Lieber Erich Kästner, morgen wird Dein 116. Geburtstag sein. Ich weiß, man soll nicht vorzeitig gratulieren, aber ich will es trotzdem wagen. Was soll bei einem, der schon ein paar Jahrzehnte nicht mehr unter uns weilt, auch noch passieren? Dass Du in Dresden zur Welt gekommen bist, das weiß man zur Genüge, vor allem aufgrund deines autobiographischen Kinderbuchs „Als ich ein kleiner Junge war“. Mit dem Du Deiner Heimatstadt ein anrührendes Denkmal zu setzen wusstest.

Wie es um Dresden zur Stunde steht, verschweigen wir Dir lieber, es passt nicht recht zum Beglückwünschen. Nur soviel: Literarische Denkmäler reichen dort momentan leider nicht aus, um die herunterspazierte Tourismusbranche schnellstens wieder hochzuprügeln.

Lass uns nicht über Dresden sprechen. Aber über Leipzig. Damals und heute.

Denn über Deine Leipziger Jahre wissen viele nicht viel. Weil du selbst auch gar nicht so gern drüber zu reden schienst. Allzu gut mag die Erinnerung nicht gewesen sein. Trotzdem handelte es sich um keine ganz unwichtigen Jahre im Leben eines Menschen, die du hier verbracht hast: Deine Studentenzeit, erste Anstellungen, der erste eigene Verdienst – als Redakteur, als Schreiber. Allein für diese gar nicht wacklig wirkenden ersten Schritte auf publizistischen Wegen lohnte es sich, Dir für immer folgen zu wollen. Wäre man nicht längst einer Deiner eifrigsten Follower.

1919 hast Du Dich zum Wintersemester eingeschrieben. Der Hauptbahnhof war damals erst ein paar Jahre alt, selbstredend noch kein aufreizendes Shoppingparadies wie heute. Das machte Dir aber vermutlich nichts, erschwinglich wäre ohnehin nichts gewesen für Dich. Als Sohn eines Sattlermeisters dürftest Du unter all den immatrikulierten Söhnen von Ärzten, Juristen, höheren Beamten und Gutsbesitzern ein recht seltenes Exemplar gewesen sein. Heute ist das bald wieder ähnlich, Erich. Die deutsche Bildungspolitik arbeitet zielstrebig daraufhin. Verlass Dich drauf.

Du hast auf die Geldknappheit reagiert, indem Du etwas tatest: Mit einem Kinderkorb vorm Leib wurden Leibniz-Kekse verkauft oder als wandelnde Litfass-Säule bist Du die Grimmaische oder Peterstraße entlangpatrouilliert. (Halten wir unsere Zeit für wirklich so modern?)

Überhaupt ist zu vermuten, dass man Dir nur wenig Neues über die Entwicklung der Menschheit seit Deiner Leipziger Zeit mitzuteilen hätte. Vielleicht würdest Du Dich ein bisschen wundern, dass Leipzig so plötzlich 1.000 Jahre alt werden wird. Das wäre rechnerisch auch verständlich. Die Leute brauchen hier aber immer etwas zum Feiern, sonst platzen alle noch vor Glück. Wer feiern will im großen Stile, der braucht heutzutage auch Slogans.

Deswegen ist jetzt oft von „Likezig. The city with no limits“ die Rede.

Abgesehen davon, dass Leipzig nach wie vor sehr wohl seine Grenzen hat und hier – genau wie andernorts auch – ausschließlich die menschliche Einfalt grenzenlos daherkommt, sind schon wieder einmal “Studierende” am Werk gewesen, denen auch noch heftig unter die Arme gegriffen wird, etwas Nichtiges grenzüberschreitend zu einem Riesennichts aufzublasen.

Es würde Dir wahrscheinlich zu einiger Verwunderung gereichen, Erich, wie viel Geschrei darum gemacht wird. Wie viel Bedeutung wir mittlerweile imstande sind, Dingen beizumessen, von denen uns eingeredet wird, sie seien wichtig. Ist immer noch alles ein Ding der Psyche. Wenn einer nackig am Campingplatz Würstchen wendet, heißt das FKK und wenn einer in der Fußgängerzone dasselbe tätigt, heißen wir ihn einen Irren. Nun gut.

Nun eben LIKEZIG. Der Slogan einer von Studenten der Kommunikationswissenschaft ins Leben gerufenen Werbekampagne soll junge Leute zum Stadtjubiläum “1.000 Jahre Leipzig” anlocken. Selbst den Studenten aber ist die Begeisterung der Jury (“Dass es der Entwurf tatsächlich auf die Plakate schafft, hätten wir nicht erwartet.”) nicht ganz nachvollziehbar, aber “LIKEZIG ist simpel und prägt sich schnell ein”, heißt es von deren Seite, und man muss nicht mal dagegenhalten, dass dies ein “Sieg Heil” auch gewesen sein muss, um darüber ein bisschen zu verzweifeln.

