Am Ende fühlt man sich, als habe man ein ganzes Buch durchschwommen. Und wisse letztendlich selbst nicht: Hat man nun die rettende Küste erreicht? Ist man gescheitert oder aufgefischt worden? War es Charles’ letztes Stündchen, in dem er zumindest für sich sagen konnte: Jetzt weiß er, was Maude meinte? Jetzt könnte er im Reinen sein mit sich, sich quasi entschlüpft?

Wenn man dann ins eigene Archiv der Roman-Rezensionen (www.l-iz.de/tag/roman) schaut, merkt man freilich: Ulrike Draesner ist ganz und gar nicht die Einzige, die mit ihrem Helden ganz hinabtaucht in die Tiefen des heutigen Verloren-Seins, des ganz tief Existenziellen, dorthin, wo der Mensch sich selbst begegnet, seinem Wesenskern, das, was ihn im Leben umtreibt, vorwärtstreibt und ein Ich sein lässt.

Ein Ich, an dem augenscheinlich alle möglichen Menschen immer heftiger zweifeln, weil die alten Vor-Bestimmungen und Lebenskarrieren reißen, weil man sich nicht mehr – wie noch die Väter- und Großvätergeneration – einfach in eine Rolle fügt, sich den Regeln einer überkommenen Gemeinschaft fügt und dann einfach die Rolle so tapfer ausfüllt, wie es einem gegeben ist. Man verwächst ja damit – wird freilich auch zwangsläufig hölzern, schabloniert und ein Stück weit borniert.

Komisch, wie schnell man wieder an die alten, grauen Männer mit ihren „Heimat“-Plakaten im Osten denkt. Gehört das denn hierher?

Natürlich. Was denn sonst? Nur dass diese alten Knacker weder Romane von Ulrike Draesner lesen würden noch sonst irgendwelche existenziellen Romane. Und dass sie sich auch nicht – auf der Suche nach sich selbst – in den Ärmelkanal werfen würden, um aus eigener Kraft hinüber an die französische Küste zu schwimmen und dabei über das eigene Leben nachzudenken. Oder dieses Nachdenken kommen zu lassen, denn 17, 20 oder gar 23 Stunden ganz allein in dieser Meeresbrühe, nur begleitet vom Begleitboot, auf dem der Schiffer argwöhnisch beobachtet, ob der Kanalschwimmer noch durchhält, können sehr lang werden.

Und sie werden auch lang. Ulrike Draesners gerade einmal 174 Seiten starker Roman fühlt sich manchmal an wie Melvilles „Moby Dick“ oder Jack Londons „Seewolf“, zwei eher ferne Verwandte dieses Romans, auch wenn es dort ebenfalls um das ganz Existenzielle geht, dem Männer sich aussetzen auf dem Meer. Noch näher verwandt ist William Goldings „Pincher Martin“. Auch dort endet man im Zwiespalt mit sich, weil einen der Autor mit der gar nicht fröhlichen Nachricht konfrontiert, dass Pincher Martin es eben doch nicht geschafft hat.

Da erlebt man mit einem Helden den elementarsten Kampf um das pure Leben – und dann so etwas.

Aber wahrscheinlich ahnten Melville und Golding viel eher als all die Optimisten unter den Meeresautoren, worum es in der neuen Gesellschaft am Ende geht, wenn Geld und Arbeit alles zerreißen, alles neu ordnen und den Einzelnen zum Seefahrer seines eigenen Schicksals machen, entblößt aller Konventionen, aller starren (und daher manchmal auch wie Krücken funktionierenden) Familienverbände und -verhältnisse. Und manch Leser wird auch unverhofft an einen „Trockenschwimmerroman“ von Georges Simenon denken: „Die Glocken von Bicetre“.

Auch wenn Charles, 62 Jahre alt, durchaus gesundheitlich fit ins Wasser steigt. Er hat geübt für die Kanalquerung. Illusionen macht er sich keine. Er weiß von all denen, die die Tour nicht überlebt haben. Er weiß, welche Leiden unterwegs auf ihn zu kommen. Und trotzdem geht es ihm wie so vielen Simenon-Helden: Er weiß nicht wirklich, ob ihn das Abenteuer klüger macht oder das Erreichen des anderen Ufers ein sinnvolles Ziel ist. Was ihn unterscheidet, ist: Er lässt sich nicht treiben. Er ist nicht der Typ, der sich untergehen lässt. Er will jetzt tatsächlich etwas wissen, von dem er hofft, dass es irgendwo in seinem Unterbewusstsein steckt.

Und in gewisser Weise passiert in diesem Roman auch genau das: Seine Erinnerungen an Maude, an das, was sie zuletzt gesagt hat, was dem vorherging und woher das alles eigentlich in ihrer 30-jährigen gemeinsamen Geschichte rührt, tauchen eine nach der anderen auf. Sein Unterbewusstsein hat das alles gespeichert, auch wenn er im Leben eher dazu neigt, die störenden Dinge zu vergessen, sich lieber nicht damit zu beschäftigen. So, wie es den meisten Männern geht. Sie verschwenden eher selten einen Gedanken daran, wie sie die Störgeräusche in ihrem Leben beseitigen können, indem sie nach Wegen der Heilung suchen, des bewussteren Damit-Umgehens.

Sie begreifen ganz einfache Worte nicht so, wie sie Frauen gebrauchen. So wie Maude das Wort Zuhause benutzt, als Charles nach vielen Jahren in Deutschland endlich ein kleines Haus in London kauft, einer Stadt, die beiden nach der langen Abwesenheit doch eigentlich fremd sein müsste.

Sie sehen schon: Schon wieder bin ich bei den alten Betongesichtern mit ihren seltsamen Vorstellungen von Heimat, die so gar nichts mit dem zu tun haben, was eine nachdenkliche Frau wie Maude als Zuhause versteht. Das hat nämlich einen emotionalen Aspekt, auch einen des Ankommens, des Es-fügt-sich-jetzt-Alles. Suchende kennen das Gefühl, wenn sie eben nicht nur endlich einen Ort finden, an dem sie in Einklang mit sich und dem Ort sind, sondern auch Menschen um sich haben, mit denen sie selbst im Einklang leben können. Was nicht Harmonie bedeutet oder Wunschlos-Glücklichsein.

Es ist mehr. Und das ahnt Charles mehr, als dass er es begreift, weil er selbst (noch) nicht da ist, wo Maude in ihrer selbstsicheren Art schon ist. Und weil er es ahnt, lässt er sich auf das Wagnis ein, den Ärmelkanal durchschwimmen zu wollen. Mit allen Konsequenzen. Dabei ist er nicht einmal außer sich. Er ist ein genügsamer Mensch. Eigentlich hat er ja alles, was er wollte im Leben – auch Maude. Obwohl jetzt alles wieder offen ist, weil Charles’ alter Freund Silas wieder da ist. Sein bester Freund, dem er einst Maude abspenstig gemacht hat, damals, kurz nach dem tragischen Autounfall von Maudes Schwester, die ihn auf seinem Weg durch den Ärmelkanal auf einmal auch begleitet, weil die Ereignisse von vor 30 Jahren wieder präsent sind. All die Bruchstücke einer Erinnerung, deren Implikationen Charles immer verdrängt hat.

Es lässt sich ganz gut leben mit Verdrängungen. Bis zu dem Punkt, an dem man versteht, wie wichtig einem einige Menschen tatsächlich sind, denen man in diesem unsteten Leben begegnet ist. Und warum sie einem so wichtig sind. Das steckt in Maudes nur scheinbar so beiläufig gesagtem: „Wir alle könnten ein Zuhause gebrauchen“.

Ein Satz, den man auch auf die ganze heutige, so zuhause-lose Zeit anwenden kann. Denn davon erzählt ja das meiste an Unrast, Unbehagen und auch Ingrimm, was unsere Gesellschaften so verstört. Da sind viele, die so gerne irgendwo einen ruhigen und belastbaren Punkt in ihrem Leben hätten, ortlos, aus sich selbst gestoßen, hilflos geradezu in der Forderung nach einer irgendwie gearteten Geborgenheit.

Die unsere rein aufs Verfügbarsein, das Immerbereitsein und Mobilsein fixierte (Arbeits-)Welt nicht mehr bietet. Die Menschen sind nicht nur losgelöst von der Erde, sie sind außer sich.

Deswegen gibt es jetzt so viele existenzielle Romane, in denen sich sensible Autor/-innen auf die Suche nach diesem Ort machen. Dort, wo er eigentlich zu finden sein müsste: In uns selbst. Denn wie sonst sollten wir einen Kompass finden für unser Sein-Wollen. Was eben nicht nur bedeutet: Was wollen wir sein? Sondern auch: Wo sind wir wirklich zuhause? Wie sieht das aus?

Und: Finden wir einen Weg dorthin? Was nicht nur in Ulrike Draesners Roman ein Weg mit Grenzerfahrung ist. Die Auslotung des ganzen Ich-Seins, während die Kraft nachlässt und der Körper von den Wellen des Kanals immer mehr geschunden ist. Es ist gewissermaßen auch ein Buch für tapfere Leser, die mitfühlen und mitleiden mit diesem Mann, der sich im Einssein mit den Wellen und der Einsamkeit auf See selbst zu verlieren droht. Oder zu finden. Gerade weil Draesner das sehr intensiv schildert, merkt man, dass es wirklich so sein muss, auch wenn man selbst niemals in den Kanal gestiegen wäre oder all die anderen Dinge gemacht hätte, mit denen vor allem männliche Bewohner dieser Welt versuchen, in der Grenzerfahrung sich selbst zu erfahren.

Da ist einem die ruhige, aber tief durchdachte Art von Maude, den eigenen Beweggründen auf den Grund zu gehen, irgendwie vertrauter. Auch wenn man diese Vertrautheit erst durch Charles‘ langes Nachdenken auf See erfährt. Denn natürlich nähert er sich dem, was Maude für ihn ist, auf diese sehr kräftezehrende Weise langsam, aber zielstrebig an. Und vielleicht muss es gerade deshalb der Kanal sein.

Weil einem der Alltag diese Ruhe nicht lässt, weil man sonst meistens einfach nur funktioniert, sich ablenken lässt und abgelenkt ist. Und nicht gegenwärtig. Selbst im Gespräch nicht da. Ich denke mal: Frauen kennen das. Gerade die ernsthaften, die sich immer wieder vergewissern, was sie wirklich wollen. Die sich von Männern nichts (mehr) vormachen lassen und selbst entscheiden, was richtig ist für sie, was für sie ein richtiges Zuhause ist.

Was Männern sowieso schon hilft: Da sagt ihnen zumindest jemand sehr liebevoll, wo es hingehen muss. Aber Maude will mehr. Sie will auch, dass Charles es versteht. Also auch sie versteht.

Das ist verdammt viel. Das wissen zumindest die Männer, die solche Frauen schon einmal kennengelernt haben. Und die welche kennengelernt haben, werden mit diesem Charles in den Fluten des Kanals etwas anfangen können. Die Frauen, die so sind, sowieso.

Ulrike Draesner Kanalschwimmer, mareverlag, Hamburg 2019, 20 Euro.

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