Eckehard Schulreich war es, der vor Jahren für seinen Lieblingsortsteil Lößnig loszog und die bekannten und nicht ganz so bekannten Bewohner des zuweilen fast vergessenen Ortes porträtierte. Als "Lebensbilder" erschienen die Porträts dann bei Pro Leipzig. Ein echtes Stück lokaler Stadtforschung. Da machen wir weiter, fand Pro Leipzig, und legte auch noch Lebensbilder aus dem Leipziger Südwesten vor.

Hier war es Andrea Nabert, die sich seit 2012 der Aufgabe widmete, mit den zumindest lokal bekannten Persönlichkeiten zu sprechen, ihre Erinnerungen und Lebensgeschichten aufzuzeichnen. Solche Persönlichkeiten haben alle Ortsteile. Sie prägen das Bild, sind den meisten Bewohnern bekannt. Sie sind der Pfarrer im Ort, der Bäcker und der Autohändler, sorgen als Künstler, Sportler, Imker für Hingucker und Aufreger. Und in den vier Ortsteilen im Südwesten kommt natürlich noch hinzu: Hier hat sich noch dörfliche Atmosphäre erhalten. Hier ist man weniger anonym als drüben, “vor den Pappeln”. Wer hier alt geworden ist, hat meist auch seine Kindheit hier verbracht. Einige Familien gehören als Bäcker, Händler, Gärtner seit Generationen zum Ort, können tief in die Schatzkiste der Familienalben greifen und auch noch Persönlichkeiten wieder in Erinnerung rufen, die vor 100 Jahren das Geschehen im Dorf dominierten. In diesem Band exemplarisch erzählt am Beispiel des Baumeisters Robert Gleitsmann.

Auf den ersten Blick sind es scheinbar ganz normale Schicksale. Die eine wird Kinderärztin, die andere Friseuse. Einer will unbedingt eine eigene Autowerkstatt, der nächste will sich ein Häuschen bauen – beides übrigens in DDR-Zeiten ein echtes Abenteuer und ein Kampf gegen die sozialistisch-bürokratischen Mühlen. Und gegen den Materialmangel in einem Land, das sich den Mangel mit bürokratischer Bevormundung regelrecht selbst organisierte. Auf einmal werden so die Um- und Irrwege der Zeit sichtbar und die Purzelbäume, die so Mancher wagte, um doch noch irgendwie seine Vorstellung vom Leben zu verwirklichen.

Und selbst für diese Zeit wird sichtbar, wie wichtig die selbstständigen Handwerker auch damals waren, damit der Laden überhaupt noch lief. Oft verausgabten sich die alternden Meister in ihrem kleinen Geschäft, hielten durch, so lange es ging, und hielten auch noch die Uralt-Maschinen aus den 1930er Jahren am Laufen. Oft stiegen dann Söhne und Töchter ein in den Betrieb, bewahrten den Orten im Südwesten ihr eigenes, selbstbewusstes Flair. Und hatten dann selbst zu kämpfen, wenn etwa der Tagebau nebenan nicht nur das Mikroklima von Hartmannsdorf zerstörte, das den Ort zum Blumengarten Leipzigs gemacht hatte, sondern auch noch das Wasser abpumpte. Da mussten sich die Gärtner so einiges einfallen lassen zwischen den staatlich vorgegebenen Quoten und der Sicherung des Geschäfts.

Wobei auch in diesen Porträts hier die Zeit nach 1989 nicht zu kurz kommt, denn für so manchen Handwerksmeister bedeutete die Zeit danach nicht unbedingt die Rettung, denn auf einmal war ja neue Konkurrenz da – produzierte billiger, besetzte die strategischen Verkaufsflächen. Mancher wagte dann ganz Großes – wie Günter Heil, der sich mit seinen Autohäusern im ganzen Südwesten einen Namen machte – und am Ende an der Konzernstrategie eines Autoherstellers scheiterte. Nicht ganz. Das ist fast typisch für diese Porträts: Diese Bewohner des Südwestens lassen sich nicht einfach unterkriegen, boxen sich durch, stehen wieder auf, probieren Neues.

