Wer mit dem Streichholz in die Finsternis leuchtet, sieht erst – wie finster es ist. So ungefähr muss sich Mark Lehmstedt gefühlt haben, als er die Texte und Fotos für seinen neuesten Buchband „Leipzig wird braun” zusammenstellte. Leipzigs zwölf finsterste Jahre sind denkbar schlecht dokumentiert. Dafür haben schon die Nationalsozialisten selbst gesorgt. Wer will schon Kritik, wenn er „vom Schicksal auserwählt” ist?

So ist denn das Übliche in neu installierten Diktaturen stets das Verbot aller unabhängigen Presse. Im Fall Leipzig der (sozialdemokratischen) LVZ und der (kommunistischen) Sächsischen Arbeiterzeitung. So dass ab März 1933 kaum noch unabhängige Berichterstattung in Leipzig stattfand. Was ein Handicap ist, wenn man so wie Lehmstedt versucht, das ganze Jahr 1933 einigermaßen objektiv anhand von Zeitquellen ablaufen zu lassen.

Auch auf die (konservativen) Leipziger Neuesten Nachrichten konnte er nicht zurückgreifen. Der Rechercheaufwand, so Lehmstedt, wäre zu groß gewesen. Denn auch diese Zeitung schwenkte schon frühzeitig auf einen nationalistischen Kurs ein. Blieb also – wieder einmal – nur die Neue Leipziger Zeitung, in den 1920er das liberalste und qualitativ wohl auch hochwertigste Zeitungsprodukt, das in Leipzig erschien, wo nicht nur Erich Kästner schrieb, aus dessen Leipziger journalistischen Produktion Mark Lehmstedt schon einen eigenen, Aufsehen erregenden Kästner-Band machte.

Dort wirkte auch Hans Natonek, dem Lehmstedt gleichfalls einen eigenen Band widmete. Da war schon angedeutet, was 1933 mit Natonek und der NLZ geschah, wie auch diese Zeitung unter die Räder der „Gleichschaltung” kam. Texte aus der ab Januar erscheinenden „Leipziger Tageszeitung” hätte er schon gar nicht verwenden können, so der Herausgeber. Da hätte allein der Erklärungsteil, der die Wahrheit hinter den nationalistischen und antisemitischen Artikeln erklärt, wohl ein eigenes Buch ausgemacht.

„Ungeheure Menschenmassen …”

Blieb also die Spurensuche im 1933er Jahrgang der NLZ, die auch unter dem rüde agierenden neuen Regime versuchte, noch so etwas wie journalistischen Anstand und ein wenig objektive Berichterstattung am Leben zu erhalten. Denn was in den staatstragenden Blättern schon längst nicht mehr erschien: Hier tauchte es noch in lakonischen Polizeiberichten auf. Der kommunistische und sozialdemokratische Widerstand etwa, der auch nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 nicht abebbte.

Da holten die Nationalsozialisten zwar auch in Leipzig die meisten Stimmen (37,2 Prozent). Aber die Hälfte der Leipziger wählte wieder Rot. Die SPD bekam 30,8, die KPD 18,2 Prozent der Stimmen. Und das, obwohl die Maschinerie zur Verfolgung der politischen Gegner schon angelaufen war. Im November, zur nächsten anbefohlenen Reichstagswahl, stand dann nur noch eine Partei auf dem Wahlzettel.

Die politischen Gegner waren verboten. Und praktisch kein Tag verging, an dem nicht die Polizei – oft unterstützt durch SS und SA – Wohnungen durchsuchte, Konten beschlagnahmte, Jagd auf Flugblattverteiler machte. Und vor allem: Immer neue Fahndungsaufrufe herausgab, die offiziell zur Denunziation aufforderten. Wer erwischt wurde, wurde in der Regel in „Schutzhaft” genommen.

Auch das ist den Texten aus der NLZ ablesbar: Wie der Jargon der neuen Machthaber sich durchsetzte und Texte sich aufblähten, wenn es um die grandiosen Selbstinszenierungen der neuen Herrscher ging. Es sind Texte, da staunt man nur: Wieviel muss der arme Kerl gesoffen haben, um so viel erwarteten Schwachsinn zu schreiben? Und man bedauert ihn. Denn die wirklich spannenden Fragen bleiben natürlich unbeantwortet. Denn wirklich freiwillig sind alle die „ungeheuren Menschenmassen” mit „nie gesehener elementarer Wucht” in Vierer- und Achterreihen garantiert nicht marschiert. Nicht am 1. Mai und nicht zu all den anderen Groß-Aufmärschen, die auf einmal zur Regel wurden.

