Man kann nicht sagen, dass der Leipziger Dichter Thomas Böhme nicht präsent ist. Aber es geht ihm als Dichter wie anderen Autoren in diesem Genre auch: Man muss ihn suchen im Lyrikregal (wo er nicht immer steht) oder in den kleinen, fachkundigen Buchhandlungen, in denen Lyrik und insbesondere Lyrik aus hiesigen Regionen noch gepflegt wird. Und dabei ist er so produktiv wie kaum sonst einer von den Dichtern in diesem Land.

Denn Gedichte sind – selbst wenn er auch immer wieder mit Prosa agiert – seine Art, seine Welt greifbar zu machen. Wo andere Lexika schreiben und Wörterbücher, legt er Gedichtbände vor, die die ganze Schönheit alter Worte und Begriffe sichtbar und hörbar machen. Natürlich kann und sollte man das alles lesen, auch laut lesen. Denn da hört man dann auch, wie unsere Sprache klingt. 2012 hat er in „101 Asservate“ in zutiefst melodischer Prosa 101 alte Worte regelrecht wieder aus dem Vergessen geholt, zum Leben erweckt und gepriesen, Worte, die manchmal noch durch unseren Alltag irren, heimatlos geworden, vom Aussterben bedroht – wie Kauderwelsch, Räuberzivil, Schindluder oder Schnippchen. Das war ein Buch wie ein großes Plädoyer dafür, dass man die Tiefe und Bildhaftigkeit unserer Sprache nicht verschenken, nicht preisgeben darf. Niemals.

Und eine Fallstudie im gleichen Sinn war auch sein 2010 im Poetenladen vorgelegtes Buch „Heikles Handwerk“ – das eigentlich die Handwerkskammer in kompletter Auflage hätte aufkaufen sollen – fürs eigene Archiv und als präsentables Geschenk, denn hier hat Böhme noch einmal lauter Berufe besungen, die teilweise schon verschwunden sind, einst aber die ganze Vielfalt handwerklicher Welten ausmachten – vom Besenbinder bis zum Kerzenzieher, vom Seifensieder bis zum Ofensetzer. 2011 holte dann die Connewitzer Buchhandlung auch den Böhme-Klassiker von 1983 wieder ans Licht: „Mit der Sanduhr am Gürtel“, das Buch, mit dem Böhme den Sound der Beatniks in die kleine, welthungrige DDR holte. Die Leser haben seine Gedichte verschlungen.

Und wo man gerade noch dachte, jetzt ist der 1955 Geborene eigentlich voll beschäftigt, alte Worte zu retten und in eindrucksvollen Lyrikbänden dauerhaft zu bewahren für all die Leser, die künftig voller Neugier sind auf das, was wir gerade so eifrig vergessen, verlassen, verlieren, da hat er augenscheinlich – so nebenbei und doch selbstverständlich – einfach weiter Gedichte geschrieben, die nicht zu einem Projekt gehören, sondern – wie damals, vor vielen Jahren – Lebensgedichte sind, Tagesgedichte, die unablässigen Versuche, das Verstörende, Störende, Bedrängende zu fassen, das Welt und Tag und Stunde für ihn ausmachen.

Und so liegt dieser Band nun in Neongrün vor (obwohl er wohl eigentlich in saftigem Leipziger Buttergelb geplant war) mit abgesoffenen Schornsteinen und abgestorbenen Bäumen in einer schwarzen Brühe, einem typischen Miriam-Zedelius-Bild, wie es für den Poetenladen längst Markenzeichen ist. Und drinnen stecken Gedichte, die Böhme von 2006 bis 2015 geschrieben hat. Gedichte, die nur vage verraten, dass sie Tagwerk sind. Da und dort gibt es die stillen, tiefbrüstigen Seufzer, denn auch in Böhmes Alter hat man zu tun mit der Liebe, dem Vertrauen, dem Verlieren, den Wehwehchen von Kopf, Herz und Blutkreiskauf. Das vermischt sich. Andere machen an solcher Stelle medizinische Staun-Poesie. Bei Böhme hat sich eigentlich seit der „Sanduhr am Gürtel“ nichts geändert – außer dass die Sanduhr mittlerweile streikt und nicht mehr rieseln will. Denn damals war es sein Markenzeichen, all die dichten Botschaften, Zeichen, Gerüche, Lieder, Assoziationen seines Lebens in sauber durchkomponierte Texte zu packen, in denen die Post abging, die Dinge permanent in Bewegung waren und alles floss. Genau so, wie es Heraklit vor 3.000 Jahren gemeint haben muss, als er sein „panta rhei“ sprach.

