Sie sind still, kaum wahrzunehmen, die wirklichen Spezialisten der deutschen Sprache. Sie beteiligen sich selten bis nie an den Grabenkämpfen um korrektes Sprechen, kämen auch nicht auf die Idee, regelrechte Sprachreinigungs-Kampagnen anzuzetteln. Die Rede ist nicht von Germanisten oder Sprachwissenschaftlern, sondern von Dichterinnen und Dichtern, denen, die wirklich wissen, was für Überraschungen in jedem Wort stecken, in jedem Satzzeichen, sogar in Leerstellen.

Aber wer fragt sie schon: Ins Feuilleton der großen deutschen Zeitungen kommen sie nur, wenn sie sich auf einem Gebiet zu Wort melden, auf dem sie eigentlich auch nur Amateure sind: der hohen Politik oder dem, was die Streithähne der Gegenwart gerade dafür halten. Entsprechend seltsam geraten dann diese Diskussionen, meist zu einem Streit um des Kaisers Bart. Und selten in gutem Stil. Denn der braucht Zeit und Übung. Und: Sensibilität.

Und was das ist, weiß die Leipziger Dichterin Kerstin Preiwuß. 2006 feierte sie mit „Nachricht von den Sternen“ ihr Lyrik-Debüt in der Edition Wörtersee. Seitdem hat sie auch zwei Romane geschrieben („Restwärme“ 2014 und „Nach Onkalo“ 2016). Und für den Dudenverlag hat sie sich jetzt hingesetzt und sich dem ganzen Klein- und Kleinstmaterial gewidmet, dem wir meist überhaupt keine Aufmerksamkeit schenken, obwohl es erst dafür sorgt, dass unsere Sprache funktioniert.

Ganz genau: unsere deutsche Sprache, die etwas Wunderbares ist, hochkomplex, erstaunlich genau, voller Emotionen, Mehrdeutigkeiten und sogar brillanter Pflaster, Wattebäuschchen und Aufpralldämpfer, die sogar dann noch Kommunikation ermöglichen, wenn man eigentlich kurz davor ist, aus der Haut zu fahren.

Dazu aber muss man sich kenntnisreich mit all den kleinen Wörtern beschäftigen, die meistens völlig unbeachtet durch den Text huschen oder durch fast gedankenlose hingesprochene Sätze, mit denen wir unseren Alltag bestreiten und sogar dann noch kommunizieren, wenn wir eigentlich gar nichts sagen. Aber gar nichts sagen, geht nicht. Selbst Schweigen spricht. Bis in die Gedankenstriche, Auslassungspunkte und Leerstellen hinein. Von Kommas, Punkten und Klammern ganz zu schweigen.

Spätestens, wenn eine tagelang an Gedichtzeilen feilt, merkt sie, was winzige Zeichen und kleine Partikel anrichten. Worte, die man gar nicht so recht als Worte wahrnehmen mag neben den ganzen Wichtigtuern von Substantiven, Verben und Adjektiven. Aber wer sie dann tatsächlich aufmerksam beäugt, merkt, was für eine Kärrnerarbeit, Satz-Netzwerkerei oder gar Verdichtung diese kleinen Worte leisten, diese so, und, es, bis und oder. Um nur ein paar herauszugreifen. So, wie sie sich auch Kerstin Preiwuß herausgegriffen hat, nicht ganz zufällig, denn man merkt schon, dass sie sich mit diesen Schäfchen im Textmaterial schon lange intensiver beschäftigt hat.

Sie kennt ihre Launen, Stärken und zuweilen seltsamen Wirkungen, wenn man sie benutzt. Sie können Aussagen völlig in ihr Gegenteil verkehren, können Zweifel in den Satz schieben oder Zustimmung, wo sie eigentlich verneinen. Sie können Sätze mit Emotion aufladen oder zu kleinen Denkfallen werden, die den Leser zwingen, auf Gedanken zu kommen. Sie können betonen, trennen, bündeln und das Gesagte abmildern, es in ein Hör- und Gesprächsangebot verwandeln.

Und man kann sie nicht entfernen, ohne einen Text letztlich völlig unverständlich zu machen. Denn erst sie stellen Beziehungen her im Text, sorgen dafür, dass sich die anderen, die großen Worte miteinander vertragen und sich an Regeln halten. Erst die Regeln schaffen den Sinn. Sogar dann, wenn diese kleinen Biester von Worten den Satz lieber ins Allgemeine heben, auf die Ebene von man, alle und jeder. Oder von irgendwie, so oder sehr, jenen Kandidaten, die sogar in unserem Alltagssprech auftauchen, in Phrasen, die wir oft ganz beiläufig sagen. Und die dennoch nicht wegzudenken sind aus unserem Verhalten zueinander. Sie kitten auch unsere Gesprächsebene mit anderen, schaffen sie manchmal gerade erst. Ein Punkt, an dem man merkt, wie gegenwärtig dieses Buch ist, wie es sich um etwas Elementares kümmert, was heute tatsächlich bedroht ist. Denn zerstörte Gesprächsfähigkeit macht eine Gesellschaft konfliktunfähig.

Und Kerstin Preiwuß weiß, wo das steckt. Zum Beispiel im „oder“, das leider bei vielen Mitmenschen in der brutalen Formel vom „entweder oder“ seine Kraft zum Vermitteln verloren hat, jenes fragende Gesprächsangebot, mit dem jeder und jede dem Gegenüber eingestehen kann, dass wir alle nur fehlbare Menschen sind. Und dass wir über alles reden können. Aber ein Gespräch bedarf des „oder“, des ehrlichen Zugeständnisses, dass keiner von uns die absolute Wahrheit besitzt, sondern immer die Möglichkeit besteht, dass man etwas falsch verstanden hat. Oder noch nicht verstanden. Oder nicht alles überblickt.

Zum sensiblen Sprechen gehört – neben der Aufmerksamkeit auch für das Zwischen-den-Zeilen-Gesagte – auch das Gespür für Zwischentöne. Zwischentöne, die sich zuweilen in kleinen Worten verstecken, in aber, nein, genau oder dem faszinierenden eigentlich.

Kerstin Preiwuß hat alle ihre ausgewählten Kandidaten in lauter kleine Kapitel gepackt, in denen sie dem Leser erzählt, was für erstaunliche Dinge man entdecken kann, wenn man diese seltsamen kleinen Worte von ab bis zu benutzt. Und wie selbstverständlich wir sie benutzen, weil wir eben doch beim Sprechenlernen gelernt haben, wie sie im Sprachkontext wirken.

Im Grunde lernen wir das schon als Kind, am prägnantesten mit jenen herrlichen, Eltern zum Wahnsinn treibenden Worten wie ja, nein, aber und weil. Dabei ist es ja herrlich, dass Kinder das alles lernen. So erschließen sich ihnen ganze Welten, auch sehr seltsame Welten, unendliche, wenn man erst einmal anfängt, die Möglichkeiten dieser Worte mit Kindeslust durchzuspielen. Aber gerade da merkt man auch, wie farbenreich und wunderbar nuanciert unsere Sprache ist.

Fast sieht es so aus, als hätte sie mit dem trockenen Kram, den man in der Schule bimst bis zum Überdruss, nichts zu tun. Hat es aber doch. Denn leider lernen nicht alle Kinder daheim wirklich, wie wunderbar vertrackt unsere Sprache ist. Wie viel man tatsächlich damit sagen kann und wie genau.

Das muss Kerstin Preiwuß gar nicht erst betonen, als Dichterin. Sie weiß, wie genau man mit Sprache arbeiten muss. Und wie sehr so viele andere damit herumschlampern – bis zur völligen Unverständlichkeit, Verschwommenheit und bürokratischen Verschachtelung. Und so kann man Kapitel um Kapitel wieder erfahren, dass nichts von alledem, was in unserer Sprache scheinbar überflüssig scheint, wirklich überflüssig ist. All diese kleinen Bauteile erzählen davon, wie unsere Sprache gewachsen ist, wie sie sich den kleinsten Bedürfnissen ihrer Sprecher angepasst hat.

Es stecken mindestens 1.000 Jahre Entwicklung darin, die selbst einigen dieser Partikel bis heute noch anzusehen sind. Wahrscheinlich sind es sogar deutlich mehr als 1.000 Jahre. Eine Geschichte, die auch Worte geschaffen hat, die andere Völker gar nicht kennen – so wie die Artikel, die jedem Substantiv ein Geschlecht zuweisen, ihm das Geschlecht geradezu anhaften lassen. Japaner verzweifeln damit. Uns aber erscheint das ganz normal, denn es sagt auch etwas über unser Weltempfinden und unser Verständnis von Gesellschaft und Nähe aus. Genau wie unser Umgang mit ich, du, er, sie, wir.

Was nicht bedeutet, dass einige dieser kleinen Worte nicht auch seltsam sind. Oder seltsam wirken können, wenn sie auf einmal in andere Zusammenhänge geraten. Oder in Gedichte von Dichtern, die das Ungewöhnliche verdichten, bis uns das Unerwartete regelrecht anspringt. Also werden auch diese aufmerksamen Wortarbeiter zitiert. Man merkt schon, dass Kerstin Preiwuß auch eifrig recherchiert hat, auch um sich der Verwandtschaften und Herkünfte dieser kleinen Worte und Zeichen zu vergewissern, in den Jagdgründen des Internets genauso wie im Grimmschen Wörterbuch, in dem man auch noch über Worte stolpert, die schon aus dem Gebrauch gekommen sind.

Denn Sprache ändert sich auch, wenn sich gesellschaftliche Verhältnisse ändern. Sie passt sich an, wenn sich Zeit- und Lebensgefühl verändern. Denn auch die stecken in unserem Sprechen, genauso wie unser Verhältnis zu Angesprochenen, unsere Zustimmung oder unsere Bereitschaft zuzuhören – oder auch nicht. Wer’s noch nicht wusste, weiß hinterher, wie viel wir tatsächlich auch über uns verraten, wenn wir sprechen. Und wie wertvoll alle diese kleinen Schrauben, Muttern und Drähtchen sind, aus denen wir unsere Sätze zusammenbasteln, meist völlig unbewusst. Und ziemlich verblüfft, wenn wir hinterher merken, was wir da eigentlich gesagt haben.

Obwohl: Es gibt ja Leute, die merken das nicht mal mehr. Und wundern sich dann, wenn sie hinterher in der Schmollecke stehen und keiner mehr etwas mit ihnen zu tun haben will. „Hab ich was gesagt?“ – „Natürlich.“ – „Muss man doch mal sagen dürfen.“ – „Nein.“

Kerstin Preiwuß Das Komma und das Und, Dudenverlag, Berlin 2019, 15 Euro.

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