So mancher Leser stellte mit gelindem Entsetzen fest, dass das Stadtgeschichtliche Museum in diesem Jahr zwar zwei ziemlich sinnfreie Ausstellungen zum Sport („Meilensteine der Leipziger Sportgeschichte“) und ab Oktober zur Popmusik („Oh Yeah. Popmusik in Deutschland“) veranstaltet, aber die wirklich großen Jubiläen einfach ignoriert. Und das sind unter anderem das Ende des 1. Weltkriegs und die Novemberrevolution. Gerade in Zeiten der bedrohten Demokratie hochaktuelle Ereignisse.

Zum Glück gibt es wenigstens Bücher, die sich mit dieser brisanten Zeit intensiv auseinandersetzen, die eben nicht damit abgetan ist, dass 2014 der Beginn des 1. Weltkrieges gewürdigt wurde. Gerade diese vier Jahre Krieg haben das Land verändert, haben neue gesellschaftliche Bewegungen hervorgebracht und haben gerade Sachsen und Leipzig zum Hotspot der Revolution gemacht. Als die Frontsoldaten ab Herbst 1918 zurückkamen in ihre Heimatstadt, wurden sie von Transparenten des Arbeiter- und Soldatenrates begrüßt. Der Leipziger OBM musste sich gezwungenermaßen mit diesem Revolutionsrat auseinandersetzen und ihm auch Raum im Neuen Rathaus einräumen. Die nächsten Jahre werden turbulent – bis hin zum Einmarsch der Reichstruppen.

Und all das ist in diesem Jahr 1918 angelegt und der Unfähigkeit der beiden verantwortlichen Feldherren Hindenburg und Ludendorff, den Krieg zu beenden, als absehbar war, dass er nicht zu gewinnen sein würde. Genau damit beschäftigt sich Gerhard P. Groß, Oberst und Militärhistoriker. Logisch, dass er dieses letzte Kriegsjahr ganz unter militärischem Aspekt betrachtet, ganz so, als würde er dem Generalstab über die Schultern schauen und bewerten, was Ludendorff und seine Stabsoffiziere wussten und welche Schlüsse sie daraus zogen.

Denn dass Ludendorff und Hindenburg nach dem Krieg die Dolchstoßlegende in die Welt setzen konnten, hat ja mit der Tatsache zu tun, dass selbst die neuen Regierenden der Legende Vorschub leisteten, Deutschland habe den Krieg nicht verloren und die Armee sei „im Felde unbesiegt“ geblieben. Auch Friedrich Ebert, der SPD-Präsident, erzählte diesen Unfug, sodass ein ganzes Land sich über 14 Jahre regelrecht aufschaukeln konnte in dem Gedanken, man habe den Krieg ja gar nicht verloren, die linken Kräfte hätten nur irgendwie im Hinterland dafür gesorgt, dass der Armee der Rückhalt aus der Heimat fehlte.

So musste man dem Volk auch nicht die Wahrheit erzählen darüber, wie ausgepowert Deutschland eigentlich schon 1917 war. Die Deutschen hungerten. Es waren so viele junge Männer eingezogen worden und auf den Schlachtfeldern verblutet, dass das Heer eigentliche keine Reserven mehr hatte. Es reichte gerade noch für die eine Frühjahrsoffensive, in der Ludendorff alles einsetzte, was an der Westfront an Truppen noch verfügbar war (während gleichzeitig das Eroberungsabenteuer in der Ukraine und im Kaukasus fortgesetzt wurde). Das genügte zwar für einen seit vier Jahren nicht mehr erlebten Landgewinn.

Aber statt die Alliierten mit diesem massiven Vorstoß zu besiegen, steckte man bald fest in unbefestigten Stellungen und hatte dem wachsenden Materialeinsatz auf der Gegenseite nichts mehr entgegenzusetzen.

Dass die deutschen Soldaten überhaupt noch mitmachten, hatte mit dem Versprechen zu tun, mit diesem letzten Vorstoß könnte man den Feind besiegen und den Krieg beenden. Bis zuletzt verabschiedeten sich die beiden völlig überforderten Feldherren nicht von ihrem Kriegsziel eines „Siegfriedens“. Aber den hatte Deutschland endgültig unmöglich gemacht, als es im Februar 1917 den unbeschränkten U-Boot-Krieg begann. Und der zog nun genau jene Macht in den Krieg, die den Alliierten endgültig die materielle Überlegenheit verschaffte: die USA.

Was natürlich auch Groß dazu bringt, an dieser Stelle zu betonen, dass genau das die Rolle der USA für die nächsten 100 Jahre vollkommen veränderte. Denn bis dahin galt in der amerikanischen Politik das Primat von Isolationismus und Protektionismus. In der Bevölkerung der USA war der Gedanke, sich in die undurchschaubaren Händel der Europäer einzumischen, zutiefst suspekt. Gleichzeitig markiert der 1. Weltkrieg den Übergang zum industriellen Krieg. Es wurden zahlreiche neue Waffen auf beiden Seiten eingesetzt (U-Boote, Flugzeuge, Giftgas, Panzer, Maschinengewehre), die Schlachten nahmen gigantische Ausmaße an und gerade in der letzten Phase des Kriegs entschied immer mehr die Materialüberlegenheit darüber, wer die Überhand gewann.

In vielem nimmt dieses letzte Kriegsjahr sogar schon die Schlachten des 2. Weltkriegs vorweg – bis hin zum Fanatismus der Befehlshaber, die jeden Punkt ignorierten, an dem ein Ende der Kriegshandlungen noch in ihrer Macht gestanden hätte. Was insbesondere Ludendorff deshalb konnte, weil im Lauf des Krieges das Oberste Heereskommando quasi auch alle politischen Entscheidungen an sich gerissen hatte und Parlament wie Reichsregierung über den tatsächlichen Kriegsverlauf völlig desinformiert wurden.

Umso entsetzter waren die Abgeordneten, als Ludendorff und Hindenburg nach dem Scheitern des letzten Kriegszugs und den zunehmenden Rückverlegungen der Truppen zugaben, dass sie keine Chance mehr sahen, diesen Krieg zu gewinnen. Den Mumm, die Niederlage einzugestehen, hatten sie nicht. Auch nicht den Mumm, die Verantwortung für das Desaster zu übernehmen.

Und so kam es, dass es diese beiden völlig überforderten Generäle waren, die nicht nur den Kaiser ins Exil schickten, sondern auch die alte Regierung dazu aufforderten, die Macht an die Sozialdemokraten zu übergeben, damit diese dann die „Schuld“ für Kriegsniederlage und bedrückende Friedensverträge zu tragen hätten. So kam es, dass Philipp Scheidemann (SPD) dann die Republik ausrief und die Weimarer Republik geboren wurde aus einem Debakel, das keiner sich wirklich traute, beim Namen zu nennen.

Das ist der Stoff, aus dem die Rechtsradikalen dann ihre Legenden strickten.

Groß schildert sehr detailliert, wie die Frühjahrsoffensive ablief, wie Ludendorff als Planer das strategische Ziel (die englischen Truppen zu besiegen) bald der aufsplitternden Taktik unterordnete und damit das Scheitern des Vorstoßes zusätzlich beförderte. Er zeigt auf, wie der Vorstoß schon längst mit unterlegenem Materialeinsatz gestartet wurde – die aus dem Boden gestampften mobilen Brigaden hatten so gut wie keine Panzer oder Kraftfahrzeuge, das Haupttransportmittel waren Pferde – und auch die waren längst in einem maladen und unterernährten Zustand. Und das Erste, was in diesem konzentrierten Angriff verloren ging, waren vor allem die Offiziere, denn die führten ihre Kompanien damals noch „von vorn“.

Im Sommer berichteten die Frontverantwortlichen dann nur noch von einer völlig demoralisierten Truppe. Die Hoffnung, in einer letzte Schlacht den Sieg zu erringen, hatte auch noch einmal die drei Jahre im Graben feststeckenden Soldaten euphorisiert – von denen hunderttausende dann genau bei diesem Vorstoß zu Tode kamen. Als der Vorstoß verebbte, machte sich die Kriegsmüdigkeit in allen Truppenverbänden breit. Viele Soldaten gingen lieber in Gefangenschaft oder setzten sich hinter der Front ab.

Und selbst das brachte Ludendorff und Hindenburg nicht dazu, den Wahnsinn zu beenden. Sie setzten bis zum 8. August 1918 alles auf eine Karte. Die Heeresmeldungen waren bis zuletzt voller Erfolgsmeldungen, die dem Hinterland suggerierten, die deutsche Armee sei kurz davor, die Alliierten zu schlagen.

Doch der am 8. August einsetzenden Offensive der Alliierten hatten die abgerissenen und demoralisierten Truppen nichts mehr entgegenzusetzen. Erst am 29. September forderten dann Ludendorff und Hindenburg die Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen. Aber das war noch immer nicht das Ende des Wahnsinns. Noch im Oktober wollte das Marineoberkommando die deutschen Schlachtschiffe zusammenziehen und in einer großen Hochseeschlacht „ein Zeichen setzen“. Das war der Zeitpunkt, an dem die Matrosen in Wilhelmshaven meuterten, vier Tage später brach der Matrosenaufstand in Kiel los. Erst am 8. November begannen tatsächlich die Waffenstillstandsverhandlungen, am 9. November wurde die Republik ausgerufen.

Groß hat natürlich den Vorteil, in alle Pläne Einsicht nehmen zu können, die tatsächlichen Ereignisse und ihre Folgen zu kennen. Aber wie konnte ein ganzes Volk reagieren, das über all das nicht informiert war? Die Zeitungen bekamen nur die Informationen, die die oberste Heeresleitung freigab. Das war auch schon so wie bei den Nazis: In den Zeitungsspalten wurde bis zuletzt gesiegt, wurde den Menschen suggeriert, „das große Ringen“ würde mit einem „Siegfrieden“ enden, obwohl auch Deutschlands Verbündete zermürbt waren und schon längst keine Reserven mehr hatten.

Dieses falsche Bild, man hätte es ja schaffen können, wenn man nur weitergekämpft hätte, hat die Nazis und den 2. Weltkrieg mit ermöglicht. Logisch, dass Ludendorffs (auch nur halbes) Eingeständnis, er hätte seine letzte Karte ausgespielt, die Reichstagsabgeordneten schockte. Ein Bild, das ahnen lässt, wie Menschen sich verführen, belügen und euphorisieren lassen, wenn nur jemand alle Nachrichten über den Krieg zensieren und manipulieren kann.

Was ja auch für die Friedenspolitik gilt. Und für die Kriege, die heute wieder geführt werden – wieder mit falschen Versprechungen, falschen Kräfteeinschätzungen, verlogenen Zielen und der Überheblichkeit von Möchtegern-Strategen, die nicht mal bis zu dem Tag denken, an dem ihre Strategie möglicherweise scheitern könnte.

Dieses Jahr 1918 und wie die damaligen politischen und militärischen Eliten damit umgingen, ist tatsächlich lehrreich. Und die wichtigste Lehre war eindeutig, dass es sich kein Parlament und keine Regierung erlauben kann, die Entscheidungsgewalt abzugeben an eine wie auch immer geartete Militärführung. Ludendorff ist das beste Beispiel dafür, wie unfähig so ein Stabsgeneral war, überhaupt die politische Dimension seines Tuns zu begreifen. Und die, die politisch handeln müssen, waren bis zuletzt der irrigen Überzeugung, das Militär würde ihnen den Sieg auf dem Silbertablett servieren. Obwohl man die eigenen Reserven an Menschen, Nahrungsmitteln, Kriegsmaterial eigentlich kennen musste. Aber nichts ist so fatal wie eine Politik, die sich blind stellt und von Generälen bevormunden lässt.

Das Buch ist das zweite aus einer Reclam-Reihe, in der sich das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr den „Kriegen der Moderne“ widmet. Eine Reihe, die auch versucht, Legenden zu hinterfragen und Trugbilder zu entlarven. Denn nichts eignet sich ja für falsche Glorifizierungen so wie alte Ruhmesgeschichten aus Kriegen und kriegerischen Zeiten. Die nächsten Bände widmen sich Stalingrad 1941/1942, dem Russischen Bürgerkrieg von 1917-1922 und dem Kosovokrieg 1999.

Gerhard Groß Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Dolchstoßlegende, Reclam Verlag, Ditzingen 2018, 14,95 Euro.

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Spannende Rezension. Der älteste Bruder meines Opas durfte auch nur 16 werden, bevor er sinnlos als Zielscheibe kämpfen musste. Fiel mir beim lesen wieder ein, ich finds grad schade, dass es von ihm nicht mal Bilder gibt. Bis auf seinen Namen auf einem Kriegerdenkmal ist nichts von ihm übriggeblieben, selbst mein Opa ist erst nach seinem Tod geboren und konnte nicht mal von ihm erzählen. Und ob ich damals zugehört hätte…Aber hey – dafür ist er ein Held auf einem Denkmal. Dafür kann man schon mal mit 16 abtreten, oder? :/

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