Man muss zwei Mal hinschauen, drei Mal. Und dann ist man noch immer verwirrt. Die Strukturen faszinieren, erinnern an die besten Arbeiten berühmter abstrakter Grafiker und Maler. Sind aber keine. Der Aha-Effekt kommt, wenn man das Vorwort von Mathias Bertram gelesen hat, der seit zehn Jahren der künstlerische Leiter des Lehmstedt Verlags ist. Der Bursche also, der die Bücher klassisch brillant aussehen lässt, weil er weiß, was gutes Design ist.

So einer sieht die Welt sowieso mit anderen Blicken. Kritischeren. Denn gutes Design ist im Ursprung die menschlich wahrgenommene Harmonie unser Umgebung. Die Regeln gelten seit Urzeiten. Haben möglicherweise auch mit unserem Unterbewussten zu tun, das immer auf der Wacht ist: Droht eine Gefahr aus dem Unterholz? Stimmt etwas nicht in unserer Umgebung? Hat die Harmonie einen Knacks?

Manch einer merkt das nicht mehr, weil unsere Umwelt voller schriller störender Töne ist. Alarmsignale, die uns auf Schritt und Tritt anschreien: Schwarz-gelbe, rot-weiße, blau flackernde Signale. Aber auch schrille Neonfaben, grelle Botschaften in Werbungen. Würde man die Signale unserer Umwelt in Töne verwandeln, es wäre ein einziges Schreien, Scheppern, Quietschen. Ein schriller Chor der Misstöne.
Da schließt man lieber die Augen und guckt gar nicht erst hin. Flüchtet mit der Kamera irgendwo in noch verschonte Räume, wo man die aufdringlichen Signale der Zivilisation ausblenden kann. Einer wie Mathias Bertram hat natürlich seine Kamera oft dabei. Auch an jenem Herbstnachmittag, als er mit seiner Tochter zum nahen Spielplatz gehen wollte. Da auch sie ihre Kamera dabei hatte, wurde der Ausflug sehr schnell zu einer Expedition. Und am Spielplatz langten sie nicht an. Denn was man sonst auf seinen Wegen nicht sieht, blieb der Kleinen auf einmal im Sucher hängen: ein auffälliges Muster im Pflaster. So etwas sieht auch manch anderer, freut sich und geht weiter.

Die beiden aber machten daraus einen ganzen Nachmittag der Detailsuche. Auch wenn sie noch nicht ahnten, was daran am Ende wirklich reizvoll sein würde. Das kristallisierte sich erst heraus, als Mathias Bertram die Fotos am Bildschirm betrachtete und merkte, was es im verengenden Rahmen des Kamerabildes alles zu entdecken gab. Wenn man sich auf diese Strukturen einlässt, die uns überall begegnen – Pflanzenstrukturen, altes Mauerwerk mit abblätternden Farbschichten, korrodierende Tafeln, verwitterte Container, Verteilerkästen, abblätternde Farbpigmente, Regenwasser auf Dächern, Kiesel im Park, Algen auf einer Regentonne.

Als Bertram erst einmal entdeckt hatte, welche Bilderwelt sich da auftat, veränderte sich, wie er schreibt, sein Blick. Jetzt nimmt er diese Muster in seiner Umwelt fast schon beiläufig auf. Er muss sie nicht mehr suchen. Sie suchen ihn.

Der Bildband zeigt eine Auswahl seiner Fotos aus den Jahren 2011 und 2012. Man kann sie genießen wie abstrakte Meisterwerke. Und eine Faszination dabei ist natürlich auch das Rätselraten: Was hat er hier fotografiert? – Denn dadurch, dass er den Kamerablick ganz auf das erkannte Muster beschränkt, verliert sich der Bezug zu Objekt und Umgebung. Manchmal ahnt man es. Aber zumeist ist man verblüfft, sieht einen Maler am Werk, der mit einem einmaligen Gespür für Farben, Töne und Formen ein Bild hinwirft, dass die Sinne anspricht und Emotionen auslöst. Manchmal ist es der dritte Blick, der einen zum Aha führt: Es ist ein klassisches Rostmuster auf emailliertem Grund. Oder es sind Farbreste einer ursprünglichen Bemalung, auf der die roten Pigmente einer späteren Bemalung schwimmen wie Blätter. Und immer wieder die Verblüffung, wenn sich die kühne Struktur schlicht als Pflasterbemalung erweist. Das üppige Rot eines zerschlissenen Radweges mitten im Trockenprozess, Kratz- und Bremsspuren, ein Detail aus einem abgeschliffenen Zebrastreifen.

Und sie wirken vertraut. Nicht nur, weil diese zerschlissenen Strukturen noch vor wenigen Jahren der Normalzustand in hiesigen Regionen waren. Bertram musste sogar bis nach Frankreich fahren, um einige seiner eindrucksvollsten Motive zu finden. Die permanente Erneuerungs- und Auffrischungsarbeit in deutschen Straßenräumen entfernt solche Muster natürlich immer wieder. Die uns auch deshalb so vertraut vorkommen, weil sie eigentlich ursprünglicher Teil unserer Welt sind. Die Dinge erodieren, korrodieren, zermürben – und sie tun es mit genauso stringenten Mustern, wie die Dinge um uns herum wachsen. So weiß der Betrachter nicht wirklich – wächst hier nun ein Pilz auf dem Pflaster oder hat man den Rest eines Farbaufstrichs vor Augen?

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Galerie der Straße
Mathias Bertram, Lehmstedt Verlag 2012, 24,90 Euro

Bertram hat auch ausgiebig nach Vorbildern gesucht in der internationalen Fotografie. Und hat sie tatsächlich gefunden. In Frankreich natürlich, wo auch die moderne Reportagefotografie ihre Wurzeln hat. “Peinture trouvé” heißt die Richtung der Fotografie, die so sehr an Klee, Pollock oder Tàpies erinnert. Mit dem Unterschied: Alle fotografierten Muster sind tatsächlich so vorgefunden worden. Nur die Verengung des Fokus macht die Strukturen zum Bild, löst sie aus den Zusammenhängen und weckt das Staunen. Und schärft den Blick des Betrachters wieder für die allgegenwärtigen Zerfallsvorgänge, die uns umgeben – und für ihre Schönheit.

Dinge, die Kinder noch sehen, und auf die ein erwachsener Mensch erst wieder aufmerksam werden muss. Man merkt dabei, wie viel man eigentlich gar nicht sieht, wenn man durch den täglichen Signalrausch eilt. Es ist ein Buch, das zum Schauen einlädt, zum zeitweiligen Ausstieg aus der Raserei der Zeit. Und wenn man demnächst, wenn der Frühling mal wieder ein richtiger Frühling wird, lauter Leute mit Kameras gebückt durch die Seitenstraßen schleichen sieht, dann sind es wohl keine Privatdetektive, sondern Leute, die von diesem Buch hier angesteckt wurden mit einer Leidenschaft für die faszinierenden Details unserer Umwelt.

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