Man kann sich zwar aufregen, wie es einige Zeitgenossen zuweilen tun, dass es die großen Veröffentlichungen zu berühmten Personen immer gleich im Haufen zu diversen Jubiläen gibt. Aber gäbe es diese runden Jahrestage nicht, würden viele dieser Bücher auch nie geschrieben werden. Denn oft ist es gerade das runde Datum, dass Fördergeldgeber spendabel macht und Forscher/-innen dazu bringt, sich tief in die Archive hineinzuwühlen und Entdeckungen zu machen. So ist das auch bei Rilke (1875 bis 1926), dessen 150. Geburtstag sich im Dezember bemerkbar macht. Auch mit einer (Neu-)Entdeckung.
Einer, die einen Teil von Rainer Maria Rilkes Schaffen sichtbar macht, der bislang in seinen Werkausgaben und Biografien ausgeblendet war. Nicht ganz zufällig. Denn der Dichter selbst wollte es nicht, dass seine Dichtung durch Illustrationen „kommentiert“ wurde. Obwohl er selbst viel zeichnete – auch direkt zu seinen eigenen Gedichten. Und es ist ein Glücksumstand, dass seine Zeichnungen zuerst im Familienarchiv und nun im Literaturarchiv in Marbach überdauert haben.
Und weil das Jubiläum 2025 nahte, machten sich Gunilla Eschenbach, Mirko Nottscheid und Sandra Richter mit Unterstützung von Hanna Baumgärtner daran, den Zeichnungsfundus im Rilke-Nachlass aufzuarbeiten. Selbst natürlich ziemlich überrascht davon, wie viele Zeichnungen es dort gibt und wie intensiv sich Rilke seit seiner Kindheit mit der Zeichnung beschäftigt hat.
Dass auch seine Kinderzeichnungen erhalten blieben, verdankt die Rilke-Gemeinde seiner Mutter Sophia „Phia“ Rilke, die schon früh alles sammelte, was die Entwicklung ihres begabten Sohnes sichtbar machte. Das betrifft seine Kindheitszeichnungen – teilweise unter Anleitung einer professionellen Erzieherin – genauso wie die Zeichnungen aus der Zeit an der Militärrealschule in St. Pölten, als der Junge noch auf dem Weg war, eine Offizierslaufbahn wie sein Vater einzuschlagen.
Seine Zeichnungen spiegeln sein sehr ambivalentes Verhältnis zum Militär. Immerhin war es die Zeit, als im Deutschen Reich genauso wie in Österreich eine Militärlaufbahn mit hohem Prestige verbunden war und die Offizierslaufbahn für Jungen aus eher ärmeren Verhältnissen eine Chance für den gesellschaftlichen Aufstieg. Aber selbst Rilkes Zeichnungen verraten, dass er hin- und hergerissen war zwischen den ritterlichen Legenden, mit denen der militärische Habitus selbst in der damaligen Literatur gefeiert und romantisiert wurde, und dem tatsächlich erlebten niederdrückenden Alltag, der den sensiblen Jungen abschreckte.
Es war eigentlich wie immer: Das Leben im Militär wird von einer mythisierenden Literatur verherrlicht, wird geradezu zum romantischen Abenteuer stilisiert. Die Wirklichkeit aber schreckt sensible Menschen schlichtweg ab. Aber auch eine Handelslaufbahn sollte sich für den Jungen zerschlagen, während seine Zeichnungen schon davon erzählen, wie er sich ein Leben als – armer – Künstler samt tragischem Scheitern ausmalt.
Die Poetisierung der Wirklichkeit
Es ist erstaunlich, aber mit den Zeichnungen kommt man diesem Dichter näher als mit vielen seiner literarischen und brieflichen Äußerungen, auch wenn sich Vieles ergänzt. Aber sie erzählen auch von der Konsequenz, mit der sich der junge René Maria Rilke in das Metier stürzte, in dem er tatsächlich Erfolg haben sollte. Eine Entwicklung, die nicht bei vielen Dichter derart detailliert nachvollziehbar ist.
Und zum Bild wird. Denn nach und nach lernt er von Anderen – etwa dem heute fast vergessenen Hans Schließmann. Gerade die 1890er Jahre werden nicht nur für den angehenden Dichter, sondern auch für den Zeichner zur Lehrzeit, nimmt er Anregungen auf, die sich dann auch in der Qualität seiner Zeichnungen niederschlagen.
Dazu kommen dann Ende der 1890er Jahre die Begegnungen mit Lou Andreas-Salomé, Heinrich Vogeler, die Heirat mit der Künstlerin Clara Westhoff und die Begegnung mit Rodin. Alles Begegnungen, die sich in Rilkes dichterischem Werk niedergeschlagen haben – nur dass der Zeichner Rilke dort nicht sichtbar wurde. Auch wenn er weiterhin zeichnete und viele seiner Zeichnungen in engem Zusammenhang mit Gedichten entstanden.
Gedichte, auf die die Autor/-innen dieses Bandes sehr feinfühlig eingehen. Denn in der Gegenüberstellung dieser Gedichte, die die Leser – ohne Zeichnungen – aus seinen Veröffentlichungen kennen, mit den zumeist in Bleistift ausgeführten Zeichnungen wird oft erst deutlich, in welchem Zusammenhang und an welchem Ort die Gedichte entstanden.
Deutlich wird aber auch, wie sehr die zunehmende Bildhaftigkeit von Rilkes Gedichten mit seinem zeichnerischen Talent zusammenhängt, das er zwar nie zu wirklicher künstlerischer Meisterschaft brachte. Aber es hat sein Sehen geschärft und sein Bewusstsein dafür, wie sehr gute Gedichte vom bildhaften Formulieren leben. Und auch als er nach 1900 immer seltener zeichnete, tauchen Zeichnungen aus seiner Hand trotzdem immer wieder am Rand seiner Tagebücher und Briefe auf. Zeichen dafür, dass er seine Gedichte nach wie vor aus tatsächlich gesehenen Situationen heraus modellierte, kann man sagen.