SA als Platzanweiser

Wer hat all die Kilometer Fahnentuch bestellt? Und: Wer hat es bezahlt? Wer hat die Losungen geschrieben? Wer hat an welchem Tisch die Aufmarschreihenfolge festgelegt? Und wer die Befehle weitergegeben, damit auch ja jeder aufmarschiert, sonst … Ja, womit wurde Marschverweigerern gedroht? Und wer durfte – von der SA „freundlich eingewiesen” – auf den Tribünen sitzen? Und zu welchem Preis? Was kostete eine Eintrittskarte zur neuen Nazi-Prominenz? Und wer verbürgt die Zahlen?

Immer wieder vermeldet die NLZ, wie Lehrer, städtische Angestellte und Hochschuldozenten vom Dienst suspendiert werden. Das Volkshaus wird besetzt, die Gewerkschaftsfunktionäre werden verhaftet.

Auch Fotos haben sich, so Lehmstedt, aus dem faschistischen Leipzig nicht viele erhalten. Deswegen hat er auch viele Bilder mit in den Band genommen, die einfach Stadtansichten zeigen aus dem Leipzig der 1930er Jahre. Bilder, bei denen der Betrachter lange braucht, sie irgendwie einzuordnen. Denn die Hauslandschaften sind verschwunden – das Naundörfchen genauso wie die Gerberstraße samt dem kompletten Gerberviertel. Der alte Rossplatz hat mit dem heutigen nichts mehr gemein. Der Johannisplatz auch nicht. Ergebnis der Bomben, die 1943 auf diese Stadt fielen, gerade einmal zehn Jahre nach Hitlers forschem Einzug in die Reichskanzlei mit den geradezu dämlichen Worten: „Keine Macht der Welt wird mich jemals lebend hier wieder herausbringen.”

Ein jahrzehntelanges Tabu

Auch da war noch nicht alles zu spät. Denn anders als geplant, erzielte Hitler zur Reichstagswahl am 5. März nicht die absolute Mehrheit. Eine Wahl, die auch nur zustande kam, weil der debile Reichspräsident Hindenburg auf Wunsch Hitlers nicht nur den Reichstag auflöste, sondern auch gleich die erste Wunsch-Verordnung des Frischernannten genehmigte, die „Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes”.

Wie viele SPD-Funktionäre werden sich in diesen Tagen selbst geohrfeigt haben, dass sie je diesen kriegsverblödten Feldmarschall zur Präsidentenwahl unterstützt haben?

Aber damit ist man schon mittendrin in der großen deutschen Geschichte. Über die die meisten der Protagonisten nichts mehr erzählen konten, weil sie in den Gefängnissen und Konzentrationslagern der neuen Machthaber ums Leben kam. Die ersten der vielenToten, die diese fröhlich grinsenden neuen Uniformträger von 1933 einmal auf dem Gewissen haben werden.

Ob einer der Jungen der Klasse VIb der Nikolaischule aud Seite 2 so schuldig wurde – auch das wissen wir nicht. Denn auch wenn viele Opfer nach dem 2. Weltkrieg erzählten – die Täter schwiegen in der Regel. Und machten in der Regel auch stillschweigend wieder Karriere. Was unter anderem dafür sorgte, dass das komplette Dritte Reich fast 40 Jahre lang wissenschaftlich ein Tabu-Thema war. Die Verstrickungen der großen deutschen Konzerne waren genauso „top secret” wie die Wurzeln vieler unverhoffter Vermögen und die Anfänge der späteren Karrieren hoher Staatsbeamter, Politiker und Offiziere.

Um so wertvoller ist Lehmstedts Spurensuche, die jetzt in Bild und Text zumindest ahnen lässt, wie innerhalb weniger Wochen eine zwar labile, aber lebendige Demokratie in einer brodelnden Großstadt abgeschafft wurde. Wie Opposition und Kritik auf einmal zum Staatsverbrechen wurden. Und wie die komplette Staatsmacht auf einmal den blutrünstigen Marschierern von gestern zur Verfügung stand. Und trefflich weiterfunktionierte. Manchmal sogar noch mit unerwartetem Ergebnis, wie im Dezember 1993, als das Reichsgericht im Reichtagsbrandprozess nur Marinus van der Lubbe zum Tode verurteilte, Georgi Dimitroff und Ernst Torgler aber – mangels Beweisen – frei sprach.

Aber was hieß schon frei im Dezember 1933 in Deutschland? Apitzsch, der den Prozessbericht für die NLZ schrieb, wird’s gewusst haben. Sein letzter Satz lautet: „Es war ein letztes Echo Deutschlands und der Welt auf das Ereignis in Leipzig.”

So, so, sagt sich der Leser. Und was ist nun aus diesem Apitzsch geworden?

Mark Lehmstedt (Hrsg.) „Leipzig wird braun. Das Jahr 1933 in Zeitungsberichten und Fotografien”, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2008, 19,90 Euro

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