Der Würfel ist ein braves und unschuldiges Wesen. So auf den ersten Blick. Eine klare dreidimensionale Figur. Gar nichts Kompliziertes, so beim ersten Betrachten. Aber Hans Walser wäre kein ausgebuffter Mathematiker und Pädagoge, wenn er mit diesem scheinbar so simplen Klotz nicht allerlei Dinge anstellen könnte, die Leute mit gutem Vorstellungsvermögen so richtig in Aufregung versetzen können.

Denn Geometrie ist in seiner Welt nichts Statisches. Wenn er sich so ein Gebilde vornimmt, dann beginnen in seinem Kopf schon lauter Möglichkeiten abzurattern, was man mit dem Kubus eigentlich alles anstellen kann. Dieses Buch ist so wie alle seine bislang bei EAGLE verlegten Bücher: ein Ausprobier-, Mitmach- und (im positiven Sinn) Arbeitsbuch. Für alle, die irgendwas mit Mathematik lernen oder studieren. Und wahrscheinlich auch für alle, die nach einem Arbeitstag mit lauter nervenden Unterforderungen abends mal ein Stündchen Zeit haben, um ihren Kopf mal wieder ein bisschen frisch zu machen.

Denn wer wetterfest in Sachen dreidimensionaler Mathematik ist, für den ist ein Würfel nur ein Gegenstand, den man im Kopf schon verwandeln kann. Was etwa passiert, wenn man ihn in den Farben des Regenbogenspektrums einfärbt? Was passiert, wenn man ihn in lauter kleine Würfel teilt – so wie bei Rubiks Cube? Wenn man Drehachsen und Schnittflächen hineinlegt?

Klar, da ist es schon passiert. Damit bringen ja auch Mathematiklehrer die Hirne ihrer Schüler zum Qualmen. Da kann man Schnittflächen und Winkel berechnen, Projektionen ausführen. Man kann Kugeln hineinrechnen – also hübsche Innenkugeln. Oder hübsche Außenkugeln. Oder solche, die die Seitenflächen durchdringen. Und was passiert, wenn man dann die Kugelbeulen abschneidet? Dann bekommt man einen Spielwürfel.

Es sind solche schönen Hopplas, die einem zeigen, dass Walser ganz und gar nicht in esoterischen Welten unterwegs ist. Denn wenn man schon mal einen Spielwürfel denken kann, dann kann man auch die Bastelvorlage für einen Spielwürfel zeichnen, oder nicht? Auch das ist typisch Walser: Es wird jede Menge gebastelt. Wer aus dem letzten Buch die Sache mit der kubischen Erde nicht aufgehoben hat, darf hier noch einmal eine Erde in Würfelform basteln. Natürlich ist die Welt ein Würfel, sonst würde sie ja umfallen, nicht wahr?

Und kann man denn nicht auch lauter Linien zeichnen – quer durch den Würfel, Seitenhalbierende, Eckenverbindende, also ein richtiges Liniengitter in den Würfel hineinkonstruieren und dann ausmalen? Man bekommt ästhetisch beeindruckend bunte Würfel. Man kann Würfel auch fraktalisieren. Da braucht man halt nur sehr großes Zeichenpapier – und es sieht beeindruckend aus. Der Würfel also auch: Lässt man ihn einem begnadeten Mathematiker auch nur ein Viertelstündchen zum Spielen, entpuppt er sich als regelrechter Ur-Würfel, der zum Hyperwürfel mutiert.

Man staunt nur noch, was in so einem Würfel alles steckt an Potenzial. Und man ist bezaubert, wenn Walser seine Würfel aus Streifen baut, die alle über ein klares geometrisches Muster verfügen, am Ende aber einen Würfel ergeben, den man gleich mal verschenken möchte, so schön ist er. Mathematik ist Schönheit, Schönheit ist Geometrie. Und Walser macht nicht nur vor, er erklärt es seinen Leserinnen und Lesern genau, sodass man das Buch wirklich als Vorlage für abendliche Kopf- und Konstruktionsübungen nutzen kann.

Und natürlich gibt es lauter Aufgaben, über die der Mathematiklehrer die Leser erst einmal selbst grübeln lässt. Die Lösungen gibt es dann hinten im Buch. Und dort ist man dann endgültig geheilt von seiner Unterschätzung des Würfels. Im Gegenteil: Man ahnt, auf was für verrückte Gedanken Mathematiker kommen, wenn sie so einen unscheinbaren Klotz irgendwo sehen. Dann beginnt der Konstrukteur in ihrem Kopf zu schnurren. Und wer meint, das als einfache theoretische Turnübung abtun zu können, stolpert bei Walser über Sätze wie diese: „Hyperbelwürfel in höheren Dimensionen führen zu kombinatorischen Einsichten.“

Ja, Mathematiker können auch mit Dimensionen arbeiten, die weit über unsere normalen drei hinausgehen. Das Buch lädt regelrecht dazu ein, sich mit Hans Walser auf das Erkunden der Würfelwelten einzulassen. Es trainiert so nebenbei auch die nicht ganz unnütze Fähigkeit, um Ecken zu denken und die eigene Vorstellungskraft zu benutzen. Denn was man sich vorstellen kann, kann man auch berechnen und konstruieren. Walser zeigt, wie es geht.
Hans Walser Der Würfel, Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2018, 14,50 Euro.

Eine Muntermacher-LZ Nr. 61 für aufmerksame Zeitgenossen

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