Wer das damals Verfügbare las, dem war dieses „panta rhei“ gegenwärtig. Es war der Sound der Vor-Zeit, denn eigentlich waren ja die Beatniks in den 1980ern schon tot erklärt von den ewig vom Allerneuesten Besessenen im Westen, die gar nicht begreifen konnten, dass zur selben Zeit die lebenshungrigen jungen Leute im Osten im Parka, mit langen Haaren und Jack Kerouacs „On the Road“ in der Tasche durchs Land tigerten und von Musikern schwärmten, die westwärts schon als nicht mehr up to date galten. Jimi Hendricks, Neil Young, Bob Dylan.

Das fehlt heute fast alles, wenn der Osten rezipiert wird und sein Widerstand und sein Abhandenkommen. Es fehlt aber auch in der Selbstvergewisserung dieser Stadt Leipzig, die ihre christliche Widerständigkeit feiert, die lebendige Widerständigkeit ihrer Beatniks, Rocker, Dichter und Musiker aber einfach ignoriert. Als hätte es sie nie gegeben.

Dabei hat Böhme (ganz ähnlich wie Grüneberger) eine „Lanze für Leipzig“ gebrochen, das andere Leipzig, das sich mit dem Sound des weiten Westens gegen die Enge, Kleinkariertheit und Kleinbürgermentalität wehrte, das auch in heruntergekommenen Straßen, im Ruß der Kohleschlote seine Widerständigkeit und seine Lebenslust bewahrte. Und da ist man schon mittendrin in diesem Band. Denn Manches ist natürlich Wehmut. Erinnerung an eine Zeit, als man noch – alle Sinne offen für neue Begegnungen – in Bäder pilgerte, in denen man hinterher vielleicht etwas befleckter wieder ans Licht kam, als man vorher in die Brühe stieg. „Braunkohlensommer“ eben – im Süden der Stadt rauchten die Schlote. Aber wo, wenn nicht hier, wollte man jung sein?

Und: Es bleibt unabgegolten. Für immer. Man glaubt es nicht, wenn man jung ist, dass alles, was man bekommt, immer nur ein Geschenk für eine gewisse Zeit sein wird. Und dass der Hunger nach mehr, dem ganz Erfüllten, immer bleiben wird. Auch als rastloses Gefühl, das den Ältergewordenen umtreibt und immer wieder zur Spurensuche zwingt. Und damit steigt Böhme in diesem Band eigentlich ein. Denn mit den Beatniks hat er auch gemein: Er ist ein passionierter Fußgänger, erkundet nicht nur die polierte Stadt, sondern auch augenscheinlich die vergessenen Regionen, traut sich in die Nähe alter, abgewrackter Fabriken, verlassener Schutthalden, abgekoppelter Landschaften. Zeiten überlappen sich. Das Vergangene ist im Jetzt gegenwärtig. Aber das Jetzt ist keine blühende Landschaft, sondern eine in Frost und Grau erstarrte, fast zeitlose. Menschenleer, nur die Vögel flicken unverdrossen ihre Nester, „als sei, Herr, das Schlimmste bereits überstanden“. (Bei Böhme eigentlich nicht erwartet, aber Rilke wird tatsächlich zitiert.) Auch das weiß man nicht: Sind das reale Landschaften oder erinnerte? Hat hier ein altes Verlorensein überlebt oder sind es nur die Gedanken, die noch einmal alte Folien aufrufen?

Quasi im „Namenlos verirrt“. So wie im Gedicht „Im Niemandswo“. Hier umwandert einer sein Gefühl der Ortlosigkeit. Später, in jenem Bündel von Gedichten, in denen Böhme Begegnungen berührt, diese kurzen Momente im Leben, da so etwas wie Partnerschaft denkbar ist, lässt er anklingen, wie sehr sich das alles verwebt – wohl nicht nur für Dichter. Aber die sprechen es aus, wo andere nur unwirsch in den Tag gucken: „Das Grau solcher Tage / in denen kein Du uns erlöst / gehört zu den Mischfarben / in denen Phantomschwärze überwiegt“. („Prekäre Tage“)

So lebt man in einer anderen Welt, in der Bilder auch immer Gefühle sind. Und Kollegen viel wichtiger, als die Leser oft ahnen. Das wird spürbar, wenn Böhme nicht nur Gedichte für Lasker-Schüler oder August Stramm schreibt, Wahlverwandte und Vertraute über die Zeiten hinweg, sondern auch auf Dichterkollegen, deren Tod ihn tief berührt – Wolfgang Hilbig, der 2007 starb, und Adolf „Eddie“ Endler, 2009 gestorben. Für einen wie Böhme immer Gesprächspartner. Zu Hilbig schreibt er: „Die Finsternis / hat ihre zärtlichste Stimme verloren.“ Er weiß noch, dass es auch vormals immer die Dichter waren, die beschrieben haben, was wirklich war, die das Menschliche anmahnten und das Irdische. Selbst dann, wenn ihre Landschaften imaginiert schienen (und solche Landschaften, wie Böhme sie jetzt beschreibt, gab es auch bei Endler – damals, als die Metapher vom erstarrten, wintervereisten Land von allen verstanden wurde).