Für die Jurymitglieder aber ist vor allem wichtig, dass “das Wort Likezig (…) aufgrund seiner Nähe zu Leipzig sofort Assoziationen zulässt”. Erich, ich bin froh, dass die sich nicht um die Kampagne zum Stadtjubiläum von WURZEN gekümmert haben.

Was würdest du nun zu sehen bekommen zum Jubiläum in der Stadt deines studentischen Daseins, in der Du „möbliert“ gewohnt hast, bei verwitweten Rechtsanwaltsgattinnen, in Artistenpensionen mit Gauklern, Liliputanern und Mitbewohnern, die kein Blackfacing benötigten. Es muss ein Abenteuer gewesen sein, bei dem man dir nur zu gerne mal über die Schulter gespechtet hätte.

Dann hätte man auch sehen müssen, wie du ziemlich verzweifelt gewesen bist. Ilse Julius` wegen, deren Gefühle für Dich mit den Jahren erkaltet waren, wie Du Dich getröstet hast auf Leipziger Tanzböden und den sich dort befindlichen Damen, die es über die Bettkante bei dir geschafft haben, für dich aber selten mehr als „ein netter Kerl“ blieben. Mit solchen Bezeichnungen müsstest du dich heute allerdings ganz schön zurückhalten, mein lieber Dr. Kästner, die Frauen von heute verstehen in solchen Dingen nur noch wenig Spaß.

Augustusplatz mit City-Hochhaus und dem Neubau der Universität Leipzig. Foto: Ralf Julke
Likezig – the better Berlin heute auf dem Augustusplatz mit Paulinum. Foto: Ralf Julke

Nicht nur die Frauen haben sich ein wenig geändert, das Stadtbild natürlich ebenso. Das wäre zu keinen Zeiten ausgeblieben. Manchmal frage ich mich, wo würdest Du heute sitzen und schreiben? Dein geliebtes Café „Felsche“ existiert längst nicht mehr. Die daneben stehende Paulinerkirche hat kein weniger hässliches Ende gefunden. Man müsste das Wort „paulinisieren“ für solcherlei Architekturkritik erfinden. Aber von diesem Verschwinden hattest Du ja möglicherweise noch Kenntnis. Ist ja alles noch zu Deinen Lebzeiten passiert.

Im „Felsche“ kann man heute bei einem Systemgastronomen so etwas ähnliches wie italienisch essen. Wenn man zur Tür hineinkommt, wird man umgehend mit einer Chipkarte vergesellschaftet, mit der man sich dann unmittelbar vor die Köche stellen kann, um ihnen tausend Wünsche mitzuteilen (Fussili, Conchiglie, mit Knoblauch, mit scharf?). Es ist alles hektisch, meist überfüllt und vollkommen pragmatisch. Ein geeigneter Ort zum Schreiben? Eher nicht. Da kannst Du nicht mehr hin, Erich, „da kommt nichts bei raus.“

Es gibt natürlich allerlei Alternativen. Neue Cafés und Bäckereien haben ihre Pforten zuhauf geöffnet. Meist tragen sie enigmatische Namen. BACKWAHN, BROTWAY, BÄCKSTAGE, BREAD-à-PORTER und BREADOUILLE oder sie teilen dem Kunden schon am Schaufenster den modernen Katechismus des Großstädters 2015 mit („Schlemmen, schlürfen, gratis surfen“). Aber niemand muss jemandem wie Dir erklären, dass es ein großer Nachteil auf der Welt darin besteht, dass ein gewisser Wohlstand nicht proportional zum Stil-Empfinden der Menschheit wächst, nicht? Wo also schreiben? Im „Telegraph“ vielleicht. Das könnte dir gefallen.

Besser wäre es jedoch, man eröffnete ein Etablissement eigens für dich. Wenn schon keine Kästner-Straße, keine Kästner-Gedenktafel in Leipzig, dann wenigstens ein Café, das Deinen Namen trägt.

Schenken wir Dir doch ein Café zum 116. Geburtstag – das Café meiner Träume, das Café „Kästner“, ein Gegenmittel für das Gefühl, das Leben ränne dahin wie zäher Schlamm. Im Jugendstil muss es erbaut sein, Tabakqualm soll einem sofort entgegenschlagen, an den Wänden ausschließlich Fotos von Martin Munkácsi und Marianne Breslauer. Im Zentrum ein Podium, wo ein- oder zweimal die Woche alle die hinaufsollen, die etwas schreien, flüstern, raunen oder stammeln können. Die schwadronieren wollen oder predigen. Denen etwas auf der Seele liegt, unter den Nägeln brennt, die aus Liebe etwas geverst hat oder eine neue Allergie vorschlagen wollen.

Im Café „Kästner“ sollen sie gehört werden. Nicht von denen, die einem Posten verschaffen können. Sondern von denen, denen fremde Begeisterung noch zu eigener gereicht. Warum nicht einmal wieder Mut zum Temperament, zur Heiterkeit, zur Ekstase? Wir brauchen die Ringelnatzes, die auf bescheuertes Publikum etwas von der Bühne werfen, wir brauchen die Erich Weinerts, die Dichterkommunisten und Vortragskünstler und wir brauchen die Franz Hessels, die fabulierenden Großstadtflaneure, wir brauchen jene, die politisch unkorrekt mit der Peitsche knallen, aber die was können. Eine Stätte des Geistigen, der Könner, der Intellektuellen, die dem Leben jenes Gefühl hinzufügen, das sich beim Rollen der Zigarre am Schenkel einer rassigen Cubanerin einstellt.

Lieber Erich Kästner, das wäre wohl das Mindeste, was eine Stadt wie Leipzig Dir zurückgeben könnte. Bei allem nämlich, was Du als nicht mal Dreißigjähriger in Leipziger Zeitungen geschrieben hast, schimmert stets etwas sehr kostbares, etwas auch heute noch sehr seltenes durch: eine Meinung, eine eigene, kritische Meinung.

Da ist es kein Wunder, dass Du Dir auch schnell Feinde geschaffen hast, die Deine Texte kritisch beobachteten und schließlich froh waren, dass Du Dir mit einem wunderschön-frivolen Gedichtchen zum Beethovenjahr 1927 („Du meine neunte Sinfonie!/Wenn du das Hemd an hast mit rosa Streifen./Komm wie ein Cello zwischen meine Knie,/Und laß mich zart in deine Seiten greifen. …“) selbst einen Anlass für die Kündigung gibst. Einer, der aus heutiger Sicht lächerlich und nichtig wirkt. Dass Du mit wehenden Fahnen nach Berlin abgedampft bist, wer will es dir verdenken? Leipzig war eben schon damals nicht „the better Berlin“.

Trotz allem ist es ein angenehm warmes Gefühl, hier auf Deinen ganz frühen Spuren zu wandeln, leise hoffend, du mögest durch Leipzig doch geprägt worden sein und Leipzig ein klein wenig auch durch dich.

Nun aber hoch die Tassen für ein dreihundertfaches Hoch zu Deinem Geburtstag!

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Ans deutsche Volk von Ulm bis Kiel:
Ihr eßt zu oft! Ihr eßt zuviel!
Ans deutsche Volk von Thorn bis Trier:
Ihr seid zu faul! Zu faul seid ihr!

Und wenn sie Euch den Lohn entzögen!
und wenn der Schlaf verboten wär!
Und wenn sie euch so sehr belögen,
dass sich des Reiches Balken bögen!
Seid höflich und sagt Dankesehr.

Die Hände an die Hosennaht!
Stellt Kinder her! Die Nacht dem Staat!
Euch liegt der Rohrstock tief im Blut.
Die Augen rechts! Euch geht’s zu gut.

Ihr sollt nicht denken wenn ihr sprecht!
Gehirn ist nichts für kleine Leute.
Den Millionären geht es schlecht,
ein neuer Krieg käme ihnen recht.
So macht den Ärmsten doch die Freude!

Ihr seid zu taktvoll und begabt!
Seid taktvoll wenn ihr Hunger habt!
Rasiert euch besser! Werdet zart!
Ihr seid kein Volk von Lebensart.

Und wenn sie euch noch tiefer stießen
und würfen Steine hinterher!
Und wenn sie euch verhaften ließen
und würden nach euch Scheibe-Schießen!
Sterbt höflich und sagt Dankesehr.

Zitiert nach: Erich Kästner “Die Zeit fährt Auto – Lyrische Bilanz” Reclam Leipzig 1974
Die Zeilen haben wenig an Aktualität verloren, daher stimme ich in die Hochrufe auf Kästner gerne ein. Die Zeit mag Auto fahren, doch mancher schafft es sie zu bremsen und mit seinem Wirken die Zeit zu überdauern. Erich Kästner war so einer.

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