Prof. Dr. phil. habil. Barbara Elisabeth Kowalzik, geboren am 22. Mai 1939 in Leipzig, verstarb am 20. März 2025. Die Mitglieder und Freunde des Pro Leipzig e.V. trauern um eine engagierte, liebevolle Mitstreiterin und eine außergewöhnliche Autorin. Die Zusammenarbeit mit ihr an der Publikationsreihe „Waldstraßenviertel“ über die einstigen jüdischen Mitbewohner des Waldstraßenviertels (Hefte 3–6, 1993–1995) und besonders an ihrem einzigartigen Buch „Wir waren eure Nachbarn. Die Juden im Leipziger Waldstraßenviertel“ – 1996 gemeinsam mit der Ephraim-Carlebach-Stiftung herausgegeben – werden uns stets in besonderer Erinnerung bleiben.

Jede Aussage des Buches ist lokalisierbar: die Unmenschlichkeit des Holocausts mit seiner Vorgeschichte ebenso wie das selbstverständliche Neben- und Miteinander jüdischer und nichtjüdischer Bewohner vor 1933. Die starke Authentizität der Dokumentation resultiert aus den Erzählungen und Dokumenten von fünfzig überlebenden Zeitzeugen. Alle Ereignisse werden so auf der Ebene des Alltags reflektiert. Entscheidungsspielräume, Ängste und Nöte werden begreifbar.

Vor allem aber wird bewusst: Es geschah nicht irgendwo, sondern nebenan, und es betraf nicht irgendjemanden, sondern den Nachbarn. Die über mehrere Jahre laufenden Forschungen waren nicht nur von einem unbändigen Forschungsdrang und immer neuen weltweiten Kontakten der Autorin geprägt, sondern auch von einer großen Herzenswärme. Sie kam mit Menschen ins Gespräch, die häufig die letzten Überlebenden des Holocausts in ihren Familien und Freundeskreisen waren.

Das Abfragen und Wachrufen der Erinnerungen war für die Betroffenen äußerst schwer und schmerzhaft. Mit großer Sorgfalt und Feinfühligkeit hat Barbara Kowalzik das einzigartige Quellenmaterial im Buch verarbeitet. Sie brauchte an keiner Stelle den Zeigefinger zu heben, allein die Schilderungen der Begebenheiten und des Erlebten berühren zutiefst. Das Buch steht heute unter anderem im Archiv der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und in der Datenbank für Überlebende und Opfer des United States Holocaust Memorial Museum in Washington. Das ist als hohe Auszeichnung zu werten.

1996 bei Pro Leipzig erschienen: Barbara Kowalzik „Wir waren eure Nachbarn. Die Juden im Leipziger Waldstraßenviertel“. Cover: Pro Leipzig
1996 bei Pro Leipzig erschienen: Barbara Kowalzik „Wir waren eure Nachbarn. Die Juden im Leipziger Waldstraßenviertel“. Cover: Pro Leipzig

Aus ihren vielen Kontakten erwuchsen immer neue und sogar Freundschaften. Einige dieser Freundschaften wurden enger und weiteten sich auch auf die Familien aus, so bis zu deren Tod etwa mit Rolf Kralovitz (1925–2015), Channa Gildoni (1923–2023), Sam Ostro (1917–2021), Sidy Rayfield (1913–2010) und Schlomo Samson (geb. 1923). In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre reiste Barbara Kowalzik auf Einladung des Vereins ehemaliger Leipziger nach Israel und lernte vor Ort weitere Zeitzeugen kennen.

Mit vielen von ihnen sprach sie auch über deren Schulzeit in Leipzig, über ihre Lehrer und wie sie die Zerschlagung des jüdischen Schulwerks in Leipzig erlebt hatten. Diese Gespräche waren in der Folge der Grundstein zum Buch „Das jüdische Schulwerk in Leipzig 1912–1933“ (2002) und zu einigen Publikationen über Einzelpersonen aus diesem Umfeld. Insgesamt verfasste sie 17 Publikationen und etliche Zeitungsbeiträge zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung Leipzigs.

Barbara Kowalzik verbrachte ihr Leben vor allem in Leipzig. Nach der Schule absolvierte sie 1957 bis 1959 eine Berufsausbildung zur Buch- und Musikalienhändlerin, studierte 1959 bis 1964 an der damaligen Karl-Marx-Universität Philosophie und promovierte hier 1969. 1980 folgte die Promotion B (1991 Umwandlung des Dr. sc. phil. in Dr. phil. habil. durch den Senat der Universität Leipzig).

Von 1968 bis 1991 leitete sie neben ihrer Lehrtätigkeit mehrfach das Lehrkollektiv Kulturwissenschaften für das Direkt- oder Fernstudium. 1989 wurde sie zur Professorin berufen und 1992 wieder abberufen. Ihre danach einsetzenden Arbeiten zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung Leipzigs leistete sie im Auftrag des Bürgervereins Waldstraßenviertel (1992–1994), des Sächsischen Wirtschaftsarchivs Leipzig (1997/98), des Historischen Seminars der Universität Leipzig (1998–2001) und nach 2002 im Ruhestand.

Rolf Kralowitz hat das Wachrufen der Erinnerungen an einen Teil der jüdischen Bevölkerung durch Barbara Kowalzik immer wieder gewürdigt, „weil ein Mensch erst dann endgültig tot ist, wenn niemand mehr an ihn denkt“.

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