Eigentlich unterscheiden sie sich damit nicht so sehr von den innerstädtischen Leipzigern. Doch hier am südlichen Ende der Dieskaustraße verflechten sich die Schicksale, mündet die Geschichte, die der eine erzählt in die Kindheitserinnerungen des anderen. Und gerade die Älteren bewahren noch die Erinnerung daran, wie hier zwei Mühlen am Werk waren und sieben Bäcker praktisch in Sichtweite nebeneinander existierten. Und da der größere Teil der Gesprächspartner von Andrea Nabert doch schon im höheren Alter ist, spielen auch die Erinnerungen an die “frühen Jahre” eine große Rolle.

Auch das wird oft vergessen: Dass auch die Leipziger “Dörfer” zu Beginn des letzten Jahrhunderts nicht wirklich reich waren. Auch das Leben der dort lebenden Selbstständigen und Angestellten war oft von Knappheit geprägt. Man hatte das Nötigste und vermisste auch den Luxus nicht, den wir heute kennen. Das macht viele dieser Kindheitserinnerungen sehr lebendig, greifbar und irdisch. Werden sich die Kinder von heute auch einmal so herzhaft erinnern können an schneereiche Winter, wilde Tauchscher, die Versorgung der Tiere auf dem Hof, das Baden im Hochbassin, das Helfen bei der Kornernte, das Ernten von Erdbeeren?

An das karge Leben nach dem Krieg müssen sie sich zum Glück nicht erinnern, auch wenn diese Zeit des Darbens, der provisorischen Wohnungen, des ärmlichen Beginns viele ältere Einwohner geprägt hat. Genauso wie diese Aufbruchstimmung, die es auch in den frühen Jahren der DDR gab und die dann irgendwann einer lähmenden Gleichgültigkeit wich. Daran sind die neuerlichen Verstaatlichungen der 1970er Jahre nicht ganz unschuldig. Statt das Land zu durchlüften und all den Menschen mit ihren blühenden Vorstellungen vom Leben Mut zu machen, wurden sie reguliert, abserviert, umgelenkt und ausgebremst. Wer das mal studieren will: So macht man ein Land und eine Idee kaputt.

Aber die Lebensgeschichten zeigen natürlich auch, wie viel Kreativität, Beharrungsvermögen und Einfallsreichtum Menschen aufbringen, wenn ihnen eine Sache wichtig ist im Leben. So werden die vier Orte in der Betrachtung zu einem kleinen Biotop, in dem das Große sich spiegelt, ohne dass das Besondere, Eigentümliche verloren geht, das diese vier ineinander übergehenden Ortschaften bis heute auszeichnet. Für “Großstädter” ganz bestimmt gewöhnungsbedürftig – hier kennt man sich noch. Hier fällt es noch auf, wenn ein Maler ein altes Geschäft in ein Künstleratelier verwandelt oder eine Familie aus einem summenden Hobby aus DDR-Zeiten (ohne dass die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften dennoch nicht auskamen) eine richtige Bienen-Farm gemacht hat.

Da und dort schwingt die Trauer mit, dass alte Betriebe keine Nachfolger mehr finden. Man ahnt ein wenig, warum heute gerade die dörflichen Regionen auszubluten beginnen und wie wichtig eigentlich immer die kleinteilige Wirtschaft war, um hier das Leben in Gang zu halten und die Schulen mit quirligen Kinderscharen zu füllen. In jeder Ortsgeschichte wird so die enge Verzahnung von Demografie und Wirtschaftsgeschichte sichtbar. Vielleicht gelingt es den Kindern und Enkeln, sich und ihren Ort neu zu erfinden. Denn zurückkehren in die alten Wirtschaftsweisen kann man ja nicht. Man muss sich immer wieder was Neues einfallen lassen.

Aber was das sein wird, das weiß ja noch keiner. Allein die Verwandlung alter Mühlengebäude in hübsche Wohnungen wird es nicht sein. Allein von der Vergangenheit kann man nicht zehren. Aber da viele der hier porträtierten Familien mit eigenem Haus und Hof fest im Ort verankert sind, wird den Kindern gar nichts anderes übrig bleiben, als sich was einfallen zu lassen. Auch gegen die Trends der Zeit. So sind die nunmehr drei Bände “Lebensbilder” aus dem Südwesten auch eine Art Bestandsaufnahme an einer Bruchkante der Zeit. Was gewesen ist, lässt sich schon kompakt erzählen – was noch kommt, weiß nicht mal der Wind.

Andrea Nabert “Lebensbilder aus Knauthain, Knautkleeberg, Hartmannsdorf und Rehbach. Band 3”, Pro Leipzig, Leipzig 2015, 14 Euro

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