Mit Michelle Steinbeck hat der Verlag Voland & Quist eine neue große Autorin gewonnen. Eine mit einer richtigen Vor-Geschichte. Darauf spielt schon das Zitat an, das die 1990 geborene Schweizerin ihrem Buch beigegeben hat: Elke Heidenreich „Wenn das die neue Generation ist, dann gnade uns Gott.“ Hinter dem Zitat steckt der Skandal, den Heidenreich 2016 mit ihrem Auftritt im „Literaturclub“ ausgelöst hat.

Ein Auftritt, in dem die Kritikerin geradezu darauf abzielte, die Autorin für geistesgestört zu erklären. Der Auslöser: Steinbecks Roman „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“, damals für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für manche Leser und Leserinnen ein verstörendes Buch. Auch weil es die Abgründe unserer Zeit sehr bildhaft inszenierte. Diese Abgründe stecken in unserem Kopf.

Dass Heidenreich so abhob, kann auch Gründe außerhalb ihrer Rolle als Kritikerin haben. Denn als sie ihre Schriftstellerkarriere begann, schrieb sie selbst sehr exzessiv über frustrierende Kindheiten und gescheiterte Partnerschaften.

Nur so als kleiner Kieselstein: Wenn Autorinnen und Autoren über solche Dinge schreiben, dann sind sie ihnen wichtig. Dann sind es Themen, die in ihrem Kopf rumoren.

Und jedem Leser und jeder Leserin geht es so: Wenn diese Themen dann bei anderen auftauchen, anders erzählt, vielleicht sogar unverblümter, schamloser – dann kann es einen umhauen. Dann entfesselt das Gefühle.

Zweiter Kieselstein: Wir leben in einer Zeit, in der Gefühle verboten sind.

Einer glattgebügelten Zeit, einer, in der zwar alle Wände von Katastrophenszenarien glühen – aber Gefühle sind tabu. Sie werden zugeschmiert mit farbenfrohen Idyllen. Nur nicht drüber reden. Smiley, Lächeln. Wir sind alle stark. Wir wissen, wie man sich behauptet und den anderen die Harke zeigt im Gegeneinander-Anstinken.

Cool nennt sich das dann.

Eine coole, aufgetakelte Fake-Welt.

Und natürlich spüren das noch all die, die noch Kontakt zu ihren Gefühlen haben, die merken, wie das Menschlichste zermahlen wird, wie mit den ganzen bunten Aufklebern eigentlich nur erzählt wird: „Du darfst nicht fühlen“. Das ist jetzt zwar von Alice Miller geklaut, trifft auf unsere supertolle Selbst-Optimierungs-Welt, in der jeder sein eigener Ausbeuter und Unternehmer wird, in voller Breite zu. Davon erzählen die grassierenden Süchte und psychischen Erkrankungen.

Was Kieselstein Nummer 3 wäre.

Das ist in der Schweiz nicht anders als in der Bundesrepublik.

Natürlich sucht man das von Elke Heidenreich beschriebene Grausen in diesem Band vergeblich. Wie auch? Michelle Steinbeck schreibt keine Horrorgeschichten. Sie ist nur mit wachen Augen und Sinnen unterwegs. Sie sieht die vielen unerfüllten Sehnsüchte ringsum, die Leere in den Menschen, die vagabundierenden Hoffnungen, die falschen Erwartungen.

Und sie schaut aus sich selbst heraus in die Welt. Sie nennt die kleinen Texte in diesem Band auch nicht Gedichte, obwohl es eindeutig welche sind. Ganz kurze, dichte Lebensmomente, in Bilder gefasste Augenblicke. Angesiedelt auf dem schmalen Grat, der unser Wachsein vom Träumen trennt. Also ganz ähnlich wie ihr Roman.

