Die Idee mit den Lebensbildern hatte ursprünglich Ekkehard Schulreich, der in seinem Lieblingsortsteil Dölitz auf Spurensuche ging und dabei entdeckte, welche Lebensgeschichten die Menschen zu erzählen haben - aber auch, wieviele Persönlichkeiten, die auch für die große Stadt eine Rolle spielen, auf kleinem Raum leben können. Im Leipziger Südwesten hat Andrea Nabert 2012 die Idee auf neuem Terrain erprobt. Ihr erster Band "Lebensbilder" kam genauso gut an.

Am 5. Dezember war jetzt Premiere für ihren zweiten Band “Lebensbilder aus Knauthain, Knautkleeberg, Hartmannsdorf und Rehbach” in der Kirche Knauthain. Laut Ortsteilkatalog leben in diesem Stück Leipziger Südwesten rund 6.400 Menschen. Am großen Leipzig gemessen – nicht viel. Für sich eine ganze Welt. Mit Fleischern, Bäckern, Gärtnern, Milchfrauen, Landwirten, Kohlehändlern, Müllern, Zimmerern, Malern, Lehrern …

20 Lebensgeschichten hat Andrea Nabert für diesen zweiten Band eingesammelt. Und man merkt, wie sich die Geschichten verweben. Nicht nur über Heirat, Freundschaft und Geschäftskontakte. Da auch. In so einer überschaubaren Welt begegnet man sich nicht nur zwei Mal. Oft sind es auch die historischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die Verbindungen schaffen. Und vor allem eins: ein gemeinsames Erinnerungsfeld, in dem sich die Geschichten der Großeltern und Urgroßeltern genauso verweben wie die eigene Kindheit.

Wer den Leipziger Südwesten kennen lernen möchte, findet ihn hier. Mitsamt seinen eigenen Legenden, zu denen – bei den Älteren – die Bombenabwürfe von 1943 und 1944 gehören, bei denen auch die Knauthainer Kirche zerstört wurde. Ein Motiv ist auch bei den Jüngeren präsent: der Elsterstausee, an den derzeit nur noch eine wasserleere Mulde erinnert. Wobei es in den Erinnerungen gar nicht um diesen Reststausee geht, sondern um das Wasserdorado, wie es zwischen 1935 und 1976 zu erleben war – 1.700 Meter lang, 700 Meter breit, Angler-, Segler- und Badeparadies. Entstanden im Gefolge des Kohlebergbaus, aber schon ab 1976 beschnitten, als der Tagebau Zwenkau sich immer weiter nordwärts schob.

Was dann auch die ganzen Flecken zwischen Knauthain und Markkleeberg kostete – Lauer, Cospuden, Teile von Zöbigker. Auch sie kommen in den Erinnerungen der Älteren vor. Sie sind hier nicht nur gewandert, sondern auch zur Arbeit gegangen. Mit der Abbaggerung ging eine ganze Landschaft verloren. Legende ist auch das einstige Fortuna-Bad, genauso wie die Zeit, als im alten Schloss Knauthain noch die Schlossschule betrieben wurde. Vieles aus dem ersten Band wird man wiedererkennen. Es gehört zum örtlichen Erinnerungsschatz und bildet auch eine eigene Identität. Bäckerfamilien prägten für Jahrzehnte das Leben in ihrer Straße – und tun es auch heute noch. Nur dass man für gewöhnlich als Kunde vor dem Tresen steht und die ganze Geschichte nicht kennt – die Gründung der Bäckerei einst vor drei, vier Generationen, die schwierigen Kämpfe ums Ãœberleben auch in den Kriegen, als nicht danach gefragt wurde, ob einer nun als Bäcker gebraucht wird oder nicht.Es sind viele Handwerker und Gewerbetreibende, die im Buch zu Wort kommen. Dass ihre Geschäfte überlebten, verdankten sie stets nur dem eigenen Einfallsreichtum, der hohen Kunst, sich alles Nötige selbst in Mangelzeiten zu besorgen (und Mangelzeiten gab es im 20. Jahrhundert wahrlich genug). Dass auch die DDR irgendwann um 1980 einlenkte und wieder Gewerbescheine austeilte und Handwerk gedeihen ließ, hat mit einer der wohl eindringlichsten Erkenntnisse der zentral gesteuerten Planwirtschaft nach 30 Jahren zu tun: Zentrale Steuerung funktioniert vielleicht noch im Großen, wenn es um Fleischtonnagen oder Maschinen geht – spätestens bei Dienstleistung und Nahversorgung versagt sie. Mit der Detailsteuerung sind zentrale Dirigenten immer überfordert. Einige haben es irgendwann begriffen, dass man den Geigern und Trompetern im Orchester das Musizieren selbst überlassen muss. Dann erst funktioniert ein Orchester.

Das Orchester DDR ist ja gründlich baden gegangen, weil die kleinen Korrekturen nichts mehr halfen. Die zuweilen starrsinnigen, aber immer agilen und selbstausbeuterischen Handwerker haben überlebt. Eindringlich erzählen einige von ihnen von den harten Erfahrungen und Abenteuern dabei – und wie schnell sie trotzdem Tritt fassten, weil sie auch im Gegensatz zu allen VEBs immer beweglich waren. Was man heute so flexibel nennt. Und damit auch für den Ãœbergang 1990 besser gewappnet, der in Leipzig fast alles wegpustete, was bis dato VEB hieß oder PGH.

