Was kommt eigentlich dabei heraus, wenn ein Erzbischof über Familie schreibt und den gelebten Glauben in der Familie? Etwas Seltsames. Was nicht unbedingt am Thema Familie liegt. Man möchte ja dem besorgten Hirten gern zustimmen, dass Familie immer ein schützenswertes Gut sein muss. Aber erstaunlicherweise macht Heiner Kochs "Ermutigung" recht deutlich, warum die katholische Kirche beim Thema Familie derart hinterher hinkt.

Das beginnt mit der Frage nach dem Glauben. Eigentlich ist das keine Frage. Es gibt Menschen, die glauben – in durchaus verschiedener Fasson. Und es gibt Menschen, die glauben einfach nicht – nicht an Gott, nicht an Himmel, Hölle oder andere jenseitige Dinge. Die alten Griechen prägten dafĂĽr den Begriff Atheist, ein Begriff mit TĂĽcken, weil er die nicht-religiöse Sicht auf die Welt als ein Leben “ohne Gott” definierte. Das klingt einerseits wie ein Manko, weil es da auf einmal Menschen gibt, die “keinen Gott” haben, und andererseits ist es wieder eine Definition, die davon ausgeht, dass ein Leben “mit Gott” der Normalzustand ist. Und eins der Probleme, die Heiner Koch in seinem Buch zum Ausgangspunkt nimmt, ist diese durchaus falsche Sicht auf Atheisten.

Was zum Beispiel in so flapsigen Sätzen zum Ausdruck kommt, wie: “Es gibt keine ungläubigen Menschen. Der Satz, dass ein Mensch ungläubig ist, ist ein Widerspruch in sich selbst. Der Satz, dass ein Mensch ungläubig sei, ist ein Widerspruch in sich selbst. Angesichts der zentralen und alles entscheidenden Frage nach dem Ziel des Lebens muss der Mensch eine Glaubensentscheidung fällen: der eine glaubt eben, dass es Gott gibt, und der andere glaubt, dass es keinen Gott gibt.”

Und da wundern sich die Bischöfe und Erzbischöfe, dass ihnen die Schäfchen davonlaufen? Deutlicher hat lange kein Erzbischof sein Unverständnis fĂĽr all das formuliert, was auĂźerhalb seiner kleinen katholischen Welt existiert. Und es hat mit Logik nichts zu tun, Menschen, die “ohne Gott” leben, einfach zu unterstellen, sie wĂĽrden “glauben, dass es keinen Gott gibt”. Warum sollten sie das tun? Warum sollten sie ĂĽberhaupt irgendetwas glauben? Erst recht, wenn sie mit der Erfahrung aufgewachsen sind, dass man einen realistischen Blick auf die Welt nur bekommt, wenn man die Dinge studiert, analysiert, hinterfragt, ihre Gesetzmäßigkeiten herausfindet, ihre realen Ursachen und Wirkungen – und dass man vor allem gar nicht erst damit anfängt, geheimnisvolle Kräfte in die Vorgänge hineinzugeheimnissen, wenn es fĂĽr solche Dinge keine Nachweise gibt. Man nennt das fĂĽr gewöhnlich das wissenschaftliche Denken. Man kann es auch Realismus oder Agnostizismus nennen. Es ist egal: Es ist ein Leben in der selbstverständlichen Ăśberzeugung, dass die Welt auch völlig ohne groĂźen Schöpfer existiert und funktioniert.

NatĂĽrlich ist das aus katholischer Sicht eine beängstigende Welt. Aber es ist völliger Unfug, wenn Heiner Koch behauptet, dass der Atheismus “ebenfalls eine Weltanschauung ist, die der Mensch im Glauben annehmen oder ablehnen kann”. Aber woher denn? Warum sollte er das tun? Und das alles schon auf den Seiten 20, 21.

NatĂĽrlich hat das mit der ganz katholischen Ăśberzeugung zu tun, dass es ohne Glauben keine “Werteentscheidungen” geben kann. Wenn man so denkt, kommt natĂĽrlich ein völlig unlogischer Satz dabei heraus wie dieser: “Daher muss der bewusst lebende Mensch in aller Freiheit und Verantwortlichkeit fĂĽr sich eine Glaubensentscheidung in dieser grundlegenden Frage treffen.”

Das ist das Problem mit der Freiheit des Menschen (und Generationen von Philosophen haben darĂĽber trefflich gestritten), dass Freiheit nicht “muss”, wie Heiner Koch behauptet. Der Mensch kann wählen. Das macht ihn erst frei. Und er “muss” ganz und gar keine “Glaubensentscheidung” treffen. Das ist reiner Sprachballast, hinter dem sich theologische Theoretiker gern verstecken, wenn sie merken, dass die Leute da drauĂźen sich ganz und gar nicht an die religiösen Regeln halten. Zum Beispiel auch immer seltener Lust haben, kirchlich zu heiraten (unter anderem, weil Leute wie Heiner Koch betonen, dass so eine Ehe nicht geschieden werden kann), immer öfter auch gar nicht mehr heiraten, weil sie die Einmischung des Staates in ihre persönlichen Angelegenheiten fĂĽr unverschämt halten. Und ebenso erstaunlich ist Heiner Kochs Werbeaktion fĂĽr das Ehegattensplitting, das nicht das Modell Familie bevorzugt, sondern das Modell “alleinverdienender Ehemann”. Es ist ein Scheinargument, mit dem der familienunerfahrene Erzbischof hier versucht, ein Steuersparmodell fĂĽr Alleinverdiener zu promoten unter dem Aspekt von familiärer FĂĽrsorge.

Von Patchworkfamilien hält er gar nichts, hält aber die drastischen Veränderungen in der Erwerbstätigkeit in den letzten Jahrzehnten eher für eine ideologische Verirrung, nicht für eine echte Veränderung in der Verfügbarkeit von Erwerbsquellen und der wirtschaftlichen Grundlage für Familien. Es taucht am Rand sogar das Wort familienfreundlich auf. Aber solange die Kirche sich als Bollwerk für die klassische kirchliche Ehe und das Ehegattensplitting versteht, wird sie nie und nimmer Helfer in einem wirklich zähen Ringen um familiengerechte Arbeit. Sie schwebt wie ein blinkendes UFO über den Dingen und versucht die Lebensmodelle vergangener Jahrhunderte als einzig gültige Münze anzubieten.

Warum das so ist, das lässt Koch am Ende des Büchleins durchblicken: Er versteht den Familenverband vor allem als religiöse Erziehungsanstalt. Er spricht von Evangelisierung.

Dass er dabei auch gleich noch die Gender-Diskussion vom Tisch wischt und auch noch Simone de Beauvoir falsch interpretiert, passt dazu. Denn wenn er die Autorin ernst nähme, mĂĽsste er auch anerkennen, wie stark seine eigene Kirche daran mitarbeitet, Geschlechterbilder “gesellschaftlich zu konstruieren”. Dass de Beauvoir vor allem das damals tatsächlich noch finstere Frauenbild der patriarchalischen Gesellschaft des Westens angriff, kein Wort davon.

Was schade ist.

Denn wir haben an dieser Stelle schon viele BĂĽcher aus dem St. Benno Verlag besprochen, deren Autoren die gesellschaftlichen Realitäten viel klarer sahen und tatsächlich Ratgeber schrieben, wie Menschen in einer durchaus als verwirrend erlebten Gegenwart ihrem Leben einen Sinn geben können – der auch im Glauben liegen kann. Aber nicht muss. Denn selbst Heiner Koch merkt es an: Ein Wertebewusstsein kann auch auĂźerhalb des Glaubens wachsen, wächst es auch, immer auch im Widerspruch zu anderen Werten oder “gesellschaftlichen Strömungen” – und im Diskurs.

Aber wie nimmt man Diskurse auf, wenn man sich als HĂĽter der Wahrheit begreift und den permanenten RĂĽckgang von kirchlichen EheschlieĂźungen einfach als “spirituelles Defizit”, wenn’s eigentlich nur eine Absage an kirchliche Rituale ist? – Ein BĂĽchlein voller Ecken, Kanten und unlogischer Knäuel. Schade eigentlich. So weit hinten hatte man eigentlich die katholische Kirche nicht mehr gedacht. Aber irgendwie hat sie sich so in den Kampf gegen die Individualisierung verbissen, dass sie auch ihre falschen Interpretationen nicht mehr los wird. Dazu gehört auch Heiner Kochs Satz: “Der Mensch findet keinen Sinn vor, er muss Sinn und sich selbst entwerfen.”

Da ist wieder dieses tiefe Unverständnis fĂĽr den Aspekt Freiheit: Gar nichts muss der Mensch. Er hat die Freiheit, seinem Leben einen eigenen Sinn zu geben. Und Sinn-Losigkeit findet er schon gar nicht vor, im Gegenteil: Er findet eine Welt vor, in der alle Menschen, die ihm begegnen, ihrem Tun schon einen Sinn gegeben haben. Das Manko zumindest von Heiner Koch: Er erzählt von einer sinn-losen Welt, die es schlicht nicht gibt. Und auf einmal ist da ein Loch, das aus seiner Perspektive mit Glauben gefĂĽllt werden muss – oder Werten. Das kann nicht funktionieren. Nicht mal in den hier besonders angesprochenen Familien der Gläubigen. Oder gar denen, in denen sich so ein “Aggressiv-GleichgĂĽltiger” aufhält, der von Glauben nichts wissen will und die Familie auch nicht zur “Hauskirche” machen will. Aber das ist nun mal die Freiheit: Wenn es der eine nicht will, kann der andere nicht mit dem Kruzifix drohen. Höchste Zeit also, dass auch die Erzbischöfe mal anfangen, ĂĽber die kostbaren GĂĽter Familie, Ehe, Partnerschaft anders nachzudenken. Vielleicht sogar von innen her. Und so wĂĽnschen wir uns an dieser Stelle ganz laut: Der Papst möge seinen Bischöfen endlich das Heiraten und Kinderkriegen erlauben.

