In Krimis sind meistens die Ermittler die Helden. Manchmal auch die Mörder. Aber um die am Rande Betroffenen kümmern sich Krimi-Autoren eher selten. Vielleicht, weil das eigentlich die ganz normalen Leute sind, die sich von all den Schreckensmeldungen in der Zeitung eher nur verängstigen lassen. Aber wie reagiert einer wie der Rentner Kuno Kropke, wenn ein blutiges Verbrechen seine Welt erschüttert?

Verängstigt war er schon vorher, denn Tag für Tag liest er seine Zeitungen und grübelt darüber, wie kriminell die Welt mittlerweile geworden ist – auch wenn er ab und an auch mal darüber nachdenkt, warum in den Zeitungen Mord und Totschlag derart breit ausgewalzt werden. Wäre da nicht seine realistische Lebensgefährtin Christa, er wäre wohl schon längst in den Kosmos des völlig wahnhaften Alten abgeglitten. Denn eigentlich bietet das kleine Nest in Hessen, in dem er lebt, nicht allzu viele Gründe dafür, die Welt als Albtraum zu begreifen.

Würde da nicht unverhofft ein kleines Mädchen anrufen und Onkel Kuno bitten, schnell, schnell zu kommen. Denn ihre Mama ist ermordet worden. Das Mädchen Anika versetzt den von seinem Medienkonsum reineweg wirren Kuno in Angst und Schrecken, auch wenn er die ersten Momente mit Leiche, Anika und Polizei ganz ordentlich meistert. Nicht allzu sehr geschockt, auch wenn die Tote Mechthild Popescu ihm keine Unbekannte ist: Sie hat in den Apotheken geputzt, die er noch kürzlich betrieben hat, und sie putzt auch regelmäßig in der Villa, die er mit Christa bewohnt.

Aber Christa ist weit weg – auf einer Reise in Chile. Er muss ganz allein zurecht kommen mit den Problemen, die der Todesfall jetzt aufwirft. Denn mittendrin in der Geschichte steckt er spätestens, als Anika klitschnass in seinem Haus auftaucht und ihn verdonnert, ja nicht zu verraten, wo sie ist. Ein selbstbewusstes Mädchen. Weiter hinten in seinem Roman, in dem Martin Lenz noch einige sehr interessante Persönlichkeiten aus Christas weitem Freundeskreis auftreten lässt, findet sich auch ein sehr freundliches Plädoyer des Autors für diese jungen, noch nicht eingeschüchterten Persönlichkeiten in der Grundschule, kluge Biester, denen eigentlich nichts fremd ist, was die Erwachsenen tun. Und auch Anika weiß, was gehauen und gestochen ist. Und da sie bei den diversen Putzjobs ihrer Mutter öfter dabei war, weiß sie auch, wem sie vertrauen kann und wem nicht. Und sie kennt Kuno. Besser als er selbst.

Es ist tatsächlich eine Geschichte, in der Martin Lenz eine einfühlsame Begegnung über den tiefen Graben der Generationen hinweg geschrieben hat. Denn wenn sich einer einigelt wie Kuno Kropke, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er genauso ein verunsicherter, lebensfremder, grantiger alter Kerl wird, wie er einem in den Abgründen der großen und der kleinen Provinz nur zu oft begegnet – vom Skandal-Geprassel der konsumierten Medien völlig überfordert, zunehmend panisch mit Blick auf die Welt, die Mitmenschen und die Jugend und die Ausländer sowieso.

Auch wenn er sich alle Mühe gibt, Verständnis zu zeigen – für Anikas rumänischen Vater, für den türkischen Müllmann, für Anikas Mama sowieso, denn ganz vorsichtig erinnert er sich daran, dass er mit Mechthild auch mal ein paar sehr verschämte Begegnungen hatte im Keller.

Natürlich gibt es auch einen ordentlichen Ermittler in diesem Krimi, Kommisar Pfitzer. Ist ja nicht der erste Krimi, den Martin Lenz geschrieben hat, auch wenn es sein erster im Einbuch-Verlag ist. 1933 in Halle geboren, hat er 1957 die DDR verlassen, war als Gymnasiallehrer in Hessen tätig. Seit 1993 ist er pensioniert und schreibt. Unter anderem auch Krimis. Krimis, in denen er seine hessische Wahlheimat zum Schauplatz macht, in denen er aber auch recht lustvoll die Charaktere seiner Ermittler zuspitzt, bis eine kleine Parodie draus wird. In diesem Fall ist der übereifrige und karriereversessene Ermittler im Team mal nicht der geschniegelte Wessi im Osten, sondern ein Thüringer in Hessen. Bei Lenz wird er für seinen Übereifer prompt bestraft.

Denn nicht nur Kuno Kropke hat eigentlich von den Verhältnissen in seiner nächsten Nachbarschaft keine Ahnung. Das hat er immer seiner Christa überlassen. Deren beste Freundin wohnt gleich gegenüber, ist Psychologin und kennt auch all die Kümmernisse der tragischen Helden in dieser Geschichte. Auch die des nun als Mörder verdächtigten Herrn Popescu, dessen Geschäftstätigkeit sich zwar als eine sehr dubiose herausstellt – aber seine Lebensgeschichte hat es in sich, und so scheint der Fall auch in die jüngere finstere Geschichte Rumäniens zu führen, erst recht, als ein zweiter Toter gefunden wird und ein dritter …

Doch während Pfitzer seine Arbeit macht und am Ende einen Mörder erwischt, mit dem sonst keiner gerechnet hat, braucht es bei Kuno ein bisschen mehr Geduld, ihm die ganze Geschichte beizubringen, bis er einigermaßen begriffen hat, was er all die Jahre nicht mitbekommen hat. Selbst Anika weiß mehr von der Welt und von ihrem komischen Onkel Kuno, als Kuno selbst. Es scheint also wirklich kein gutes Altersrezept zu sein, sich über die Welt reineweg aus Zeitungen und Abendnachrichten informieren zu wollen. Da wird man völlig närrisch, versteht aber am Ende gar nichts mehr, selbst wenn es die Journalisten versuchen, lang und breit zu erklären. Da lässt man dann die Tuja-Hecken wachsen, bis keiner mehr ins Haus gucken kann, und zieht den Kopf ein, wenn das Telefon klingelt.

Am Ende tut sich für Kuno doch noch eine völlig neue Welt auf, vor der er sich nun seit Tagen zutiefst gefürchtet hat. Doch an dieser Stelle ist Martin Lenz ein kleiner Spielverderber. Vielleicht ist auch der Kroatzbeerlikör schuld, den Kuno immer dann schnasselt, wenn ihm die Nerven durchgehen. Jedenfalls ist auf Seite 238 finito und Martin Lenz erklärt in kursiv, dass alles nur erfunden ist und keiner sich getroffen fühlen sollte, auch wenn er sich ertappt fühlt. Kann ja passieren in der hessischen Provinz. Oder anderswo. Alte, von Angst gebeutelte Männer mit dem Weltbild einer Maus gibt es überall.

Martin Lenz “Keine Schuld und keine Ahnung, Einbuch Buch- und Literaturverlag, Leipzig 2015, 13,90 Euro

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