Vor 20 Jahren hat Jürgen Kunz sein erstes Bändchen mit "Hirnfusseln" veröffentlicht. Dächtung nannte er das, was drin war: progressiv-nihilistische Dächtung. Der fhl Verlag hat seine zweite Sammlung nun in die "Edition Lyrik" eingereiht. Ein echtes Missverständnis. Aber welcher Verlag betreibt heute noch eine Bücherreihe mit dem Generalthema Spaß, Nonsense, Dada?

Möglich wär’s ja. Es könnte Ansporn sein. Zum Beispiel für Leute wie Dr. pot. idiot. Bruno Friedrich alias Dr. Jürgen Kunz, sein Versteck zu verlassen. Denn ein Lyriker ist er nicht. Das weiß er auch in seiner dunklen Seele. Ein Nihilist schon eher. Studierter Philosoph sowieso: geschult an Hegel, Nietzsche, Ringelnatz und dem Theologen Bruno Bauer. Über diesen hat der gebürtige Zwickauer Jürgen Kunz promoviert. Hat ihm aber trotzdem keinen Philosophie-Lehrstuhl in Leipzig eingetragen. Dazu war Bauer wohl zu unpassend, vor wie nach der Wende, die eher eine Halse war. Ein unangepasster Philosoph wie Nietzsche, Stirner, Feuerbach.

Wer liest sowas noch? Und wo ist Kunz gelandet? – Als Kabarettist kennt man ihn von der “Sanftwut” und vom “Boccacc(tr)io”, das mal vor Zeiten im “Boccaccio” auftrat, als das noch so hieß. In jedem Kabarettisten steckt ein verschollener Philosoph. Und Musik hat er auch schon immer gern gemacht, und so erlebt man ihn als Trompeter mit der “Losen Skiffle Gemeinschaft” und als Teil der “Crazy Doctors”.
Das Pseudonym Bruno Friedrich ist also ein angeeignetes – die eine Hälfte von Bauer, die andere von Nietzsche. Ergebnis: ein halbfiktiver Philosoph, der seine Kopfgeburten in Verse fasst oder in “Sprichwörter”, also eher Aphorismen, Gedankensplitter. Es ist ein bisschen wie bei Lichtenberg, ein bisschen wie bei Charles Bukowski. Nur nicht so abgeklärt. Bukowski ist ein zufriedener Mann gegen diesen grimmigen, wütenden Dr. Kunz aus Leipzig, der durchaus zu Schönem fähig ist – einem “Schöön”-Gedicht zum Beispiel, leicht schwebend zwischen Ausruf und Verzückung. Dazu ist er durchaus fähig, wenn er will. Wenn er nicht gerade über Frauen und Mitmenschen lästert oder die Skandale der Medien aufgreift und sie aufbläst, bis sie platzen – Ozonloch? Lange her, dass sich darüber einer aufgeregt hat. Aber da merkt man, dass Dr. Kunz lange geschrieben hat an seinem Buch, 20 Jahre lang.

“Menschliches, Allzumenschliches” heißt das bei Nietzsche, dem “Götzen-losen Hammer-Philosophen”, wie ihn Kunz nennt. Nur dass von Nietzsche zwar dieser gärende Zorn über das Allzumenschliche stammt, die verbissene Kritik am Menschlichen aber eher von Schopenhauer, dem Anti-Hegel, der mit dem Pomp, der Arroganz und Auserwähltheit seiner Zeitgenossen so partout nichts anfangen konnte und wollte. Ein Philosoph, wie ihn die Deutschen eigentlich gebraucht haben. Aber die haben lieber Hegel, den großen Verklärer des real existierenden Preußentums auf den Thron gesetzt. Schopenhauer: “Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie sein mußte, um mit genauer Not bestehen zu können. Wäre sie aber noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen.”

Das ist schon dicht dran an dem, was Kunz seinen progessiven Nihilismus nennt: Man akzeptiert, dass man auch nur ein fehlerhaftes und fehlbares Wesen ist, oft einsam und ungeliebt, nimmt das aber nicht als Grund, sich deprimieren zu lassen. Es ist ja egal. Nach dem Nieselregen kommt vielleicht wieder Nieselregen – oder auch Bodenfrost. Ist das ein Grund, sich schon vorher zu grämen? – Irgendwann kann man doch einfach akzeptieren, dass die versprochenen Wunder ausbleiben, jeder Sonnenstrahl und jede Frau ein Geschenk sind. Und dass die eitlen Gecken, die so tun, als wären sie der Nabel der Welt, einfach nur nerven. Und so folgt dem Wutgesang auf den Selbstverliebten selbstverständlich das Lied auf das Leben des Arschwischs.

