Am 23. Dezember 1958 wurden fünf Männer in Halle zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt - wegen "Staatsverrat" und Bilden einer "partei- und staatsfeindlichen Gruppe". Die Männer waren Erich Loest (7 Jahre 6 Monate), Dr. Harro Lucht (8 Jahre), Ronald Lötzsch (3 Jahre), Harry Schmidtke (3 Jahre 6 Monate). Das höchste Strafmaß aber bekam der Leipziger Slawist Dr. Ralf Schröder verpasst: 10 Jahre.

Ganz kurz beschäftigte sich die Öffentlichkeit der DDR 1989/1990 noch einmal mit der eigenen frühen Opposition, die in den Jahrzehnten zuvor verfolgt, diskriminiert, verurteilt und vertrieben worden war. Der “Fall Janka” wurde zu einem der frühen Erlebnisse einer öffentlichen Debatte darüber, was in 40 Jahren DDR eigentlich schief gelaufen war.

Walter Janka war schon ein Jahr vor Schröder und Loest zu einer fünfjährigen Zuchthausstraße verurteilt worden. Zuvor war er Leiter des Aufbau-Verlages gewesen. In einem Schauprozess nach Stalinschem Vorbild wurde die ganze “Harich-Gruppe” 1957 zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Wolfgang Harich, der “Namensgeber”, gehörte seinerzeit zur Spitzennomenklatura der SED und bekam 10 Jahre Zuchthaus aufgebrummt. Erst 1956 hatte Nikita Chrustschow seine berühmte Rede gehalten, in der die Verfehlungen Stalins angeprangert wurden waren und die ein kurzes “Tauwetter” im Ostblock auslöste, eine kurze Zeit der Hoffnung, nun würde nicht nur der Personenkult verdammt, nun würde auch wieder freimütig über das diskutiert werden können, was man offiziell Sozialismus bzw. Kommunismus nannte. Was es nicht war.

Was dann den so hoffnungsvollen Intellektuellen im Osten nach dem Aufstand in Ungarn deutlich demonstriert wurde. Die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn leitete auch in der Ulbrichtschen DDR die Verfolgung aller Splittergruppen, eigensinnigen Denker und linken “Querulanten” ein, die nicht auf der vorgegebenen Parteilinie waren. Mit der “Harich-Gruppe” setzte man ein Exempel. Mit der Gruppe um Ralf Schröder zeigte man den kritischen Köpfen im Umfeld der Uni Leipzig, wie weit Kritik am real Existierenden gehen durfte. Die Verhaftung von Erich Loest und den anderen war auch ein Signal an zwei international renommierte linke Intellektuelle, die seinerzeit der Leipziger Universität einen legendären Ruf verschafften: Ernst Bloch und Hans Mayer, die alle beide in den Folgejahren in den Westen vergrault wurden.

Fast acht Jahre saß der 1927 geborene Slawist Ralf Schröder im Gefängnis, sechs davon im Zuchthaus Bautzen. Und während Erich Loest sich mit großen, eindrucksvollen Romanen in die Herzen der Leipziger schrieb, gewann Schröder nach seiner Haftentlassung 1964 auf andere Weise die Herzen der Leser: Als Lektor für Sowjetliteratur beim für die internationale Literatur zuständigen Verlag “Volk und Welt” sorgte er dafür, dass die kritische Literatur aus der Sowjetunion in der DDR veröffentlicht wurde, darunter die Literatur der 1920er Jahre, deren Autoren in der Stalinzeit verboten oder gar ermordet wurden, die Literatur der “Tauwetter”-Zeit – darunter natürlich Ilja Ehrenburg – und die Literatur jener Autoren, die sich mit den Fehlentwicklungen in der SU und überhaupt im von Stalin geprägten Stalinismus bis 1990 auseinandersetzten.

Und nicht nur in der Sowjetunion galten Granin, Tendrjakow, Tynjanow, Okudshawa und Aitmatow als Wegbereiter für eine andere Epoche. Einen Namen weit über sein ostdeutsches Betätigungsfeld hinaus machte sich Schröder mit der Herausgabe der Bulgakow-Ausgabe, der er nach 1990 eine maßstabsetzende 13-bändige Bulgakow-Werkausgabe folgen ließ.

Von seinen russischen Autoren-Freunden lernte er, wie man in einem Land, in dem bestimmte Meinungen und Diskussionen unerwünscht sind, in “Subtexten” arbeitet. Nicht nur die von ihm betreuten Romane erzählten von der kritischen Distanz der russischen Autoren zu dem, was sich unter Stalin und seinen Nachfolgern als Staatskapitalismus im sozialistischen Gewand in Moskau und seinen Vasallenstaaten etabliert hatte. Auch Schröders Nachworte trugen dazu bei, den Lesern völlig andere Interpretationen zum real Existierenden, der Funktionsweise von Herrschaftsapparat und Gesellschaft, zur offiziellen Doktrin und zum Verständnis der russischen und sowjetischen Literatur anzubieten. Immer hart an der Grenze des Genehmigten. Und so erschienen einige Werkausgaben denn auch ohne Nachwort, bei manchen beschränkte sich der Verlag ganz und gar auf Klappentexte, um den Zensoren gar nicht erst Handhabe zu geben.

Am 7. Juli 2000 – nach einem Traum, in dem ihm sein lebenslanger Wegbegleiter Maxim Gorki erschien – setzte sich Ralf Schröder an den Computer, um den Roman seines Lebens zu schreiben. Roman im doppelten, russischen Sinne – als große Erzählung und als Liebesaffäre, wie man das Wort aus dem Russischen auch übersetzen könnte. 2001 wurde er aus dieser Arbeit herausgerissen. Sein Sohn Michael Leetz hat das Fragment jetzt herausgegeben und ergänzt um mehrere Dateien und Vorarbeiten aus den 1990er Jahren, in denen sich Schröder schon intensiv mit der Weiterentwicklung seiner Theorie um die Motive des Großinquisitors, Fausts, Mephistos und der Samgins in der russisch-sowjetischen Geschichte beschäftigte. Zahlreiche Dokumente – auch zu Bulgakow – die erst in den 1990er Jahren bekannt wurden, vervollständigten das Puzzle, in dem ihm die Entwicklung der russischen Literatur nach Dostojewski greifbarer wurde.

Denn schon Gorki war gezwungen, seine Kritik an den Entwicklungen ab 1917 zu verschlüsseln, sie in klassische Legendenmotive der russischen (und europäischen) Literatur zu kleiden. Und die Botschaften lassen sich entschlüsseln, wenn man weiß, welche Rolle der Großinquisitor spielt oder der Goethesche Faust, den auch die Deutschen so gern missverstehen, weil sie ihren Goethe unbedingt missverstehen wollen.

Zur Entschlüsselung der kritischen russischen Autoren war immer gut zu wissen, was in der Faust-Schlussszene mit dem “einen Geist für tausend Hände” gemeint war.

Das Verblüffende war immer, dass Schröder mit seinen Analysen auch etwas tat, was der komplette Forschungsapparat der Staatspartei sich nicht traute: Er bot eine Interpretationen dafür an, warum die russische Revolution ab 1921 einen Weg einschlug, der mit den Ursprungsideen von Karl Marx (für die auch einst die SPD schwärmte) nichts mehr zu tun hatte. Und der eben nicht – wie noch 1989 von vielen (gut-)gläubigen DDR-Bürgern (“Gorbi, hilf!”) ersehnt – in eine Erneuerung eines wie auch immer gearteten Kommunismus führte, sondern in eine “Katastroika” (wie Schröder das Ganze nach Woinowitsch benennt).

In der ersten Niederschrift seines “Vorboten eines Romans” kam Ralf Schröder ungefähr bis zu dem Punkt seiner Verhaftung 1957, einer Verhaftung, mit der er nach all den Staatsaktionen gegen die Andersdenkenden in der DDR schon gerechnet hatte. Nur rechnete er nicht damit, dass die Staatssicherheit selbst die Verhaftung noch wie eine Farce organisieren würde, bei der Schröder, dem man vor Gericht dann auch seine intensive Beschäftigung mit Gorki, Samjatin und Ehrenburg vorwarf, in den Dreck am Straßenrand geworfen wurde, während einer der verhaftenden Offiziere seine gerade angezündete Zigarette mit dem Stiefel austrat.

Die Haftzeit nutzte Schröder keineswegs untätig und berichtet im Nachhinein, dass gerade die lange Haft ihm auch die Zeit verschaffte, die wichtigsten Motive bei Bulgakow zu entschlüsseln. Die sowjetischen Autoren sprachen ganz direkt von einer “Flaschenpost”, die sie auf den Weg schickten für künftige Lesergenerationen. Und gerade Bulgakows “Meister und Margarita” ist so eine Flaschenpost. Und ein wenig sah Schröder wohl auch seinen angefangenen Roman als Flaschenpost. Der nun Fragment blieb, auch wenn die von Michael Leetz angefügten Dateien Schröders Vorarbeiten in zeitlicher Abfolge zeigen. Bis hin zur intensiveren Beschäftigung mit den neueren Entwicklungen in Russland unter Jelzin und Putin. Und der parallelen Entwicklung in Deutschland.

Richtig spannend die Frage, die so ganz beiläufig aufscheint: Wie kann man eigentlich die deutsche Geschichte interpretieren? Gelten hier auch die Großinquisitor-, Napoleon- und Faust-Motive? Schafft sich auch hier die Geschichte die Gestalten und Maskeraden, während die Hauptakteure alleweil noch denken, sie wären die Gestalter von Geschichte?

Am Ende sind es 600 Seiten geworden, die einen der kritischsten Köpfe aus dem Osten zeigen, wie er die Rätsel seiner Zeit zu knacken versucht. Und das ist mehr, als die meisten, die man dafür bezahlt, auch nur versuchen.

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