Es gibt auch etliche Erzähler im Buch, die von den schwierigen Neuanfängen berichten. Auch auf dem Gut Knauthain ging es 1990 nicht einfach so weiter wie bisher. Das erste, was dran glauben musste, war das gerade erst eingerichtete Hopfenfeld. Mancher startete gleich ganz in einem neuen Metier durch – machte eine Zimmerei auf oder ein neues Café. Oder wechselte, nachdem die Schulen im Gebiet aus Mangel an Schülern aufgelöst wurden, als Lehrer in die freie Wirtschaft. Manches Unternehmen aus der Ecke ist heute noch berühmt und gefragt – wie der Planenhersteller Rolf Pfefferkorn oder die Seume-Apotheke, deren Apotheker Friedemann Schmidt “durch Funk und Fernsehen” bekannt wurde.In der Rehbacher Mühle wird zwar schon seit Jahrzehnten kein Mehl mehr gemahlen und schon lange nicht mehr mit Wind – aber sie prägt das Gesicht der Landschaft. Und auch der berühmteste Sohn dieser Leipziger Ecke, der in Knautkleeberg aufgewachsene Johann Gottfried Seume, wird seit Januar 2013 durch eine Erinnerungstafel gewürdigt – natürlich von engagierten Knautkleebergern initiiert. Angebracht wurde sie zu Seumes 250. Geburtstag.

Das Buch ist wieder reich mit alten Fotos aus Familienbildern gespickt, so dass man auch die Eltern und Urgroßeltern der Erzählenden sehen kann in ihrer Zeit und zumeist auch ihrer Tätigkeit, oft auch auf glücklichen Familienbildern. Die von Andrea Nabert Interviewten sind selbst mit einem großen Vorschaltfoto zu sehen – aufgenommen an ihrem Lieblingsplatz daheim, im Garten oder mitten in der Arbeit in der Backstube, am Zapfhahn, in der Werkstatt. Und auch die bekannteste Politikerin aus Knauthain, Jutta Schmidt, die Leipzig bis 2009 im Sächsischen Landtag vertrat, erzählt, wie sie eigentlich eher unverhofft erst in die Politik und dann in die CDU kam.

Was Pro Leipzig mit diesen sich mehrenden Bänden zu Lebensgeschichten aus nur scheinbar verschlafenen Leipziger Ortsteilen bewerkstelligt, ist natürlich Geschichtsschreibung mitten aus dem Alltag der Menschen. Hier wird sichtbar, wie Menschen mit ihren Lebensumständen und den Zeitenumbrüchen zu Rande kamen – wie karg auch das Leben noch vor einem halben Jahrhundert war. Und aus wie wenig damals jeder etwas zu machen versuchte. Häuslebauen war damals auch in der Thomas-Müntzer-Siedlung ein ganz eigenes Abenteuer.

Natürlich macht so eine Sammlung richtig Arbeit. Man muss auch die Gesprächspartner erst einmal aufschließen, damit sie auch aus dem Nähkästchen plaudern. Einige Porträtierte sind Pro Leipzig schon seit Jahren verbunden, weil sie selbst als emsige Ortschronisten tätig waren und sind. Auch das muss gewürdigt werden. Denn irgendwann kommt immer die Zeit, in der Nachgeborene sich an den Kopf fassen und fragen: Warum hat das keiner aufgeschrieben?

Ja, warum nur? Wie wichtig selbst die kleinen Dinge sind, das weiß man oft erst später, wenn die Spurensuche beginnt. Und wenn sich die Jüngeren freuen, dass es von den etwas Älteren so ein Buch gibt. Andrea Nabert betont im Vorwort extra, dass ihre Gesprächspartner zwischen 1925 und 1964 geboren wurden. Es sind also nicht nur die Weißhaarigen, die hier was zu erinnern haben. Auch die Jüngeren haben schon was zu erzählen. Vor allem darüber, wie das Leben und das Geschäft weiter geht. Manchmal glückt der Staffelwechsel der Generationen reibungslos, manchmal sorgen familiäre oder gesellschaftliche Umbrüche auch für das (scheinbare) Ende großer Familiengeschichten.

Es ist in Knauthain, Knautkleeberg, Rehbach und Hartmannsdorf nicht anders als in vielen anderen Leipziger Ortsteilen. Man wartet eigentlich darauf, dass sich auch andernorts einmal fleißige Chronisten finden. Sonst bleiben wichtige Geschichten irgendwann unerzählt. Wer wüsste noch von der wichtigen Rolle des Gasthofs “Zur Ratte”, wenn nicht die davon erzählen würden, die dort noch getanzt haben? – Zugreifen sollte man freilich rechtzeitig. Denn ziemlich schnell wandern Titel von Pro Leipzig in das Archiv mit den “vergriffenen Publikationen”. Einige “Lebensbilder” sind schon dort.

Andrea Nabert “Lebensbilder aus Knauthain, Knautkleeberg, Hartmannsdorf und Rehbach. Band 2”, Pro Leipzig, Leipzig 2013, 14 Euro

www.proleipzig.eu

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar