Je älter man wird, umso klarer wird einem oder einer (wenn sie oder er auch nur ein Minütchen lang nachdenken), dass das alte Familienbild, bei dem Mann und Frau einander „treu sind bis zum Tod“, mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. So ein Glück, die absolut passende Seele für eine lebenslange Partnerschaft zu finden, haben nur noch wenige. Die anderen aber: leiden. Die ganze Sache mit der Liebe: ein einziges Finden, Bangen und Verlieren. Und jede Menge nasse Taschentücher.

Na gut, die Taschentücher kommen in Jutta Pillats Gedichten nicht vor. Aber die Gefühle schon. Samt Sehnsucht. Denn Dichterinnen (und auch Dichter) laufen mit einer grundlegenden Sehnsucht durch die Welt: Dass es darin viele große Erfüllungen geben möge.

Klar, auch weniger poetische Menschen haben solche Erwartungen. Sie reden nur seltener drüber und wundern sich dann, dass das Ganze dann in Zank, Streit und Hoffnungslosigkeit endet. Denn Hoffnung speist sich daraus, dass wir immer noch alles Wunderbare für möglich halten. Und auch wissen (auch wenn es viele ganz tief in ihrem Nichtwissenwollen verstecken), dass man das Wunderbare nirgendwo kaufen kann. Dass man es auch durch nichts ersetzen kann. Dass man nur eins tun kann: Losgehen, Suchen und Kontakte knüpfen. Und vor allem: Das Berührtsein und das Fasziniertsein zulassen.

Na ja. Die Menschen, die das alles nicht können, nicht mehr wollen, nicht mehr zulassen, die landen nie in so einem Text wie dem hier. Man möchte sie so gern erreichen, aber dazu müsste man irgendwelche schrägen Youtube-Clips drehen, die sie irgendwie wieder einfangen, irgendwo ganz früh. Denn dieses Gar-nicht-erst-Suchen lernen die meisten Menschen schon früh. Im Kindesalter, da, wo die ganzen traurigen Kinder meinen, das Allerwichtigste sei „cool zu sein“, den harten Macker zu spielen, keine Gefühle zu zeigen. Nicht ahnend, dass sie sich damit ein Leben voller Frust, Zorn, Leere und Blindheit einhandeln.

Denn sie werden nicht sehen, wo das Leben sie wirklich berührt. Und sie werden auch niemals nach Menschen suchen, die in ihnen etwas anklingen lassen, und zwar nicht nur den Bienentanz der Hormone, sondern auch das, was Dichterinnen und Dichter mit vielen Worten versuchen, irgendwie zu beschreiben: etwas zutiefst Vertrautes, Nahes, Aufregendes …

Ich setze die Aufzählung hier mal nicht fort. Die Dichterinnen bemühen sich ja. Und sie finden immer neue Farben und Worte und Nuancen für dieses Gefühl, in einem anderen Menschen das zu finden, was alles in ihnen zum Klingen bringt. Exemplarisch zu lesen in den Gedichten Eva Strittmatters, die so einfach und naiv daherzukommen scheinen, die aber im weiland verstorbenen Ländchen DDR ganze Generationen von Lesenden entflammt und begeistert haben. Weil hier genau das Thema wurde und aufblitzte und forttrug, was auch in diesem vermauerten Land immer als elementare Sehnsucht da war: Gefühle nicht totschlagen und einsperren zu müssen, sondern intensiv ausleben und erleben zu dürfen.

Das hatte durchaus etwas Subversives. Und natürlich klingt das an bei Jutta Pillat. Eins ihrer Gedichte ist eine direkte Reverenz an Eva Strittmatter.

Es ist auch jener Teil der Emanzipation, der fast nie zur Sprache kommt, weil sich über oberflächliche Bilder leichter streiten lässt als über die eigentliche Verunsicherung der Männerwelt: dass Männer so ziemlich grundsätzlich dazu erzogen sind, keine Gefühle zuzulassen, Kontrolle auszuüben und wirkliche seelische Nähe zu meiden. Da werden sie lieber laut und handgreiflich oder verschließen sich wie Austern.

Und Jutta Pillat ist in einer Zeit aufgewachsen, in der das wenigstens schon einmal Thema war. Dafür steht bis heute exemplarisch Maxie Wanders Buch „Guten Morgen, du Schöne“, das nichts zentraler artikuliert als den gewachsenen Anspruch der Frauen, in ihrer Partnerschaft Liebe, Anerkennung, Aufmerksamkeit und ein Sprechen auf Augenhöhe zu bekommen. Einige der interviewten Frauen haben ja bekanntlich die Männer, die aus ihren Rüstungen nicht herauskamen, zum Teufel gejagt.

Andere erzählten durchaus von schönen Begegnungen mit Männern, die bereit waren, die alten Korsette falscher Männlichkeit zu verlassen, die Gefühle zeigten und für die es überhaupt keine Frage mehr war, dass man Frauen als spannende, vollwertige Lebensbegleiterinnen sehen sollte. Eben jene nach 1990 so gern verklärten Ostfrauen, die diesen Respekt im Leben tatsächlich einforderten – auch trotz aller Doppel- und Dreifachbelastung. Weil es eben nicht nur um Geld geht, sondern auch um Selbstbewusstsein und das Verlassen uralter Abhängigkeiten.

Und so schildert Jutta Pillat in ihren Gedichten auch ihre Suche nach solchen Männern, mit denen für sie eine derart akzeptierende Partnerschaft möglich war, schildert ihre Faszination, wenn sie tatsächlich solchen Männern begegnete, wenn auch oft nur für eine viel zu kurze Zeit. Denn wer sich so auf das Miteinander einlässt, der zeigt sehr viele Gefühle. Das hält nicht jeder immer aus. Und dazu kommt auch: Das sind keine erstarrten Partnerschaften. Schon gar nicht bei Künstlern. Denn wenn sie das wirklich voneinander fordern, dann kann auch genau das passieren, was einem bald schon das Herz zerreißt, weil man sich zwar intensiv berührte – und dabei gleich noch Kräfte freisetzte, die zwei auf völlig verschiedene Umlaufbahnen schleudern. Um nur einen Aspekt zu nennen.

Andere Gründe fürs Aus sind natürlich all die Lasten, die wir mitschleppen in jede neue Beziehung, alte Wunden, neue Verletztheiten, oder auch Überforderungen, die Männern überhaupt nicht fremd sind. Sie kommen sehr schön in dieser von Jutta Pillat formulierten Anspruchshaltung zum Tragen: „ich / an der / das glück / gemessenen schrittes / vorüberging / beharre darauf / eine königin / zu sein.“

Nein, die meisten Männer sind nicht dazu erzogen, das auszuhalten oder gar als Bereicherung zu erleben. Auch wenn es gerade Ostdeutschen tief in den Knochen sitzt, auch in der männlichen Variante. Weil es der eigentliche Ur-Anspruch eines Menschenexperiments namens DDR war: Dass DER MENSCH König seiner Welt sein müsse, in Würde, Stolz und Respekt leben solle. Es stand ja überall plakatiert – nur der Staat, der das propagierte, hielt sich nicht dran. Und bestrafte all jene, die tatsächlich den aufrechten Gang für eine selbstverständliche Errungenschaft hielten.

Belohnt wurden – das ist wie heute immer noch – die Angepassten, Biegsamen und Gehorsamen. Was übrigens auch erklärt, warum Ostdeutsche nicht in Führungspositionen auftauchen. Das passt nun einmal nicht zusammen. Auch nicht mit diesem Erbe eines Landes, das an seinen eigenen Widersprüchen kaputtgegangen ist. Denn wer verinnerlicht hat, seine Mitmenschen zu respektieren, der trampelt nicht auf ihnen herum. Der geht also auch nicht über Leichen, um „nach oben“ zu kommen.

Ist das nur ein Abschweif? Nicht unbedingt. Denn auch wenn das sehr frauliche (Liebes-)Gedichte sind, die Jutta Pillat schreibt, darf man nie die Gegenseite vergessen, die damit immer gemeint ist und die hier auch immer wieder porträtiert wird: als faszinierendes Gegenüber, als vertrauter Begleiter, als verlorener Teil des eigenen Lebens. Denn gerade wenn man einen gefunden hat, der viele der oft kaum geäußerten Erwartungen an Partnerschaft erfüllt, sind Trennung oder gar Verlust umso schärfer. Denn sie gehen dann wirklich ans Eingemachte, sie betreffen tatsächlich die eigene Verwurzelung im Leben und Fühlen. Das kann einen gewaltig aus der Bahn schmeißen. Und sie lassen ein Gefühl besonders stark werden: das der Angst, nun keinen mehr zu treffen, mit dem man so vertraut und offen sein kann.

Dass es für solche Begegnungen viele Ebenen, Formen und Orte des Einanderverstehens gibt, macht diese Gedichtsammlung sehr deutlich, in die Jutta Pillat einige Briefe eingestreut hat, die die Gedichte auch zeitlich verorten. Und die gerade deshalb auch zeigen, mit wie vielen Fäden und Beziehungen ein aufmerksamer Mensch in der Welt verortet ist. Es ist eben nicht nur die eine Partnerschaft, auf die die Dichterin alles baut. Es sind die vielen Verästelungen in die Welt, über die sie Resonanz erfährt, Resonanz, die ihr fühlbar macht, wie intensiv eine Welt erlebbar wird, wenn Menschen den anderen (oder die andere) tatsächlich meinen, wenn sie miteinander kommunizieren, und sei es nur mit einer Postkarte von einem Urlaubsaufenthalt am Meer, wo sich die intensive Begegnung mit den Elementen verquickt mit dem Gefühl, mit allen Sinnen am Leben zu sein.

Ein Buch also für alle, die sich nur zu gern herausnehmen aus dem Gelärme des Tages und nur ein paar Verse brauchen, um wieder zu sich zu kommen, oder zueinander. Raus aus dem lärmenden Schweigen, in dem man sich selbst nicht mehr versteht. Geschweige denn das Gefühl hat, sein eigenes Leben zu leben oder überhaupt noch zu wissen, was das sein könnte: „ich lebe mit dem winde / ich schwimme / mit dem strom“. Ein Gedicht übrigens, das scheinbar fatalistisch endet: „ich finde / ach ich finde / und komme nicht davon“.

Aber eigentlich steht die letzte Strophe auf dem Kopf. Denn eigentlich erzählt Jutta Pillat ja Gedicht für Gedicht davon, dass sie gar nicht davonkommen will, vor diesem Leben (auch mit all seinen Verlusten) gar nicht davonlaufen will, denn nur wer drin ist im Strom und das auch fühlen will, der findet. Was auch immer. Das ist ja dann die Überraschung, die das Leben bereithält. Wer freilich nicht suchen will, na ja, der liest auch keine Gedichte.

Jutta Pillat Süßholz. Kussmund. Träume., Treibgut Verlag, Berlin 2019, 13 Euro.

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