Und wer sich diese Momente noch gönnt, weiß, wie die Träume in den Tag hineinlangen, wie sie unsere Stimmungen beeinflussen, Vertrautes und längst Vergessenes in uns erwecken, sodass wir an solchen verträumten Morgen das seltsame Gefühl haben, nicht so recht zurückkehren zu können in die kantige Farblosigkeit des Alltags. Unser Kopf ist ja voll davon. Dort sind alle unsere Kindheitserinnerungen in Bildern gespeichert. Und wenn wir träumen, macht unser Gehirn sehr seltsame, phantastische Handlungen daraus. Handlungen, die uns auf ganz tiefe Art berühren, weil es wie ein Nachhausekommen ist.

Kieselstein Nummer 4: Unsere Heimat und all das, was wir alle dafür halten, haben wir im Kopf. Nirgendwo sonst.

Es sind die Landschaften in jener Zeit, in der wir die Welt kennenlernten und lernten, was Geborgenheit ist, Nähe und Vertrautheit. Oder auch nicht. Es sind auch betongraue Brocken darunter, ganz frühe Ängste und Verunsicherungen.

Und Dichterinnen und Dichter haben die ganz seltene Gabe, diesen ur-kindlichen Sichten auf eine als phantastisch erlebte Welt Bilder zu geben, Worte, die Bilder wachrufen und gleichzeitig das Schwebende sichtbar machen, das Traumhafte in unserem Leben, das so viele Menschen gar nicht mehr wahrnehmen. Und wenn es mal auftaucht in ihrer Hatz, verscheuchen sie es wie eine lästige Fliege.

Wir haben uns verbieten lassen zu träumen.

Oder lassen es uns austreiben durch Fake-Träume, fremder Leute Traum-Surrogate, von denen die großen und kleinen Flimmerkisten alle erfüllt sind. Und die Traumlosen sitzen davor und lassen sich fremdalbträumen. Zombies, die sie sind, die nicht mal merken, dass sie fremdgelebt werden und ihre Träume nicht mehr ihre eigenen sind.

Es schwelt ein bisschen Wut mit, ein bisschen Entsetzen, große Verwunderung, dass das alles so ist. Und dass die Welt trotzdem immer noch traumhaft und seltsam ist – gern in diesen Abendstunden, wenn unten auf der Straße eine Sängerin singt, oder in Fotos, die erst beim zweiten Anschauen zeigen, wie irre die Welt ist – und keiner sieht es. Alle sind nur noch dabei, die immergleichen Bilder von den immergleichen Orten zu machen: „ein ehepaar selfiet mit mozart“.

Da kann man nur verstört werden.

Michelle Steinbecks Gedichte leben vom Schauen. Sie ist die Schauende, die sich märchenhaft wundern kann über das, was sie sieht – vom Balkon, aus dem Fenster des fahrenden Zuges, mit einer Sprache, die selbst voller Bilder und Poesie steckt. Was auch kaum noch einer merkt. Die meisten Menschen leben in farblosen Abläufen. Merken nicht mal, wie sich das Licht verändert, wenn die Erde sich dreht, wie selbst das eigene Tun in ein Bild ausartet: „wir nehmen die leisen sohlen“.

Fünfter Kieselstein: Wir haben eine sehr poetische Sprache.

Deren Poesie man aber nur entdeckt, wenn man wieder verlernt, lyrisch sein zu wollen. So wie die ganzen deutschen Romantiker, deren Lyrik auch heute noch in hunderttausenden Exemplaren gedruckt wird, weil Leute das für Poesie halten. Und dabei schon wieder einer falschen Werbung aufsitzen, nicht ahnend, dass unsere Sprache ihre tiefe Farbenpracht erst entfaltet, wenn man das ganze Lyrische – weglässt.

Und wenn man wieder lernt zu sprechen wie die Kinder. Über Worte und Wendungen erstaunt. Denn Sprache ist Schatztruhe. Darin steckt die ganze Pracht des Erlebten, das Menschen einmal in diese Worte gepackt haben. „an seinen füssen schleckt der morgen“.

Wobei natürlich die Schreibende in jedem Text steckt. Eigentlich sind diese kleinen Texte auch wie Tagebucheinträge. Das, was hellwache Menschen aufschreiben, weil es ihr Leben in einem leuchtenden Moment einfängt. Natürlich auch Reise-Bilder – gleich in mehreren Kapiteln gesammelt. Wer die Poesie Italiens nicht mehr zu finden vermag – hier ist sie. Und es ist immer Michelle Steinbeck, die wir hier erleben.

Was selbst mit dieser von Redakteuren mehrfach zitierten Szene sichtbar wird, die sie nun in ein Gedicht gepackt hat: „eine frau mittleren alters / erzählt mir bei kerzenschein / dass sie mein buch nicht kaufen will / aber flüstert sie ich muss gestehen / ich habe auch schlimme träume …“

Da ist er nämlich, der Moment, der Lesende mit Schreibenden verbindet. Die einen haben immer Angst, von den anderen ertappt zu werden. Mit einem Satz, einer Szene, einem Traum.

Die eine inszeniert dann eine öffentliche Verdammung, die andere will das Buch nicht kaufen. Es könnte berühren, zeigen, wie verletzlich man noch ist als Lesende. Denn gegen gute Texte sind wir machtlos. Weil sie uns daran erinnern, dass wir da unten, unter Bergen programmierter Perfektionen, noch immer dieselben Träumenden sind wie damals, als der Vater mit seiner Hand ein Loch formte: „und wenn man ganz genau schaut / sieht man da durch / bis ans ende der welt“.

Haben Sie auch die Kindheit ihrer Kinder verzaubert? Haben Sie selbst eine erlebt? Oder haben sie das alles weggepackt oder gar entsorgt, weil sie sich schämen dafür, ein verletzlicher, träumender Mensch zu sein?

Wir hängen unser Ich-Sein an Dinge, lächerlichen Kram, den irgendwann der Sperrmüll frisst.

“er bestellt ikeaeinbauschränke / ich schreibe: mit jedem möbel das du kaufst, baust du unsere zukunft zu“.

Wen trifft man?

Eine aufmerksame junge Frau, die sich nicht in die alten Erwartungsbilder fügt. Die auch einmal faul sein will wie der Tag, verwundert sein mit allen Sinnen, die sich aber auch dem Drängen da draußen verweigert, wenn sie keinen Bock drauf hat: „heute ist ein schwieriger tag zum entscheiden / drum bin ich gleich im bett geblieben, habe entschieden, dass schlaf für mich / nicht nur schlaf ist, sondern eine wichtige parallelwelt, die es zu erkunden gilt …“

Das ist noch nicht „das Leben ein Traum“, aber nahebei. Ein tapferes Gegenhalten gegen eine abgeklärte, in Ersatz-Emotionen geschäumte Welt. Und damit natürlich ein Kontra gegen all die Funktionierenden, Erfolg-Reichen, Perfekten und Selbstinszenierer.

Die Wirklichkeit unseres Lebens steckt in unserem Kopf. So wie wir selbst. Und eigentlich ist es an der Zeit, dem wieder Geltung zu verschaffen. Das Recht auf Träumen und Phantasie wieder einzufordern. Und sei es mit Gedichten, die die meisten Leute nicht mehr lesen, weil sie schon vor langer, langer Zeit beschlossen haben, nicht mehr zu träumen und nicht mehr zu fühlen.

Und deshalb staunen sie auch nicht mehr. Nicht über die Welt. Und nicht über ihr eigenes Da-Sein. Michelle Steinbeck kann das noch – und staunt sogar noch über ihr Erstauntsein. Was man aber nur kann, wenn man die Poesie zu finden weiß in unseren so seltsamen Tagen.

Michelle Steinbeck “Eingesperrte Vögel singen mehr”, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2018, 15 Euro

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