Umso frappierender, dass Böhme das wieder aufgreift und zeigt: Es gibt diese Landschaften immer noch. Sie liegen wie eine Malschicht unter den Nachrichten des Tages, die der wandernde Dichter eher mit Staunen aufnimmt: Aschewolken, die den Flugverkehr über Europa lahm legen, Saharawinde, die im September rötlichen Staub in die Städte tragen, das Hochwasser, das endlich abfließt aus den Kellern, Momente des Irrealen, die scheinbar nicht zu passen scheint in die saubere Hektik der Zeit.

Aber unverkennbar in diesen Gedichten: Der Mann lebt in einer eigenen Zeit, die anders abläuft, dichter, schwerer, nachdenklicher. Und durchlässiger für das Märchenhafte, das gleich mehrfach zur Sprache kommt – auch in einem fast fröhlichen Gedicht auf die beiden Knaben Jacob und Wilhelm im Wald. Tatsächlich sind viele Texte auch ein Plädoyer, wieder Phantasie lebendig werden zu lassen in einer phantasielos geworden Zeit. Denn was wir als „Informationsflut“ bezeichnen, ist ja nur eine Vertreibung der Phantasie aus unserer Welt durch Geschrei, Wichtigmachen und in Schlagzeilen gepackte Panik. („Zeilen, die schlagen“). Was wir verlieren, beschreibt Böhme in bildhaften Sätzen. Denn alles ist Verwandlung. Und wer genau hinschaut, merkt, warum unsere Vorvorderen begannen, Märchen zu erzählen, um die Welt greifbar zu machen: „In diesem närrischen Sommer / als die Flüsse über die Ufer traten / um sich nur drei Wochen später / in Rinnsale zu verwandeln …“ („Im Netz“)

So verortet man sich anders, will und muss auch nicht mehr Recht haben über alles. Denn alles ist vergänglich. In jedem Moment des Glücks steckt schon der Verlust. Die Bäume kehren in die Wälder zurück. Der Krieg ist gegenwärtig, war es ja auch in diesen letzten Jahren mit eindrucksvollen Büchern. Und so lagern sich die Zeiten ab in Böhmes Gedichten: „Brombeerzeit (August 1916)“, „Endstation Brest“. Natürlich läuft er nicht nur zu Fuß, beschreibt auch Reisen in den hohen Norden oder in das Italien des Luchino Visconti. Da wirft einer die Zitate, Bilder und Zeichen seines Lebens nicht fort, sondern nimmt sie auf in den Strom seiner Texte. „Öffnung der Almanache“ heißt das Kapitel, in dem er zeigt, wie das Erinnern sich einwebt in das Heute – und das auf eine dichte, zuweilen traumhafte Art. Die sich deutlich unterscheidet von der medial geübten Abarbeitung der Geschichte. Man kann es auch als immer neue Irritation lesen, wie platt anderswo das Vergangene aufgetafelt wird und wie wenig das mit dem tatsächlichen Leben im Jetzt&Nochimmer zu tun hat. Da können andere die Fassaden immer neu übertünchen – zumindest die Dichter vom Schlage Böhmes wissen, dass nichts wirklich verschwindet. Und dass die Landschaften, auch wenn sie wie Niemandswo wirken, voller Gerümpel, Erinnerung, Plüsch & Plunder („Innehalten“) stecken. Man kann das ignorieren. Aber dann kommt in der Regel heraus, was im letzten Text in den Band hineinpoltert: „Mein Blick fällt auf Schlagzeilen / die sich zu Schlägen verdichten / ehe sie sich als Brauchtum entpuppen“. („Wie vermeidet man Panik?“)

Manchmal kommen die alten Wörter einfach wieder an die Oberfläche geploppt. Und es ist nicht mehr das eigene Wareinmal, das sich auf einmal wieder mit Sumpfgeruch bemerkbar macht, sondern das der anderen, das der (gedankenlosen) Schlagzeilenmacher. Brauchtum eben. Schneller Trost: „Die Hunde sind angeleint, lese ich. / Auch die Kinder sind angeleint.“ („Wie vermeidet man Panik?“)

Man könnte über diesen Böhme auch schreiben: „Keine Angst, er beißt nicht.“ Nein. Er sagt es viel farbiger, manchmal fast versteckt, verortet in Bilder, die so dicht sind, dass man den Herbst riecht, den Sommer spürt, das Lärmen von der Straße oder vom Ufersteg hört. Und trotzdem weiß, dass jedes fallende Blatt vom Baum auch ein Ziffernblatt ist. Aber warum noch extra beschleunigen, um mit den “Krämerseelen”, die immerzu jammern, mitzuhalten? – „Wenn dich Idioten mit Lichthupe überholen / geh vom Gas runter, schieb das Rad!“ („Schwellenangst“)

Thomas Böhme “Abdruck im Niemandswo. Gedichte”, Poetenladen, Leipzig 2016, 17,80 Euro

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