Mit Krimis kennen sich beide aus; Ethel Scheffler und Sylke Tannhäuser. Und einige Geschichten in diesem Band gehen genau so los, wie man sich den Anfang einer kleinen Tragödie vorstellt. Man wartet regelrecht darauf, dass es passiert. Doch die beiden Autorinnen aus Leipzig machen es diesmal ganz anders. Ist ja Weihnachten, dieses brenzligste aller Feste.

Und Weihnachten passiert ja eine Menge. Nicht nur in hektischen Großstädten oder am Rand unserer Welt, wo in der Regel die üblichen Katastrophen einfach weitergehen. Auch hier, in diesem seligen Sachsen, das sich gern als deutsches Weihnachtsland verkauft. Eine Idylle, die – wie man weiß – trügt. Nicht nur, wenn es um rechtsradikale Brandbeschleuniger geht, überforderte Polizisten, erzürnte Besorgnisrentner oder einen Ministerpräsidenten, der sich immer christlich wegduckt, wenn es um Verantwortung geht. Die Idylle trügt auch in den ganz und gar nicht so friedlichen Familien im Land.

Scheffler und Tannhäuser haben wirklich einmal Weihnachtsgeschichten gesammelt, solche, wie sie ganz normale Bewohner dieses Landes heute erleben. Einige stammen auch aus ihrer eigenen Lebenserinnerung, Vieles bestimmt aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis. Manches liest sich auch wie eine gut erfundene Anekdote. Aber es ist egal. Es wird nicht heimelig.

Tatsächlich sind es typische Geschichten von heutiger Weihnacht, die für alle Beteiligten in der Regel jede Menge Stress, Frust, Verzweiflung und Familienzoff bedeutet. Das Fest der Feste ist zum Leistungstest geworden, bei dem Nachbarn in kleinen Provinzstädten um das am grellsten beleuchtete Haus kämpfen, Mütter und Väter nach Feierabend durch überfüllte Warenhäuser drängen, um ihre Lieben zum Fest mit teuren und unverwechselbaren Geschenken zu überschütten, arbeitslos Gewordene sich als Weihnachtsmann verdingen … alles nicht ganz neu. Auch wenn es heute Formen angenommen hat, bei denen nicht mal mehr die Frage steht: Worum geht es da eigentlich noch?

Wollen alle einander nur noch damit beeindrucken, welche Leistungen sie vollbringen, um die Bescherung zu einem Konsumrausch zu machen? Selbst ein in friedlicher Zwietracht alt gewordenes Pärchen kommt aus den Mühlen des Perfektionismus nicht mehr heraus, macht sogar den Nadelkranz zum Objekt permanenter Einsatzbereitschaft. Bis einer die Nase voll hat und den Ausbruch organisiert.

Irgendwie haben sich die beiden Autorinnen vorgenommen, Geschichten so zu erzählen, dass sie eine Wendung zu etwas nehmen, was den meisten Fremdgesteuerten in diesen Tagen völlig verloren gegangen ist. Erst scheinen die Geschichten mitten hineinzuführen in die längst zur Gewohnheit gewordenen Katastrophen, die niemand mehr anspricht, weil schon beim kleinsten Wort Partnerschaften, Familien und Sippschaften explodieren. Ein Funke genügt, weil alle am emotionalen Limit sind, uralte Verletzungen fortgären, aber keiner Kraft und Mut hat, sich aus den verkapselten Erwartungen und Verstimmungen zu lösen.

Und so stürzt man sich in diesen Festrausch, der alles nur noch schlimmer macht. Am Ende sitzen Menschen um einen Baum mit Bergen überflüssiger Geschenke, die sich auch deshalb nichts zu sagen haben, weil sie die Hektik der Arbeit noch immer im Kopf haben, von finanziellen und Alltagsproblemen geplagt sind. Oh: Das Weihnachtsfest ist kein Geschenk, es ist eine Strafe. Denn da sitzen die in einer von Raserei und Einsatzbereitschaft hochgejazzten Welt Gejagten und Getriebenen beieinander und die Jagd findet keine Pause. Das Fest selbst wird zur neuen Leistungsjagd – samt Weihnachtsmarktbesuch, Küchenorgien, Verwandtenbesuch, quengelnden Kindern, nervenden Schwiegermüttern und Alpträumen …

Da ist nicht mehr viel von der Selbstverständlichkeit der erzgebirgischen Abende in der Hutzenstube. Es sei denn, einer wagt es, einfach die rasende Maschine zu verlassen, den Bergmannszug eben mal nicht über die Prachtstraße des Bergmannstädtchens zu führen, sondern einmal auch am Haus der krebserkrankten Mutter vorbei. Oder die Töchter wie immer einzuladen, ihnen aber keinen gedeckten Weihnachtstisch hinzustellen, an dem sie doch wieder nur sitzen und mäkeln und ihre Probleme durchhecheln, ohne ein Quäntchen Aufmerksamkeit für die alte Frau, die sich eigentlich jedes Jahr auf eine völlig andere Begegnung mit ihren Töchtern freut.

Es gibt eine Menge Geschichten, die jagen einem schon deshalb das Adrenalin in die Blutbahn, weil die Protagonisten scheinbar wie selbstverständlich die ganze Jagd mitmachen, innerlich aber sichtlich verzweifelt sind. Eigentlich nervt sie diese Hatz nach dem perfekten Fest nur noch. Eigentlich wünschen sie sich etwas völlig anderes. Etwas, von dem sie sogar genau wissen, was es ist.

Manchmal ist es ein radikaler Schnitt, den sie wagen. Manchmal geschieht es ganz von allein, denn zuweilen gibt es den Störfaktor ja sogar in der eigenen Familie, die fast erwachsene Tochter zum Beispiel, die sichtlich nur noch Null Bock auf diese Arbeitswelt hat, diese allgegenwärtigen Ansprüche und Forderungen. Man vergisst ja beinah, wie sehr unsere Gesellschaft von Durchhalteparolen und Mehr-Leister-Losungen durchsetzt ist. Wer eine elitäre Gesellschaft will, der jagt ihre Mitglieder in einen permanenten Leistungswettbewerb.

Logisch, dass Kinder da irgendwann entweder zu Robotern werden, die den ganzen Quatsch mitmachen und selber zu rasenden Leistungsbatterien werden. Oder dass sie auf Verweigerung umschalten, auch gegen die eigenen Eltern, die ja selbst Druck machen, weil sie wissen, wie die Hatz läuft. In diesem Fall wird zwar das schmollende Kind errettet, weil es in der Einöde einer Herberge in den Bergen über so etwas wie die eigenen Gefühle stolpert. Es liegt ein goldener Glanz über den Geschichten. Keine Frage. Denn die beiden Autorinnen, die nun einmal in diesem von den Zeiten gebeutelten Sachsen aufgewachsen sind, haben zwar mit der ganzen Herrlichkeit von Kirche und Jetzt-sind-wir-alle-lieb wenig am Hut. Aber sie kennen die Sehnsucht, die das Fest tatsächlich jedes Jahr anspricht – und so selten erfüllt.

Es ist eigentlich das richtige Fest, die Dinge tatsächlich anders zu machen. Eben mal nicht nach Radebeul zu fahren, um auch noch den dortigen Weihnachtsmarkt zu besuchen. Was die Heldinnen dieser Geschichte trotzdem tun – und am Ende der Verkäuferin von Karl-May-Büchern zu einem unerwarteten Erfolg verhelfen. Denn das Problem, das Viele verstört, wenn sie am Jahresende in dieses Fest hineinstürzen, ist eigentlich die Stille, der kurze Moment, in dem die lärmende Maschine auf einmal zum Halten kommt und man nach 360 Tagen des Wahnsinns erstmals wieder sich selbst begegnet und seinen eigenen Gefühlen, Wünschen und Erwartungen.

In der Regel versuchen die Meisten, das alles unter der Decke zu halten – oder es entlädt sich in krachenden Familienzerstörungen. Aber das wäre dann der Stoff für Krimis. Darum geht es diesmal nicht. Eher um das Gegenteil: Menschen zu beschreiben, die in dieser oft gar nicht frohen Zeit auf einmal wirklich innehalten, sich ihrer selbst besinnen und Gefühle zulassen. Und es ist ja nicht so, dass es nicht Viele auch schon so erlebt haben – was nicht davor feit, im nächsten Jahr nicht doch wieder in der üblichen Weihnachtsmühle zu landen.

Man braucht tatsächlich keine Engel und himmlischen Erleuchtungen, um einmal im Jahr wenigstens in die Nähe der eigenen Emotionen zu kommen. Und zumindest eine Ahnung davon zu bekommen, dass unsere Welt durchaus anders sein könnte, verlässlicher, menschlicher, vertrauensvoller. Wenn wir selbst nur wollen. Aber wer will das schon, wenn die goldenen Mohrrüben locken? Oder wovon erzählt eigentlich Bachs Weihnachtsoratorium? Vom Wettbewerb? Vom Struggle of the Fittest?

Ein – zuweilen durchaus verträumtes – Weihnachten-Innehalten-Buch, das zumindest ein paar Sachsen zeigt, die nicht ständig erzürnt auf der Straße stehen und behaupten, sie seien das Volk.

Es gibt kein sächsisches Volk. Zum Glück. Sondern beim genaueren Hinsehen ziemlich viele einzelne Menschlein, die manchmal auch noch zum Weihnachtsfest versuchen, einen Zipfel vom eigenen Leben zu fassen. Und sei es nur ein batteriebetriebener Herrnhuther Stern am Fahrrad des bärtigen Mannes, der vor dem erleuchteten Restaurant um ein paar Euro bittet.

Ethel Scheffler; Sylke Tannhäuser Weihnachtsgeschichten aus Sachsen, Wartberg Verlag, Gudensberg-Gleichen 2016, 11,90 Euro.

In eigener Sache – Wir knacken gemeinsam die 250 & kaufen den „Melder“ frei

https://www.l-iz.de/bildung/medien/2016/10/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar