Für FreikäuferPoniatowski? Bei dem Namen denken die Leipziger nur an einen: an Józef Antoni Poniatowski. Vielen ist gar nicht bewusst, dass der Marschall Napoleons, der am 19. Oktober 1813 beim Rückzug der französischen Armee in der Weißen Elster ertrank, aus einem der großen polnischen Fürstengeschlechter stammt und mit dem letzten polnischen König verwandt war. Und damit auch mit dem Autor dieser Reisebeschreibung.

Und der war auch nicht irgendwer: Als Neffe des letzten polnischen Wahlkönigs Stanisław Antoni Poniatowski galt der 1754 geborene Stanislaw als sein gewünschter Nachfolger. Wozu es nie kam. Denn 1795 wurde sein Onkel abgesetzt und Preußen und Russland teilten Polen ein weiteres Mal unter sich auf – womit auch das polnische Wahlkönigtum endete. Und damit auch die polnische Eigenständigkeit, die Stanisław II. August noch in Teilen hatte erhalten können – bis hin zur Einführung einer modernen Verfassung im Jahr 1791. Er hätte als großer aufgeklärter König in die Geschichtsbücher eingehen können, hätten Preußen und Russland nicht an Polen schon damals ein Exempel statuiert, wie imperialistische Staaten mit der Souveränität anderer Länder umgehen.

Dass Stanislaw 1784 zu der in diesem Buch geschilderten Reise aufbrach, hatte schon mit seiner Rolle als potenzieller Nachfolger zu tun. Und auch das hätte wohl erst einmal niemanden interessiert, wenn Marian Brandys 1960 nicht seinen biografischen Roman „Nieznany Ksiaze Poniatowski“ („Der unbekannte Fürst Poniatowski“) geschrieben hätte. Erst so rückte der Neffe des letzten polnischen Königs wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. 2002 wurde sein Reisetagebuch von Jacek Wijaczka schon auf polnisch veröffentlicht. Aber Ingo Pfeifer hat für die deutsche Übersetzung auf das Manuskript des Fürsten zurückgegriffen, der kein Wort Deutsch sprach und sich trotzdem aufmachte zur Reise durch die nahe gelegenen deutschen Länder. Französisch sprach er – und das war damals in Europa das, was heute Englisch ist: Die Sprache, die alle sprachen, die in den kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Netzwerken des Kontinents unterwegs waren. Es war die Sprache des großen Vorbilds Frankreich, das an sämtlichen Fürstenhöfen kopiert wurde. Poniatowski konnte also beim Besuch von Residenzen, Pfarreien, Festungen oder großen Städten wie Leipzig immer damit rechnen, dass er sich verständlich machen konnte.

Seine Reise war keine „Grand Tour“, wie das damals hieß – die Bildungsreise eines jungen Adligen durch die wichtigsten Länder Europas. Es war eine Erkundungstour. Denn zum Anspruch eines aufgeklärten Fürsten der Zeit gehörte auch größtmögliche Kenntnis über das Funktionieren des Staates, über die Einkünfte aus Landwirtschaft und Bergbau, über Pferdezucht, Leinweberei und Handel. Man erfährt nicht, ob Poniatowski seine Reise akribisch geplant hat oder mit wem er reiste und wie groß sein Tross war. Reiste er mit der Postkutsche? Wohl eher nicht. Aber er benutzte die Poststationen zum Umspannen und zum Reparieren des Wagens, der ihm mehrmals brach – auch auf schlechten sächsischen Straßen. Man wundert sich gar nicht darüber, wenn er in seinem Tagebuch harsche Noten für miese Straßen und Wege verteilt. Auch wenn man die ganze Zeit weiß: Hier reist ein Fürst, der Geld in der Tasche hat und in vielen Häusern schon allein deshalb empfangen und aufgenommen wird, weil er ein Fürst ist. Das Umschlagbild, das die Malerin Angelika Kaufmann von ihm gemalt hat, zeigt den Fürsten standesgemäß. Fast so, als müsste sich dieser Mann eigentlich eher für Armeen, Paraden und die berühmten Schlachtfelder der Zeit interessieren.

Die hat er auch besucht. Denn das alles war ja noch frisch – in Schlesien genauso wie in Böhmen, wo Friedrich II. von Preußen seine waghalsigen Schlachten gegen die Österreicher schlug. Aber die Schlachtfelder durchfährt Poniatowski eher beiläufig. Viel mehr interessieren ihn die Bergwerke im Harz und im Erzgebirge, die Webereien und Färbereien, die Porzellanmanufakturen und der Zustand der Wälder. Und da ist er streng. Man ahnt, dass er sich mit solchen Dingen schon auskennt und mit kritischem Blick einschätzt, was er an Neuem sieht – oder was ihn nicht befriedigt. Manchmal ist sein Urteil geradezu vernichtend. Oder herablassend, was einen noch mehr erschüttert. Denn was bedeutet es, wenn er von elenden Dörfern und Hütten erzählt, die er in Sachsen genauso findet wie in Bayern oder Böhmen? Welchen Maßstab setzt er an? Hat er wirklich einen unbefangenen Blick für den Reichtum der Landschaften?

Es ist ein seltenes Tagebuch, betont Wijaczka im ebenfalls übersetzten Vorwort. Denn hier schreibt keiner eine der damals üblich werdenden Reisebeschreibungen, mit denen die Autoren ihre Weltkenntnis beweisen wollen. Hier weiß einer, wie Pacht- und Fronsysteme funktionieren, welchen Ertrag Güter und Dörfer bringen und wie ein Gutsbesitzer wirtschaften muss, um gute Erträge zu haben, aber auch die eigenen Leute nicht auszuplündern, wie das damals selbst im Österreichischen noch die Norm gewesen sein muss.

Man merkt, wie sehr dieser – von Zeitgenossen als kühl und rational empfundene – Fürst jedes Land und jede Grafschaft nach den Maßstäben guten Wirtschaftens bewertet. Denn er ist unterwegs, um zu lernen. Sein Tagebuch ist gespickt mit Hinweisen auf Preislisten, Lageplänen, Funktionsskizzen, die aber nicht überliefert sind. Man hätte wohl noch viel mehr den Eindruck, dass hier einer unterwegs war, der Polen wirtschaftlich auf die Beine bringen wollte, der nach Handelspartnern suchte und nach Wegen, Fachleute für Polen zu gewinnen.

Und der es sich trotzdem nicht nehmen ließ, die Sammlungen all der Fürsten zu besuchen, die an seiner Wegstrecke lagen, die erstaunlich viele Schleifen zog, als hätte er in diesem Sommer 1784 möglichst viel mitnehmen wollen. Und natürlich verschlug es ihn auch nach Sachsen, nach Leipzig und Dresden. Und der Leser bedauert, dass Poniatowski kein Erzähler war, kein Journalist im heutigen Sinn, denn er begegnete natürlich vielen bekannten Persönlichkeiten, von denen man sich eine lebendige Schilderung gewünscht hätte, vielleicht ein Gespräch, wenigstens ein paar Zitate aus dem Gespräch. So wie am 13. Juni. Da war er in Göttingen und schrieb in sein Reisetagebuch: „Ich war früh beim Physikprofessor Lichtenberg, der bucklig ist und lebendig, und wie es scheint viel Kenntnis und Genie hat, in Deutschland hat er eine gute Reputation.“

Das war’s. Kein Wort mehr über Georg Christoph Lichtenberg, den Mann, der just in diesem Jahr 1784 in sein Sudelbuch schrieb: „Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten mäßig entstellt.“

Das gilt bis heute. Nur heute nennen es die großen Geistesblitzer „alternative facts“. Oder wie wäre es mit dem: „Ein Kerl, der einmal seine 100.000 Taler gestohlen hat, kann hernach ehrlich durch die Welt kommen.“?

Vielleicht war sein Französisch nicht gut genug. Wer weiß. Man lauert an der Stelle ja schon: Kommt Poniatowski auch nach Leipzig? Kommt er. Am 26. Juni reiste Poniatowski – von Altranstädt kommend – in die große Handelsstadt und besuchte in den Folgetagen etliche Leute, die noch heute ihren verdienten Platz haben in der Leipziger Geschichte, darunter den großen Taubstummenlehrer Samuel Heinicke und den Maler Adam Friedrich Oeser, den Kupferstecher Johann Friedrich Bause und den Verleger Breitkopf. Er besichtigte Gemäldesammlungen und Naturalienkabinette, spazierte durchs Rosental und genoss im Theater den „Babier von Sevilla“. „Nicht schlecht ausgeführt“, fand er den. Aber wahrscheinlich war er abgelenkt durch „eine recht hübsche Schauspielerin, Mademoiselle Soporylli geheißen“. Man ließ für ihn sogar extra den berühmten Oeserschen Vorhang herunter mit all den Philosophen, die darauf gemalt waren.

Und auch wenn er uns die Gespräche, die er führt, nicht vermittelt, setzt sich doch – Station für Station – ein Bild dieser Landschaft im Jahre 1784 zusammen, bekommt man mit, wie gewirtschaftet wurde, wie miserabel viele Straßen waren. Aber auch, wie sehr sich der Wohlstand sofort unterschied, wenn Landesgrenzen überschritten wurden. Und man bestaunt auch den Übersetzer, denn die ganzen Namen der Städte und Reisebekanntschaften hat Poniatowski nur nach dem Hörensagen notiert. Da musste emsig recherchiert werden, um ihre deutschen Entsprechungen zu finden. Aber erst so bekommt man ein Reisetagebuch, das plastisch macht, wie man damals in diesem östlichen Teil des Heiligen Römischen Reiches lebte und arbeitete. Thüringen hat ihn dabei, wie es scheint, nicht interessiert. Der übliche Besuch bei Goethe findet also nicht statt. Die Reise führt über Böhmen, Österreich und das preußische Schlesien zurück nach Polen. Und wer gedacht hätte, jetzt drückt der reisende Fürst ein Auge zu, der irrt: Denn auch den Restweg durch sein Heimatland beschreibt Poniatowski mit dem kritischen Blick des Mannes, der sieht, wenn Dinge nicht gut bewirtschaftet sind und besser gemacht werden können.

Nur die Umsetzung blieb ihm, wie wir wissen, versagt. Und so regierte er kein aufgeklärtes Polen, sondern wurde zum reisenden Lebemann, dem die Geschichte keine tragende Rolle mehr bereitstellte.

Fürst Stanislaw Poniatowski; Ingo Pfeifer Tagebuch einer Reise durch die deutschen Länder im Jahre 1784 , Mitteldeutscher Verlag, Halle 2017, 24,95 Euro.

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