimmigkeit, die Keil und Kellerhoff wachrufen, zeigt, wie sehr gerade diese die Revolution vorantreibende USPD hin- und hergerissen war zwischen der radikalen Aktion, wie sie ihre Splittergruppe โ€žSpartakusโ€œ vertrat, und rationalem Regierungshandeln, wo sie sich mit ihrer alten Partei, der SPD, traf. Die beiden Autoren blenden immer wieder hinein in die unterschiedlichen Ereignisorte des deutschen Reiches, machen deutlich, wie sehr der Wunsch nach einem Umsturz der Verhรคltnisse mit dem noch viel grรถรŸeren Wunsch der Bevรถlkerung nach geordneten Verhรคltnissen in Konflikt geriet.

Was schon die ersten freien Wahlen im Januar 1919 zeigten, wo nicht die USPD die Mehrheit errang, sondern die auf Ausgleich bedachte SPD von Ebert und Scheidemann. Die dann auch das Bรผndnis mit den grรถรŸeren bรผrgerlichen Parteien suchte.

Was natรผrlich โ€“ aus radikaler linker Perspektive โ€“ als โ€žVerratโ€œ empfunden wurde. Ein ganzes Kapitel ist am Ende mit โ€žVerratโ€œ รผberschrieben. Und der Spruch ist ja heute noch gรคngig: โ€žWer hat uns verraten โ€ฆโ€œ

Wer in Extremen denkt, vermag natรผrlich das, was dann in Weimar geschah, nicht zu wรผrdigen. Denn dort tagte ja dann das erste frei gewรคhlte Parlament der Deutschen und rang ein paar entscheidende Monate lang um die erste demokratische Verfassung fรผr diese Republik. Nach Weimar war die Nationalversammlung ausgewichen, weil die in Berlin geschรผrten Unruhen den interimistisch regierenden SPD-Mรคnnern als nicht beherrschbar erschienen.

Nicht ahnend, dass es im Frรผhjahr noch mehrere solcher Radikalisierungsversuche geben wรผrde. Die Mรผnchner Rรคterepublik ist dabei die bekannteste. Aber auch sie wird oft รผberhรถht und glorifiziert. Was die beiden Autoren auch hier mit vielstimmigen ร„uรŸerungen von bekannten und nicht so bekannten Akteuren sichtbar machen โ€“ auch der Stimme des dann so sinnlos ermordeten Kurt Eisner. Hier begegnen wir aber auch einem Erich Mรผhsam und einem Ernst Toller und einem Gefreiten Hitler, der zu dem Zeitpunkt immer noch nicht wusste, wo er hingehรถrte. Wรคhrend andernorts ein Marineoffizier namens Bรถtticher, der sich als Dichter Joachim Ringelnatz nannte, genauso gut wusste, wo er hingehรถrte wie der ehemalige Soldat Erich Maria Remarque.

Es ist diese Vielstimmigkeit, die sichtbar macht, dass es den Menschen damals nicht viel anders erging als uns heute. Einige lebten auch damals in ihrer politisch eingefรคrbten Filterblase und sahen deshalb nicht, dass nur eine Minderheit ihre Ansichten teilte โ€“ was auf Luxemburg und Liebknecht natรผrlich zutraf. Andere tauchen hier als weitsichtige Vertreter der jungen Demokratie auf, auch wenn wir schon wissen, dass sie diese Tage nicht lange รผberleben werden โ€“ der Konzernmanager Walter Rathenau etwa oder der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger.

Man sieht Adenauer als Kรถlner OBM gegen die Separationsbestrebungen im Rheinland agieren und Theodor Heuss um sein erstes Reichstagsmandat kรคmpfen โ€“ das ihm freilich noch verwehrt ist. Aber man schaut auch in das Ringen in der Weimarer Nationalversammlung, wo hart um die von Hugo PreuรŸ entworfene Verfassung gerungen wird.

Obwohl dafรผr eigentlich keine Ruhe ist โ€“ die Ebert-Regierung muss ja parallel fortwรคhrend Probleme lรถsen, die Versorgung sichern, die Soldaten wieder in die Wirtschaft integrieren und immer neue Brandherde bekรคmpfen. Selbst der Blick auf Gustav Noske, den Kriegsminister der Regierung, รคndert sich, obwohl man im Rรผckblick weiรŸ, wie verheerend sein Zugriff auf die Freikorps-Truppen war.

Nur: Es standen ihm รผberhaupt keine anderen Truppen zur Verfรผgung, mit denen er die vielen Aufstรคnde und Ausstรคnde im Reich hรคtte bekรคmpfen kรถnnen. Und dass die Offiziere und Freiwilligen in diesen Korps ganz bestimmt keine รผberzeugten Demokraten waren, wusste Noske, der ja mit dem Spruch in die Geschichtsbรผcher einging: โ€žEiner muss der Bluthund sein.โ€œ

Wie gesagt: Die Perspektive รคndert sich, wenn man diese Aktionen von der Warte der noch jungen Republik her sieht, die nun wirklich fรผr alle, wirklich alle Akteure Neuland war. Und zu Recht staunen die Autoren, wie ernsthaft die zentral Beteiligten darangingen, diese Republik auf ein Verfassungsfundament zu stellen und zum Funktionieren zu bringen. Und das bis zum Sommer 1919 immer in der Hoffnung, sie wรผrden von den Alliierten Kapitulationsbedingen bekommen, die die junge Republik nicht รผberfordern wรผrden.

Gerade Friedrich Ebert verlieรŸ sich auf den 14-Punkte-Plan des amerikanischen Prรคsidenten Woodrow Wilson. Und wurde dann bitter enttรคuscht โ€“ so wie der grรถรŸte Teil von Parlament und Regierung. Man schaut also auch zu, wie diese demokratisch gewรคhlten Abgeordneten in einen sauren Apfel beiรŸen mรผssen, obwohl sie ja fรผr die Erfรผllung der zentralsten Forderung von Wilson standen: die Entmachtung des Kaisers und die Schaffung einer demokratisch legitimierten Regierung.

Einer Regierung, die natรผrlich, als die harten, von Clemenceau formulierten Bedingungen bekannt wurden, die volle Wucht von Wut und Enttรคuschung abbekam. Womit man schon an einem jener Punkte ist, die sich in der Geschichtsschreibung so lange gehalten haben. Denn dass die Deutschen so รผberhaupt keinen Stolz auf ihre Revolution haben, hat ja auch mit der vielfach gestรถrten Erinnerung an diese ersten Tage zu tun. Erst forciert durch die Nationalisten, die schon frรผhzeitig enormen Widerhall in den bรผrgerlich-konservativen Kreisen fanden und die Weimarer Republik (das war damals ein Schimpfwort!) verachteten und bekรคmpften. Und dann noch viel lรคnger gefolgt von der Interpretation der Kommunisten, die das Handeln der Ebert-Scheidemann-Regierung als Verrat an der Revolution brandmarkten.

Sodass heute kaum noch bewusst ist, dass diese scheinbar so ruhmlose und in blutige Aufstรคnde verstrickte Revolution in Wirklichkeit ein Erfolg war. Trotz alledem, um mal den letzten groรŸen Aufschrei von Karl Liebknecht zu zitieren, der glaubte, die bolschewistische Revolution auch nach Deutschland tragen zu kรถnnen.

Und es ist nicht der einzige Punkt, an dem man sich fragt: Was wรคre eigentlich gewesen, wenn Liebknecht und Luxemburg ihre wiedergewonnene Freiheit nicht genutzt hรคtten, die Ebert-Regierung anzugreifen, sondern in der USPD geblieben wรคren?

Was wรคre gewesen, wenn sich der Untersuchungsausschuss die Frechheit Hindenburgs nicht hรคtte bieten lassen und den Legendenerfinder mit Fragen wirklich gegrillt hรคtte? Was wรคre gewesen, wenn Clemenceau das Angebot der deutschen Delegation angenommen hรคtte und dem besiegten Deutschland ertrรคgliche Kapitulationsbedingungen zugestanden hรคtte?

Alles Fragen, die niemand beantworten kann. Die aber auch zeigen, unter welchen Handlungszwรคngen die neue Regierung stand. Und wie schwer es gerade รผberzeugten Revolutionรคren (auch in Leipzig) fiel, jetzt wieder Kompromisse mit den Bรผrgerlichen machen zu mรผssen. Aber mรถglicherweise war gerade dieser nรผchterne Friedrich Ebert derjenige, der am klarsten sah, dass genau diese demokratisch verfasste Republik das Beste war, was diese Revolution erreichen konnte.

Aber selbst das scheint im Nachhinein zu verschwinden, wie Keil und Kellerhoff feststellen. Die Verfechter der Demokratie wurden mit jeder Krise in den nรคchsten Jahren immer weniger hรถrbar, wรคhrend die Radikalen begannen, den รถffentlichen Diskurs zu รผberschreien.

Und das ist nicht die einzige Parallele, die die beiden Autoren zur Gegenwart sehen. Aber es ist eine wichtige. Denn eine Demokratie geht nicht einfach so verloren. Sie wird gezielt angegriffen โ€“ und zwar laut, dreist und mit Lรผgen. โ€žFake newsโ€œ. Wer am lautesten schreit, dominiert die Berichterstattung und sorgt dafรผr, dass Legenden am Ende wieder in eine irrationale Politik fรผhren.

Es sei also wieder hochaktuell, dass wir uns dieser so schwer verleumdeten Revolution erinnern und sie feiern, wie es sich gehรถrt, stellen die beiden Autoren fest. Ganz am Ende, wenn sie im Grunde das eine Jahr zwischen Herbst 1918 und Herbst 1919 in einer rasenden Berichterstattung absolviert haben, die an das Stakkato moderner Politik-Reportagen erinnert. Mit vielen, vielen originalen Stimmen von Beteiligten und von Beobachtern โ€“ etwa dem begnadeten Leipziger Philologen Victor Klemperer, den es ausgerechnet in der Zeit der Rรคterepublik an die Mรผnchner Universitรคt verschlagen hat. Ein wirklich unbestechlicher Augenzeuge.

Und gerade weil so viele Persรถnlichkeiten ins Bild kommen, die bei den รผblichen Revolutions-Komprimaten nie zu Wort kommen, hรคtte man sich eigentlich am Ende auch noch รผber ein Personenregister gefreut. Die riesige Literaturliste, die die beiden Autoren durchgearbeitet haben, ist ja da.

Und was ihnen gerade durch das journalistische Stakkato gelingt, ist zu zeigen, dass wir hier ein markantes Kapitel unserer Geschichte strรคflichst vernachlรคssigt haben. Auch weil viele Historiker sich von der Verachtung der Nazis fรผr die โ€žWeimarer Verhรคltnisseโ€œ haben blenden lassen. Genau der Verachtung, die heute wieder nach Aufmerksamkeit schreit. Und da schaut man in diesen Herbst 2018 und sieht, dass kaum jemand irgendwo ernsthafte Festvorbereitungen getroffen hat. Das ist peinlich. Das hรคtten sich die Franzosen zu den Jubilรคen ihrer Revolution nie und nimmer erlaubt.

Wir sollten feiern. Und wir haben โ€“ auch wenn wir heute so gern mit der lรคdierten SPD und den bรผrgerlichen Nachfolgeparteien der damaligen Parteien hadern โ€“ jede Menge Grund, gerade diese Revolution zu feiern. Das Buch erzรคhlt, was es zu feiern und was es vor allem jetzt wieder zu verteidigen gilt.

Sven Felix Kellerhoff; Lars-Broder Keil Lob der Revolution, WBG Theis, Darmstadt 2018, 24 Euro.

Der Historiker Sven Felix Kellerhoff erzรคhlt die durchaus lehrreiche Geschichte des Hitler-Buches โ€žMein Kampfโ€œ

Der Historiker Sven Felix Kellerhoff erzรคhlt die durchaus lehrreiche Geschichte des Hitler-Buches โ€œMein Kampfโ€

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