Verdient hat es jedes einzelne der vielen Dörfer, die in der Zeit des mitteldeutschen Braunkohletagebaus abgebaggert wurden. Devastiert, im Sprachgebrauch der Ingenieure. Ein dickes Buch, das noch einmal alles sammelt, was man weiß. Heuersdorf bekam so ein Buch. Eythra hat jetzt auch eines. Eythra und Bösdorf sind die beiden Orte, die der Tagebau Zwenkau noch in den 1980er Jahren verschlungen hat.

Vorher hatte es schon Zeschwitz erwischt. Seit 1921 hatte sich der Tagebau langsam von Böhlen her nach Norden durch die Landschaft gefressen. 1980 war er am Elsterstausee angekommen. Hier verzweigte er sich dann. Der Tagebau Cospuden fraß sich weiter Richtung Norden, wo er Cospuden und das Gut Lauer verschlang. Der Tagebau Zwenkau verschluckte die Hälfte des Elsterstausees. Und mit Beginn der 1980er Jahre begann das langsame Sterben von Eythra und Bösdorf.

Dabei war Eythra einer der ältesten urkundlichen Orte der Region, 976 erstmals als Itera erwähnt und wie so einige Orte links der Weißen Elster zum Bistum Merseburg gehörig und auch später Teil jener Dörferwelt, in der Wiprecht von Groitzsch und später die Ritter von Pflugk eine wesentliche Rolle spielten. Wasserburgen prägten die Landschaft. Auch das Schloss von Eythra war bis ins 16. Jahrhundert eine Wasserburg. Die Kirche von Eythra war berühmt durch ihre reiche Ausstattung. Die wertvollsten Stücke sind heute im Stadtgeschichtlichen Museum von Leipzig zu besichtigen, wohin sie in den 1980er Jahren kamen. Elf Skulpturen, darunter ein St. Georg mit dem Drachen, der möglicherweise darauf hindeutet, dass die Kirche einst St. Georg geweiht war.
Noch eine andere Erinnerung an Eythra kann man in einem Leipziger Museum bewundern: die wertvollen Bildtapeten aus dem Schloss Eythra, auf denen – nach Piranesi – berühmte römische Ruinen zu sehen sind. Sie kamen schon 1946, nach der Vertreibung der letzten Gutsbesitzer, ins Museum für Kunsthandwerk, wo sie nach dessen Restaurierung im “Römischen Zimmer” bewundert werden können. Die Restaurierung der Bildtapeten hat Rudolf Binsack, Sohn des letzten Gutsbesitzers, mit unterstützt. Womit sich natürlich Kreise schließen. In diesem Buch kommen viele ehemalige Eythraer zu Wort, die jeweils ihren Teil zur Erinnerung beitragen.

Das Buch ist keine wissenschaftliche Arbeit, sondern ein Gemeinschaftsprojekt mehrerer Autoren, die sich in den letzten Jahren mit der Geschichte des Ortes, seiner Adelsgeschlechter, der Landwirtschaft, der Industrie und den Zeitenumbrüchen beschäftigt haben. Ein kurzes Kapitel geht auch noch auf die wertvollen Funde ein, die die Archäologen nach Abtragung der Dörfer machen konnten. Da wurden nicht nur die alten Gründungsspuren von Dorf, Burg und Kirche freigelegt. Das Grabungsfeld Eythra ist mittlerweile auch über Sachsen hinaus bekannt geworden durch seine jungsteinzeitlichen Funde. Die freigelegten 6.000 Jahre alten Brunnen und ihr Inhalt waren eine Sensation, die man in einer eindrucksvollen Ausstellung auch im Stadtgeschichtlichen Museum sehen konnte.

Das Buch erschöpft nicht die erzählbare Geschichte der einstigen 2.500-Einwohner-Gemeinde. Auch wenn man lesen kann, mit welchem Fleiß die Autoren versuchen, etwa die Schulgeschichte des Ortes aufzuzeichnen. Ein großer Teil des Buches lebt von der lebendigen Erinnerung der Menschen, die fortgezogen sind oder – wie ein Großteil der Eythaer – nach Grünau umgesiedelt wurden. Sie können noch von der Entwicklung der Landwirtschaft nach der Bodenreform von 1945 erzählen, von der reichen Vereinskultur, die auch nach 1945 weiterlebte in Sportgemeinschaften und Chor, von den industriellen Veränderungen und von den Erlebnissen des Krieges. Einen Bahnhof hatte Eythra, eine Poststation und eine rührige Feuerwehr.

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1954 wurde es – genauso wie andere Dörfer an der Weißen Elster – vom Hochwasser überflutet. So bekommt man auch die Eythraer Elsterbrücke zu sehen, im Kapitel zur Wirtschaft auch den Elstermühlgraben, der seit dem 16. Jahrhundert eine Mühle antrieb. Geblieben ist von Eythra nur jenes Stück künstlicher Ruine, die einst im Park des Gutes stand und heute Trianon genannt wird, dazu ein Stück der alten Parkallee. Da, wo Eythra selbst stand, erinnert heute die Eythraer Bucht des Zwenkauer Sees an den verschwundenen Ort. Der letzte Kohlenzug verließ übrigens 1999 den Tagebau Zwenkau.

Das ist alles noch gar nicht so lange her. Trotzdem werden die Zeitzeugen seltener. Davon erzählen einige Bildreihen zu einstigen Schulklassen aus Eythra. Eben noch schauen drei Dutzend junge, fröhliche Gesichter in die Kamera, werden von ernsthaften Gestalten mit den scheußlich strengen Frisuren der Jahre um 1970 abgelöst und stehen dann auf einmal zu einem kleinen Häuflein geschmolzen am sich langsam füllenden Zwenkauer See.

Natürlich ist das Buch ein wichtiger und unterhaltsamer Baustein zur Erinnerung an den einstigen Leipziger Südraum, die Landschaft, die für die Leipziger selbst über Jahrhunderte Ausflugsziel oder auch Zufluchtsort war. Irgendwann wird sowieso das große Buch fällig, in dem einmal konzentriert die Geschichte dieser Kulturlandschaft erzählt wird, die im 20. Jahrhundert zu großen Teilen einfach von der Landkarte verschwand.

Mit dem Neuseenland bekommen die Leipziger etwas völlig anderes zurück. Da und dort erinnern nur die wieder aufgenommenen alten Flurnamen daran, was hier alles verschwunden ist. Und so ein Buch natürlich, das den verschwundenen Ort in vielen Bildern noch einmal sichtbar macht – nicht ausgeklammert der legendäre Elsterstausee, der bis zu seiner Halbierung ab 1976 gerade für die Eythraer und Bösdorfer ein Wasserparadies direkt vor der Haustür war.

Werner Klötzer “Eythra. Am Randeder Großstadt”, Engelsdorfer Verlag 2012, 18,00 Euro

http://de.wikipedia.org/wiki/Tagebau_Zwenkau

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