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Wie man sieht, kennt Dr. Kunz auch die Welten des Rabelais und seinen Villon, seinen Morgenstern sowieso, auch wenn er nicht ganz so lyrisch ist. Morgenstern hat ja schon die feine Kunst beherrscht, sich ganz ätherisch zu geben in seiner Verballhornung der menschlichen Eitelkeiten. Nicht so wie der Götz von Berlichingen, der noch heute für einen Ausnahmefall der deutschen Klassik gilt. Wie konnte Herr Goethe nur! – Dabei ist keiner in seinem Alltag ein Goethe, sondern eher ein Bursche wie Götz, ungehalten zuweilen, von Recht durchdrungen und richtig wütend des öfteren. Und manchmal auch stockbesoffen. Was ja nicht heißt, dass der Heiratsantrag dann nicht angenommen wird.

Wer sagt den Kerlen denn immerzu, dass die Weiber so anders sind? – Spielen darf man damit. Das tut auch Kunz. Er wird richtig romantisch stellenweise, besingt den Mai und den Wein. Nur Vorsicht, wenn er seinem Schatz klar macht, dass ein alter Knacker eine junge Braut braucht, um noch ein paar Gefühle zu kriegen. Oder wie ist es gemeint? Ein Versöhnungsgedicht, ganz am Ende, weil man ja doch zu zweit schöner alt wird? – Ansonsten: Ein sehr fleischiges Philosophieren, zumeist direkt aus dem Bauch, der Milz oder anderen gerade erwachten Teilen der Körperwelt hingefusselt und hingehauen. Mit einem gewissen Ur-Grimm, wie man ihn von Villon ganz gut kennt. Einem Grimm, der auch bissig wird, weil man irgendwann bei all dem Altwerden merkt, dass es nun zu spät ist für frohe Erwartungen. “Am Ende war alles nur ein Traum”, schreibt er in “Gelacht”. Ein Gelacht, das nur ein bisschen nach (homerischem) Gelächter klingt, eher nach so einem ganz typischen sächsischen “Nu Grade!” – Das wäre ja gelacht!

Ein Buch voller Fusseln, in denen der Autor nicht nur zeigt, dass man das Leben, so wie es ist, auch mal verbissen nehmen kann. Den Dalai Lama können ja andere spielen. Und warum der Papst nun ausgerechnet wissen will, was am Bumsen schlecht ist, kann sowieso keiner erklären. Wer ganz unten ist, braucht nicht mehr zu begründen, warum die Pointen nicht so grazil ausfallen wie erwartet. Es gibt eine Welt, da ist es schon ein Sieg, wenn man sich morgens aufrafft und einfach losgeht und den Stier wieder bei den Hörnern packt. Immer wieder. Fast trotzig verkündet Kunz zwar die Anarchie.

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Hirnfusseln viergeteilt
Jürgen Kunz, fhl Verlag Leipzig, 16,00 Euro

Aber selbst wer den Nihilismus gesucht hat, findet ein erstaunlich störrischen Menschlein, das sich einfach nicht klein kriegen lassen will. Mal so als Randerkenntnis: Nihilisten haben ja keinen Grund zum Lachen. Und sie reden auch nicht darüber, wie ihnen das Alltägliche, manchmal so furchtbar Kleinliche auf den Keks geht. Oder ist es ausgerechnet das alter ego, das Kunz einen Strich durch die Rechnung macht und auf Seite 99 sein Veto einlegt und streikt? “Des Autors Hirn” nennt es der Autor. Da kann es schon 20 Jahre dauern, bis so ein Buch mit neuen Hirnfusseln fertig ist und die zwei sich geeinigt haben, wie die Kapitel heißen: 1. Elitärer Teil, 2. Populärer teil, 3. Ordinärer Teil, 4. Stationärer Teil.” Mit Abgesang und Zugabe, wie auf der Bühne.

Das Ganze ein bisschen dadaistisch gesetzt und gestaltet, so dass es wie ein Gedicht-Buch aussieht. So dass auch niemand blass werden muss, wenn er (oder sie) damit in der Straßenbahn erwischt wird.

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