Manchmal ist es eine kleine, ziemlich vernünftige Idee, die sich dann im Leben eines Verlegers zu einer richtig erfolgreichen Sparte mausert und einen Mann wie Mark Lehmstedt wohl mit der Zeit zum Karl Baedeker der Gegenwart macht. Dabei fing das mal mit einem Stadtführer für Leipzig ganz unscheinbar an. Und nun erobert er schon die Schweiz.

Was eigentlich so nicht erwartet werden konnte. Denn der Markt der Reiseführer ist ja prall gefüllt. Auch mit den modernen Baedekerbüchlein, die die 1828 von Karl Baedeker gegründete Tradition bis heute fortsetzen. Wer seinen Baedeker kauft, weiß, was er zu erwarten hat, was wo steht, und hat am Ende natürlich das Gefühl, alles Wichtige gesehen zu haben. Manch gewitzter Kopf merkte ja auch schon an, erst mit Baedeker würde man hinterher wissen, was am besuchten Ort wichtig war. Die Auswahl schafft einen Kanon, gegen den selbst millionenschwere Marketing-Budgets in den besuchten Städten und Landschaften nicht ankommen.

Mark Lehmstedt aber reagierte mit seinen schmalen Stadtführern auf einen Trend: den modernen Städte- und Kulturtourismus, der nicht mehr von einem zu absolvierenden Pflichtprogramm dominiert wird, sondern vom Individualismus der Reisenden, die oft nicht mehr als einen Tag zur Verfügung haben, um eine Stadt zu erkunden. Da ist dann meist auch ein Baedeker zu viel, man braucht es noch kompakter, am besten mit einer empfohlenen Wegroute, die man zu Fuß am Morgen beginnt und am Abend geschafft hat – mit allen wichtigen Sehenswürdigkeiten, die sich so an einem Tag erlaufen lassen, vielleicht mit dem einen oder anderen Museumsbesuch unterwegs oder einem Aufstieg auf hohe Türme. Der erste Versuch mit Leipzig funktionierte bestens, die Serie eroberte im Lauf der letzten Jahre Dutzende deutsche Städte und Inseln. Denn in Weimar, Wetzlar oder Augsburg geht es einem ja genauso: Man muss das Herz der Orte wenigstens einmal gründlich durchwandert haben, dann hat man die notwendige Orientierung. Selbst wenn man ein paar Tage mehr bleibt, weil man sich die Museen doch lieber etwas länger zu Herzen nimmt oder einfach auch mal in den schönsten Cafés und uralten Wirtshäusern tafeln möchte.

So ein klein wenig drängte da eben doch auch so ein „XY an einem Tag“ zum Längerverweilen, zu mehr als nur einer Route. Mit dem Sprung über die deutsch-schweizerische Grenze wird auch dieser Qualitätssprung getan. Dieser Stadtführer für Zürich ist schon doppelt so dick, hat eine wesentlich längere Einleitung zur Stadtgeschichte und besteht aus zwei Tagestouren: links der Limmat und rechts der Limmat. Sozusagen: „Zürich an zwei Tagen“.

Wobei: Es dürften für wirklich kulturbeflissene Reisende trotzdem noch mehr Tage draus werden, denn auch mit diesen beiden reich mit Sehenswürdigen, Abschweifen und Zeitfenstern gespickten Rundgängen kommt man nur in flottem Schritt mal kurz vorbei an Orten, die für manche Leute allein schon ein lohnendes Reiseziel sind. Denn Zürich, das ist Reformation mit Zwingli, das ist Revolution mit einem gewissen Lenin, das ist (gescheiterte) Revolution und sichtbare Architektur mit Gottfried Semper, das ist Dada samt „Café Voltaire“, das ist Thomas Mann, Gottfried Keller und James Joyce, das ist Elias Canetti und „Pfeffermühle“ mit Erika Mann und Therese Giehse. Man könnte neidisch werden.

Aber natürlich hat diese Ballung der Eigensinnigen einen Grund, der in der langen Geschichte der eidgenössischen Schweiz liegt, in der Reformationsgeschichte und der früh gewählten Neutralität, die so gern belächelt wird, oft auch – in Bezug auf das Verhalten der Schweiz gegenüber den aus Deutschland flüchtenden Juden – kritisiert. Aber diese Neutralität bot auch Schutz für andere Flüchtlinge (man denke nur an Georg Büchner) oder die Freiheit des aufklärerischen Denkens (natürlich begegnet man hier Gessner, Bodmer und Lavater). Und sie bot die Freiheit der unabhängigen Berichterstattung, wie sie in der 1780 von Salomon Gessner gegründeten (Neuen) Züricher Zeitung bis heute manifest ist. Und hier fühlten sich die besten Köpfe der Schweizer Literatur zu Hause – von Keller und C. F. Meyer bis zu Max Frisch.

Und natürlich wundert sich nicht nur die Autorin, wie das zusammenging. Denn Zürich – das war nach Zwingli auch regelrecht strenge, allen Ausschweifungen und aller Verschwendung abholde Reformation. Es muss kein sehr farbenfrohes Leben gewesen sein in diesem Zürich der Zwingli-Zeit, in dem tatsächlich das heutige, von Reichtum und Banken dominierte Zürich geboren wurde. Strenger Kaufmannsgeist und strenger Protestantismus – das war mal eins. Ein teures Pflaster. Man sollte sich schon ein bisschen was zurücklegen, wenn man in Zürich mal ein paar Tage Urlaub machen will. Aber man begegnet nicht wirklich einer asketischen Stadt. Selbst Zwingli fiel nach seinem gewaltsamen Tod ein paar Jahrhunderte dem Verleugnen anheim. Mit dieser Strenge konnten sich selbst die Züricher nicht anfreunden. Sie haben den Burschen erst wieder aus der Versenkung geholt, als sie seine Arbeit als Reformator und als Mitbegründer der modernen Schweiz zu würdigen wussten.

Dabei sieht man in Zürich da und dort auch ganz alte Spuren, vorschweizerische eigentlich – von alten Familientürmen über Reste der einstigen römischen Siedlung Turicum bis hinein in die keltische Siedlungszeit, denn hier siedelten die Menschen auf Pfahlbauten am Zürichsee schon, da hatten die Römer noch nicht mal eine Republik ausgerufen. Und im 9. Jahrhundert blühte die Stadt im Oströmischen Reich wieder auf. Man bekommt also eine Art Stadtpackung mit einigen Jahrhunderten Baukultur durcheinander, einiges davon – wie die Bauten des Stadtarchitekten Gustav Gull – geradezu befremdlich. Aber wahrscheinlich braucht man das beim Reisen, um wirklich das Gefühl zu haben, mal richtig weg von zu Hause zu sein: Gebäude, die einen regelrecht verwirren, weil zu Hause kein Mensch je auf so eine Idee gekommen wäre, so etwas in die Stadt zu setzen wie die Urania-Sternwarte oder das Hauptgebäude der Universität.

Aber warum sollte man auch wegfahren, wenn man immer nur das Vertraute sucht? Auch wenn man Vertrautes findet, denn von Keller her kennt man ja ein Stück von diesem Zürich. Und ein Stück kennt man auch von Thomas Mann aus seinem „Felix Krull“. Die Alpen kennt man auch. Hier kann man sie gleich mit Seepanorama bewundern. Von den Bähnlis, die hier im steilen Winkel die Berge hochfahren, hat man schon gehört, genauso wie vom Studenten Albert Einstein, der es mit dem Vorlesungsbesuch nicht so ernst nahm. Lieber setzte er sich in einen der schönen Biergärten und dachte sich was über das große Funktionieren der Welt. Das Züricher Geld hat er dann zum Glück nicht eingebaut in seine Relativitätstheorien, obwohl einen das überhaupt nicht überrascht hätte, wenn sich Masse nach einem kurzen Impuls als Energie einfach mal in Schweizer Franken verwandeln würde und sich irgendwo an der Züricher Bahnhofsstraße auch noch ein kleines physikalisches Zeitfenster auftäte, durch das man kurzerhand bis zum Mittelpunkt des Universums gucken könnte.

Das Abenteuer Zürich lohnt sich also, gerade dann, wenn man mit all den Berühmten sowieso auf vertrautem Fuß steht und ihren Spuren folgt, auch wenn man dabei immer wieder in der Spiegelgasse landen sollte, angelockt von diesem Geruch nach leichter Rebellion, die so gar nicht zu den heutigen Schweizern zu passen scheint.

Stephanie von Sesenheim Zürich. Ein Stadtführer, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2015, 8,95 Euro.

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