2013 hat Kati Naumann sich mit den Sorgen einer echten modernen Mutter beschäftigt, die sich die (Ex-)Liebhaber ihrer Töchter nicht aus dem Herzen reißen kann. Jetzt hat die lebensfrohe Leipzigerin wieder so ein echtes ostdeutsches Lebensthema der bewegten Neuzeit aufgegriffen. Wie findet man eigentlich seinen Platz im Leben, wenn man auch mit 40 noch nicht berühmt ist?

Oder erfolgreich. Was ja egal ist. Wir leben ja in einer Gesellschaft, die kaum ein Ideal so sehr feiert wie das der Karriere, der Selbstverwirklichung, verbunden mit Unabhängigkeit, Freiheit und dem Traum vom großen Ruhm. Jeder ist seines Glückes Schmied, heißt so ein Spruch, der dazu passt. In der amerikanischen Variante: vom Tellerwäscher zum Millionär. Oder zum Bühnenstar. Ganz egal: Wer Talent hat, wird auch Erfolg haben.

Den Traum träumt in Kati Naumanns neuem Roman auch Michaela Balutzke, begabte Tochter aus einer Bäckerfamilie in Limbach-Oberfrohna. Man liest den Satz und merkt’s schon beim Lesen: Da ist dann die Luft raus. Das kann nur eine Provinzgeschichte mit provinziellen Helden und kleinkarierten Träumen vom Glück werden. Und wer weiß, wieviele junge Leute aus dem Zwickauer Land genau daran zerzweifelt sind. Und wie viele wie die junge Michaela ihre Sachen gepackt haben: Nur ja nicht hier bleiben und am Ende wie Mama und Oma hinterm Tresen im Bäckerladen stehen. Denn auch Mädchen im tiefsten Sachsen haben große Träume. So ein bisschen wie die Autorin, die die Beklemmung der ostdeutschen Provinz schon 1998 thematisierte als Autorin des Musicals “Elixier”, zu dem Tobias Künzel die Musik komponiert hat. Da war in der Leipziger Muko nicht nur mal wieder Paul-und-Paula-Stimmung, da war auch ein gut Teil des Trotzes von 1989 wieder da: So wollen wir das nicht wieder, das hält ja kein Schwein aus.

Irgendwie so muss es auch Michaela gegangen sein, die etwa um diese Zeit noch ein Stück konsequenter war, ihren Rucksack packte und nach London ging, um dort ihre Träume von einer künstlerischen Karriere zu verwirklichen. London ist schon der richtige Ort dafür. Nirgendwo sonst in Europa gibt es so viele Studios und Schulen, an denen Künstler ihre Talente entwickeln können, so viele große und kleine Bühnen, große und kleine Galerien, Studios und Konzertsäle. Eigentlich der ideale Platz, um alle Träume zu verwirklichen, die eine(r) hat. Talente sowieso. 37 Diplome kann Mimi Balu am Ende nachweisen, als sich dieser im Leben jedes Menschen so seltsame 40. Geburtstag nähert. Gerade hat sie eine Band gegründet und der erste große Auftritt bahnt sich an.

Doch Städte wie London sind auch Kannibalen. Denn wenn sie die Talente so aus der ganzen Welt anlocken mit der Chance für den ganz großen Ruhm, dann ist es eigentlich zwangsläufig, dass die Konkurrenz nicht nur groß ist, sondern gnadenlos. Je mehr Talente auf das große Wunder hoffen, umso mehr bleiben hängen mit Gelegenheitssjobs, in heruntergekommenen Wohnungen, in einem Leben zwischen permanenter Euphorie und dem wachsenden Zweifel daran, ob der Traum jemals Wirklichkeit wird. Mimi Balu jedenfalls glaubt noch daran. Auch weil eine immer zu ihr steht – auch mit Geld: Oma Trude aus Limbach-Oberfrohna.

Aber nicht nur das. Bevor der Leser Oma Trude begegnet, ist er ja Teil einer Geschichte, die irgendwie der Traum der ganzen westlichen Welt ist: der Traum vom Erfolg. Ein Traum, den Millionen junger Menschen auch im deutschen Osten nach 1990 träumten. Es gab nicht nur die Deprimierten und Heimatseligen. Es gab viele wie Michaela Balutzke, die in diesem großen Umbruch auch die Chance sahen, endlich ihre Träume vom Leben und von der großen weiten Welt zu erfüllen. Und die auch fest daran glaubten, dass alle diese Chance hatten. Manche starteten ihre Traumkarriere in London, manche in München, Hamburg oder Leipzig.

Es ist ein unbarmherziger Traum. Denn eines lässt er nicht zu: das Scheitern. Erst recht dann, wenn man so tollkühn war, den Daheimgebliebenen den Traum schon als Erfüllung zu verkünden, in allem Überschwang, im festen Glauben daran, dass ein kleines Licht am Horizont schon die kommende Erfüllung ist. So wie es Michaela getan hat. Limbach-Oberfrohna war ja schön weit weg. Und in London gibt es auch viel weniger Bürokraten, die einem mit gnadenloser Trockenheit erklären, dass der Traum ausgeträumt ist und man sich bitteschön ins Fußvolk zurückzubegeben habe.

Ein wenig von dieser ganz deutschen Art, Menschen zu demotivieren, erlebt Mimi-Michaela noch im späteren Teil der Geschichte, nach ihrer gar nicht geplanten Rückkehr nach Limbach-Oberfrohna. Denn hier nutzen ihr alle ihre 37 gesammelten (und bezahlten) Diplome nichts. Wer in Deutschland nicht den richtigen (IHK-genehmigten) Abschluss hat, braucht nicht mal eine Bewerbung zu schreiben. Talente und der Wille, Bäume auszureißen, nutzen gar nichts.

Die Geschichte bietet also Stoff genug für einen Roman des doppelten und dreifachen Scheiterns. Denn wenn Michaela mit 40 dann doch noch hinter der Ladentheke der Balutzkes landet, dann ist das nicht nur in ihren eigenen Augen ein Scheitern. Dann hat ein ganzes gnadenloses sächsisches Nest Recht behalten. (Was übrigens auch ein Grund dafür ist, warum die Jugend aus der sächsischen Provinz in Scharen flüchtet.)

Kati Naumann, die nach eigenen Angaben irgendwie in zwei Welten, in Leipzig und London, lebt, hat jedes Kapitel auch mit skurrilen, aber auch treffenden Vergleichen zwischen London und Limbach-Oberfrohna eingeleitet. Es sind nicht nur Vergleiche zwischen einer Weltstadt, die Vieles mit Gelassenheit nimmt, und einer sächsischen Kleinstadt, in der die Selbstbehauptung sich oft genug in kleinen rücksichtslosen Gesten austobt (die man genauso auch in Leipzig findet – das liegt also nicht unbedingt an der Größe der Stadt). Es sind auch kleine Auslotungen dessen, was kreative, lebenslustige Menschen wie Michaela-Mimi in der Welt eigentlich suchen – und was ihnen daheim oft genug als grimmige Alternative geboten wird. Und man versteht diese Mimi Balu einfach zu gut, wenn sie alles tut, um mit ihren Talenten irgendwie doch noch den Durchbruch zu schaffen, irgendwen in diesem riesigen London zu überzeugen, dass sie das Zeug hat, große Säle zu füllen. Dass ihr privates Leben dabei eher ein Provisorium ist – wer kennt das nicht? Selbst von all jenen, die eher Berlin oder Leipzig als Sprungbrett für ihren Start in den Erfolg betrachtet haben? Die Generation der heute 40-Jährigen kennt ja fast nichts anderes als dieses permanente Anfeuern von der Seitenlinie und das Winken mit dürren Mohrrüben auf der Zielgeraden.

Es steckt auch der große Beschiss hinter diesem Bild, die perfektionierte Werbung für ein Versprechen, dass die schöne neue freie Welt gar nicht erfüllen kann. Und wenn, dann nur für Wenige. Dieser Frust schwingt mit in den ersten Kapiteln dieses Buches – und zwar gar nicht so beiläufig. Denn es ist der Atem der Zeit, den die Jüngeren nach 1990 alle im Nacken verspürten – und die meisten bis heute. Insofern ist das wilde, bunte Leben der Mimi Balu gar nicht so märchenhaft-romantisch, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Aber trotzdem ist es voller Hoffnung, dass alle die Mühe doch zu etwas nütze sein könnte. Irgendwann. Irgendwie.

Eines hat Michaela dabei aber auf jeden Fall gelernt: Dass man sich nicht klein kriegen lassen darf. Auch nicht in Limbach-Oberfrohna. Und egal, wie die Leute reagieren. Denn auf wilde, kreative Aussteiger haben sie noch nie anders reagiert. Denn eines wird man in einem kleinen sächsischen Städtchen niemals zugeben: wie man die Aussteiger und Weltenwander beneidet. Neid kann so klebrig sein. So sumpfig. Wäre da nicht Oma Trude mit ihrem unerschütterlichen Glauben an ihre Enkelin. Ein Glaube, der seine Wurzeln hat. Denn alles hat eine Vorgeschichte, auch Oma Trudes völlig unangekündigter London-Besuch.

Kati Naumann “Die große weite Welt der Mimi Balu, Knaur Verlag, München 2015, 8,99 Euro

Tipp: Buchpremiere für Kati Naumanns neuen Roman „Die große weite Welt der Mimi Balu“ ist am Dienstag, 21. April, um 20.15 Uhr bei Lehmanns Media (Grimmaische Straße 10). Musik: Mimi Balu Trio.  Eintritt: 6 Euro.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar