Schon die „Einführung in Leben und Werk des Schriftstellers Dragoslav Mihailović“ im Vorspann des Buches ist eigentlich ein Buch für sich. Denn der vielfach preisgekrönte serbische Autor ist in Deutschland praktisch ein Unbekannter. Und zur Wahrheit gehört wohl auch: Die Literatur aus dem einstigen Jugoslawien ist genauso unbekannt. Für den riesigen Raum der ost- und südosteuropäischen Literaturen haben sich bislang viel zu wenige Verlage und Kritiker interessiert.

Genauso, wie sich deutsche Medien kaum für den großen Hallraum im Osten und Südosten interessieren. Auch nicht für die Verletzungen, die diese Länder in der Geschichte des 20. Jahrhunderts erlitten haben. Auch deutsche Medien sind in der Geschichtsrückschau immer wieder nur auf die eigenen wunden Stellen fixiert. Jugoslawien hätte auch in Asien liegen können, so fern war und ist diese Landschaft aus deutscher Perspektive. Und deshalb ist auch Dragoslav Mihailović hierzulande kein Begriff und die über 100-seitige Einführung erzählt eine doppelt und dreifach unbekannte Geschichte. Hierzulande unbekannt.

Denn hinter dem Schicksal des 1930 geborenen Autors blutet die ganze serbisch-jugoslawische Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Aus östlicher Sicht sah Jugoslawien ja immer irgendwie wie der bessere Sozialismus aus – offener, nicht blockgebunden, mit Reisefreiheiten, die man in der DDR nicht kannte. Und natürlich als Gegenentwurf zum Stalinschen Unterdrückungssystem.

Aber das Bild stimmte nie. Auch Tito war ein Vertreter genau jenes Denkens, das auch hinter dem Stalinschen System steckte. Rigoros gingen auch in Jugoslawien Polizei und Geheimdienste gegen „Abweichler“ und „Staatsfeinde“ vor. Und um in diese Mühlen zu geraten, gehörte oft nur ein bisschen Renitenz, wie der junge Dragoslav Mihailović erleben musste: Der Aufenthalt auf der Gefängnisinsel Goli otok wurde für ihn lebensprägend – nicht nur durch die Erfahrungen, die er dort machen musste, sondern auch durch den langen Schatten, den diese Brandmarkung auf sein Leben warf.

Denn wie das in totalitären Regimen so ist: Sie vergessen nicht. Alles, was gegen einen Menschen verwendet werden kann, wird (nicht nur vom Geheimdienst) in Akten gesammelt und weitergegeben. Es sorgt dafür, dass jemand nicht studieren kann oder die Arbeitsstelle nicht bekommt, für die er qualifiziert ist, oder ohne Angabe von Gründen entlassen wird, sich keine Wohnung leisten kann und keine Familie. Alles Dinge, die auch die DDR von innen zerfressen haben, weil das Misstrauen gegen die eigene Bevölkerung und insbesondere die kritischen Köpfe immer weiter wuchs.

Es verblüfft schon, wenn man hier erfährt, dass es im Tito’schen Jugoslawien nicht viel anders war, dass den blutigen Ereignissen im Zweiten Weltkrieg, als die Partisanen nicht nur gegen die einmarschierten Deutschen, sondern auch gegen Ustascha und Tschetniks kämpften und auch die ethnischen Konflikte geschürt wurden, die Jugoslawien nach 1990 zerreißen sollten, eine Zeit folgte, die ganz ähnlich unbarmherzig war wie in der frühen DDR. Eine neue, hartherzige Nomenklatura etablierte sich, der Geheimdienst bekam eine alles durchdringende Macht und das Misstrauen tränkte alle Beziehungen.

Der wichtigste Unterschied ist wohl, dass begabte Schriftsteller wie Dragoslav Mihailović nicht mundtot gemacht wurden. Sein erster Roman „Als die Kürbisse blühten“ wurde 1968 zu einem Erfolg. Seine Erzählungsbände fanden jedes Mal ein großes und aufgeregtes Publikum, denn mit seiner unverwechselbaren Art, die ganz und gar nicht einfachen „einfachen Leute“ zu Wort kommen zu lassen und ihre Lebensgeschichten zu erzählen, brachte er auch die Schattenseiten seines Landes zur Sprache.

Zwölf Erzählungen aus Mihailovics Büchern hat Robert Hodel für diesen Band übersetzt, die einen guten Überblick geben für die Schaffenszeit des Schriftstellers, der sich nach seiner Entlassung aus Goli otok viele Jahre mit allerlei Aushilfsjobs und in eigentlich unaushaltbaren Wohnsituationen durchschlagen musste. Auch Obdachlosigkeit, Hunger und permanenter Geldmangel gehören zu seinen Erfahrungen. Wer so lebt, der lernt das Leben ganz unten kennen, da wo all jene zu Hause sind, die wir in unserem Wohlstand immer vergessen: Vagabunden, Obdachlose, Schuhputzer, Tagelöhner, die ganzen Außenseiter der Gesellschaft. Und natürlich auch immer wieder Goliotoker, die aber etwas taten, was man so aus der Frühgeschichte der DDR nicht kennt: Sie halfen einander, unterstützten sich, wo sie konnten. Was für manchen – und auch Dragoslav Mihailović – wohl die Rettung war.

Und gerade weil er das blanke Leben derart intensiv kennengelernt hat, schildern alle seine Geschichten zutiefst existenzielle Schicksale. Es ist, als wäre der ganze schnatternde Firlefanz unserer Konsumgesellschaft weggerissen, dieses ganze Geplapper unwichtiger Leute über unwichtige Probleme. Stattdessen steckt man mittendrin in einer Welt, in der jeder Tag ein Kampf um den Lebensunterhalt ist, in der das Selbstbewusstsein eines Waisenjungen teuer bezahlt wird, in der aber vor allem auch die Kinder unter Verhältnissen leiden, die nur von außen romantisch aussehen.

Aber in dieser Welt gibt es auch Kontinuitäten. Was gerade die Geschichte „Wie ein Fleck zurückblieb“ erzählt, die in der Vorkriegszeit handelt, was man aber erst nach und nach mitbekommt. Denn die Szenerie ist oft nur zu vertraut – mit den kleinen Dörfern und Städten in der Provinz, in denen auch Mihailović aufwuchs, wo es überlebenswichtig war, dass man mit möglichst vielen Menschen verwandt war, die im Notfall (etwa beim Tod der Eltern) einspringen konnten, die auch halfen, wenn zum Beispiel der Vater der Trunksucht erlag, wo es sogar stolz macht, wenn man erzählen kann, mit welcher Familie man verwandt ist.

Da bekommen Tod und Geburt ganz andere Wertigkeiten, denn es sind die Punkte, die jeden Einzelnen mit seiner Familie verbinden. Schwieriger wird es erst, wenn diese Sicherheiten nicht mehr funktionieren, wie in der Geschichte „Lilika“ zu lesen – dann beginnen staatliche Institutionen zu greifen. Und es ist spürbar, mit welcher Skepsis Mihailović dieser Dimension begegnet. Denn egal ob Schule, Kinderheim oder Armee – es sind allesamt anonyme Gewalten, die in das Leben der Menschen eingreifen.

Damit werden Dinge ausgelöst, die niemand mehr kontrollieren kann – so wie in der Geschichte des jungen Partisanen in „Das Geleit“, der vom Sterben seiner Kameraden erzählt und von seiner eigenen Wut (oder ist es schon Gleichgültigkeit?), die ihn dazu bringt, Gefangene einfach zu erschießen. Denn wenn Politik Menschen in Freund und Feind teilt, dann zerreißt es nicht nur Dörfer oder ganze Regionen, in denen Menschen mit unterschiedlichen Wurzeln bislang friedlich zusammenlebten, und verwandelt sie in „killing fields“. Dann verändert es auch die Menschen selbst, die in dieses Morden hineingezogen werden.

Und die meisten gehen daran kaputt. Manche werden zur Bestie, andere leiden ihr Leben lang unter der aufgeladenen Schuld. Gerade solche Geschichten wie „Überleben“ werfen ein durchaus aussagekräftiges Seitenlicht auch auf den verdrehten Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte. Denn mit der Frage, wie „ihr“ Krieg Menschen traumatisiert hat, in Schuldige und Schuldbeladene verwandelt hat und wie das über Generationen für (falsches) Schweigen und versteckte Schuldgefühle sorgte, darüber wird in Deutschland eher selten gesprochen.

Im Gegenteil – die, die darüber hätten schreiben müssen, fingen dann auf einmal an von einer „Vorhaltung unserer Schande“ zu schwadronieren. Fast scheint es so, als stünde Martin Walser mit seiner Rede in der Paulskirche am Anfang der heutigen Deutschland-Schwiemeleien, des geballten Versuchs, die ganze Nazi-Zeit auch mit ihren seelischen Verheerungen kleinzureden.

Das Problem der Deutschen ist, dass sie die eigenen Verletzungen gleich wieder unter einem veritablem Siegestaumel versteckt haben, der diesmal „Wirtschaftswunder“ und „Exportweltmeister“ hieß. Und dass sie lieber in den völlig sinnlosen Schuld-und-Scham-Kategorien der Bibel bramarbasierten, als einfach zu erzählen, wie sie diese riesige seelische Zerstörung eines ganzen Landes erlebt hatten und was es mit ihnen angerichtet hat. Auch das Schuldigwerden.

Deswegen wirken Mihailovićs Geschichten auch so lebendig und dicht: Sie reden nicht um den heißen Brei herum, sie zeigen die Handelnden in ihrer Zerrissenheit, in ihrer Ohnmacht, aber auch in ihrer Qual, wenn sie sich zu erklären versuchen, wie sie in blutigen Zeiten so wurden, wie sie sind. Und warum sie darunter leiden. Es sind keine Siegergeschichten. Und es gibt auch keine Happy endings. Manchmal ist man als Leser schon froh, wenn man merkt, dass das Leben der Hauptpersonen einfach weitergeht – auch wenn sie noch nicht wissen, wo sie heute ein Dach über dem Kopf finden sollen.

Schon in den 1970er Jahren nahm die jugoslawische Nomenklatura die Geschichten von Mihailović sehr ernst. Er erlebte, wie sich eine konzertierte Kampagne anfühlt, die über die parteigesteuerten Medien initiiert wird, wie Freunde auf Distanz gingen und das Misstrauen um ihn wuchs. Da wartete er – wie einige seiner Protagonisten – selbst darauf, jederzeit verhaftet zu werden. Denn dass der Geheimdienst alles beobachtete, was er tat, wusste er. Das hatten sie ihn schon deutlich wissen lassen.

Doch nach dem Tode Titos schwand die Macht des Systems, geriet Jugoslawien auch in eine wirtschaftliche Krise und die Staatspartei unter Legitimationsdruck. Das war die Zeit, in der Dragoslav Mihailović zu einer der wichtigsten Stimmen Jugoslawiens wurde und als er auch die Aufarbeitung der Goli-otoker-Jahre erst andeutungsweise begann. Aber das Thema war nicht mehr wegzudenken. Und in den 1990er Jahren veröffentlichte er mehrere Bände, die von den Schicksalen der Menschen erzählten, die nach Goli otok geschickt worden waren.

Wir stehen ganz und gar nicht allein da mit den zähen Schatten der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Aber wir sind nie so intensiv mit den tiefen seelischen Verletzungen umgegangen, die diese staatlichen Blutorgien hinterlassen haben. Das hat nichts mit Schuldzuweisungen zu tun, da lagen Martin Walser und alle seine Nachbeter immer falsch. Es geht nicht um „Schuld und Sühne“, sondern um die Heilung unseres Menschlichseins.

Aber das geht nur, wenn man sich der Verletzungen bewusst ist und sich Fragen stellt, die sich Dragoslav Mihailović in vielen seiner Geschichten stellt. Fragen, die uns mit all den Völkern östlich und südöstlich von uns aufs tiefste verbinden, in denen wir uns gespiegelt sehen. Wenn denn diese Geschichten überhaupt auf unseren Buchmarkt vordringen – und nicht bloß die dämlichen Reißer nach Bestseller-Manier.

So gesehen macht der Leipziger Literaturverlag hier etwas eminent Wichtiges. Und es liest sich auch noch mit einer Wärme, die die meisten deutschen „Ich-bin-Generation-sowieso“-Bücher nie hatten und nie haben werden.

Dragoslav Mihailović Wie ein Fleck zurückblieb, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2018, 29,95 Euro.

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