Wetten, dass sie dann alle ganz andere BĂĽcher ĂĽber das Thema Familie schreiben?

Das Buch enthält mehrere Artikel und Predigten, die Heiner Koch schon in seiner Zeit als Bischof von Dresden-Meißen von 2013 bis 2014 geschrieben hat. 2015 wurde er von Papst Franziskus zum Erzbischof von Berlin berufen.

Erzbischof Heiner Koch Keiner glaubt allein. Ermutigungen fĂĽr Familien, Benno Verlag, Leipzig 2015, 9,95 Euro.

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Es gibt 7 Kommentare

Die eigentliche Tragik ist doch die, das demnach der Mensch im “Jetzt und hier” immer verloren ist.
Die Wissenschaft, weiß nichts, sie, wie der Name verrät, schafft erst ihr Wissen. Hängt zwangsläufig immer hinterher.
Bliebe die “historischer Erfahrung”. Doch auch diese muss erst gemacht werden und das jeweilige “hier und jetzt” ist schon vorbei.

Die Rezension finde ich übrigens nicht so prägnant;
der aufscheinende Standpunkt des Rezensenten ist irgendwo in den tiefen 1960ern zu verorten.

Der alte Kampf zwischen Wissenschaft und Religion/Ethik ist längst entschieden. “Die Wissenschaft” (besser: die Vernunft) kann keine Ethik begrĂĽnden, das geht nicht. Ethik oder Moral mĂĽssen sich aus anderen Quellen speisen, meinetwegen aus göttlicher Inspiration oder – was viel eher passiert – aus historischer Erfahrung. Die Allgemeinen Menschenrechte halte ich fĂĽr ein ganz starkes Beispiel.

>Trotzdem halte ich den Text fĂĽr authentisch.
Authentisch für die römisch-katholische Kirche?! Da liegen Sie mal ganz locker falsch.

Und die Nachrichtenagentur Idea kommt von der evangelikalen Seite, die in der EKD zwar akzeptiert, aber (sehr) kritisch beäugt wird.

(Die EKD ist, was die innerkirchliche Meinungsvielfalt angeht, um Welten toleranter als die römisch-katholische Kirche; neben den Evangelikalen gibt es noch eine ganze Menge anderer Gruppierungen mit… sagen wir.. “entschiedenen” Ansichten.

Man merkt sehr deutlich, dass Sie sich kaum auskennen. Sie verwechseln bei beiden groĂźen Kirchen die Randgruppen mit dem Mainstream.

Nach Ihren “Christizisten” musste ich auch erst googeln – und lande durchaus auf merkwĂĽrdige Seiten…

Naja, jedenfalls gehört Heiner Koch in keine von irgendwelchen “Ecken”, seine Ansichten sind fĂĽr den katholischen Mainstream nichts Ungewöhnliches.

Ăśber kath.net bin ich mir schon im klaren. Trotzdem halte ich den Text fĂĽr authentisch.
Im verlinkten Artikel wird auch die Quelle erwähnt, nämlich die evangelische Nachrichtenagentur Idea.

Diese wiederum wird von der EKD ausdrücklich als ein Bestandteil der evangelischen Publizistik betrachtet und erhält von ihr finanzielle Unterstützung.

Ă„h, Dominik, das Portal “kath.net” gehört zu den extremeren Glaubensportalen (so wie “kreuz.net”), sozusagen “Evangelikale auf römisch-katholisch”, und sind keinesfalls Portale der römisch-katholischen Kirche selbst.

Das merkt man schon der von Ihnen kopierten Textstelle an (auf “feministisch-verschwult” kommen nur solche Leute). Das gehört in die gleiche Kategorie von Krawallmachern wie pi-News usw.

“Wenn in Amerika die bibeltreuen FlĂĽgel innerhalb der traditionellen Kirchen wachsen und die linken, feministisch-verschwulten FlĂĽgel schrumpfen; wenn in Afrika, Asien und Lateinamerika das Christentum explosionsartig wächst und bereits unsere Nachbarländer mit seinem Enthusiasmus ansteckt, dann werden auch wir eines Tages von dieser Welle erfaĂźt werden.”

Nein, dieses Zitat stammt nicht von Erzbischof Heiner Koch, der doch eher ein gemäßigter Vertreter seiner Zunft zu sein scheint.

Es kommt aus dem einem Interwiev des von Ihnen, Herr Julke, hier in der L-IZ schon mehrmals äußerst wohlwollend rezensierten Ex-Springer-Journalisten und Hardcore-Christizisten Uwe Siemon-Netto:
http://www.kath.net/news/8064

Wie passt das eigentlich zusammen?

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