Türen ins Gedicht
Was ja am Ende die Stärke von Rilkes Dichtung bis heute ausmacht: Seine Gedichte laden zum Schauen ein. Man sieht die Szenerien vor dem inneren Auge Kontur gewinnen, wenn man liest. Es sind Landschaften, Gasthöfe, alte Burgen, aber auch Tiere wie Flamingos und der berühmte Panther, die beim Lesen Gestalt bekommen. Und gleichzeitig tragen sie jene Stimmungen, die Rilke nach und nach gelernt hat aus Worten zu formen. Stimmungen, die selbst aus seinen Ding-Gedichten sprechen. „Das Zeichnen verlagerte sich dabei ins Vorkünstlerische, anders als etwa bei Kafka, der es als eigene Kunstform betrachtete“, schreiben die Autor/-innen im Nachwort.
Die Zeichnungen sind wie Türen in seine Dichtung. Denn sie zeigen, wo sich der Dichter dann vom Gesehenen löste, es umformte und auflud mit Bedeutung. Oder mit den Worten aus dem Nachwort: „Die Grenzen des Sichtbaren und Unsichtbaren, um die es Rilke ging, ließen sich mit dem Wort leichter verschieben als mit Bleistift und Pinsel.“
Denn gerade diese Gegenüberstellung von Zeichnung und Gedicht macht einen wesentlichen Teil von Rilkes Arbeitsweise sichtbar – wie er nicht nur das Sehen des Dichters im Text greifbar macht, sondern auch sein Empfinden. So wie ein Mensch zuweilen tatsächlich gebannt vor der Wirklichkeit steht und nicht ganz greifen kann, was ihn daran auf einmal so fasziniert und bannt.
Auch wenn man Rilke dabei nicht immer folgen kann. Dazu ist er selbst doch zu sehr in den Gestus seiner Zeit eingebunden. Einer Zeit, die die eigentlich längst verbürgerlichte Welt noch ein letztes Mal versuchte, mit Feierlichkeit und Tiefe aufzuladen. So wie es Rilke in seinem Gedicht „Der Apfelgarten. Borgeby-Gard“ letztlich tut, wo die Beschreibung eines Gartens mit „überfüllten Früchten“ ins Unfassbare zu gleiten beginnt: „das, was alle Maße übersteigt“.
So wird dann auch ein ganz gewöhnlicher schwedischer Apfelgarten zum Ort der innigen Begeisterung. Wobei das Kapitel Schweden auch einen weiteren, kaum bekannten Rilke zeigt: den Fotografen, der just die Plätze, die er so überschwänglich bedichtete, auch im Foto festhielt. Für die Forscher/-innen natürlich ein unerwarteter Schatz, weil sie so nicht nur die Orte festmachen können, an denen viele von Rilkes Dichtungen entstanden.
Sie können sogar konkrete Gebäude und Situationen zeigen, die sich dann im ausformulierten Gedicht zur Kulisse wandelten, zu atmen begannen. Orte, die heutige Touristen oft einfach im Selfie als Kulisse nutzen würden, ohne einen Gedanken an die mögliche Tiefe und Überzeitlichkeit des Ortes, wie sie dann in Rilkes Gedichten aufblühen.
Ein neuer Blick in die Werkstatt des Dichters
Für Liebhaber von Rilkes Dichtung ist der Band voller Zeichnungen natürlich ein Geschenk. Hier wird ein Stück von Rilkes Arbeitsweise sichtbar, die der Dichter selbst eigentlich in seinen Veröffentlichungen nicht zeigen wollte. Deutlich verwahrte er sich immer wieder gegen die Bebilderung seiner Gedichte, hatte auch ein waches Auge auf Satz und Gestaltung seiner Gedichtbände.
Auch dazu wird manch Leserin und manch Leser Informatives finden. Denn die Autor/-innen des Bandes ordnen nicht nur die gefundenen Zeichnungen in Leben und Werk des Dichters ein, sie machen auch seine Arbeitsweise – ausgehend von diesen Zeichnungen – sichtbar. Eine konsequente Arbeitsweise, die nicht wirklich viele Dichter aufweisen. Bis hin zur Gestaltung des fertigen Gedichtbandes in scheinbar zurückhaltender Aufmachung, aber mit hochwertigen Materialien.
Und Rilkes Verleger und auch die meisten frühen Biografen folgten Rilke in dem Wunsch, sein zeichnerisches Werk völlig aus den Veröffentlichungen herauszuhalten. Selbst im ursprünglichen Rilke-Archiv sollte es keine Aufnahme finden, blieb aber durch die Familie erhalten und kann heute in Marbach besichtigt und erforscht werden.
Durchaus aufschlussreich für alle, die wissen wollen, wie aus den Eindrücken, die Rilke aufnahm, durch bildhafte Verarbeitung am Ende diese unverwechselbaren Gedichte wurden, in denen Rilke die „Wiederverzauberung der Welt“ (so ist das Kapitel zu den frühen Bildgedichten überschrieben) betrieb.
Das, was schon seine Zeitgenossen bannte beim Lesen dieser Verse, die auch den geplagten Stadtbürger spüren ließen, dass es nur einer kleinen dichterischen Anstrengung bedarf, um aus profanen Orten und Dingen kleine Schlüssel zur Poesie des Da-Seins zu machen.
Gunilla Eschenbach, Mirko Nottscheid, Sandra Richter „Rilke zeichnet“ Die Andere Bibliothek, Berlin 2025, 68 Euro.
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