Ein Stein steht seit 2013 in der Talstraße/Ecke Liebigstraße auf der Wiese des kleinen Parks, der so tut, als wäre er schon immer dagewesen. Jedenfalls nicht in dieser Größe. Auf alten Luftaufnahmen sieht man hier nämlich noch ein imposantes Gebäude stehen: Talstraße 38, das Mineralisch-Petrographische Institut der Universität Leipzig. 1943 wurde es von Bomben getroffen und vernichtet. Aber der Stein erinnert nur beiläufig an das verschwundene Gebäude.

Denn aufgestellt hat diesen Stein die Deutsche Geophysikalische Gesellschaft, eben jene Gesellschaft, die sich 1990 im österreichischen Leoben traf, um sich mit den lange Jahre abgeschotteten ostdeutschen Geophysikern wieder zu vereinen und dabei verwundert festzustellen – die Gesellschaft war ja nicht nur 50 Jahre alt, sondern 68. Und der Gründungsort lag da hinten im Osten, in Leipzig in der Talstraße Nr. 38.

Und dass er ausgerechnet im Geophysikalischen Institut stattfand, war eher kein Zufall. Damals tagte in Leipzig eigentlich die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Die feierte damals schon ihren 100. Geburtstag. Aber 24 Männer und eine Frau stahlen sich bei der Gelegenheit, da sie nun einmal alle in Leipzig waren, beiseite und beschlossen am 19. September 1922 im Hörsaal des Instituts die Gründung der Deutschen Seismologischen Gesellschaft, der Vorgängerorganisation der Geophysikalischen Gesellschaft.

Denn tatsächlich handelt es sich in beiden Fällen um dasselbe, auch wenn bei den Seismologen die Erdbebenforschung im Vordergrund zu stehen scheint. Aber wer sich mit Erdbeben beschäftigt, beschäftigt sich zwangsläufig auch mit der Zusammensetzung der Erdrinde, mit Plattentektonik, Vulkanismus und dem Verhalten von Wellen in verschiedenen Gesteins- und Erdschichten.

Klingt jetzt wie die spannenden Stunden in Geografie? Das ist es auch. Auch wenn der heutige Geografieunterricht oft nicht mehr erkennen lässt, welche Faszination das undurchschaubare Erdinnere auf die Seismologen vor 100 Jahren ausgeübt hat. Jacobs und Börngen, beide selbst ausgewiesene Geophysiker, lassen auch ein paar kritische Worte zu dem, was heute noch als Geografieunterricht in den Schulen stattfindet, nicht aus.

Luise Lammert, die sich 1922 bereiterklärte, das Protokoll zu führen, gehört freilich nicht zu den Gründern der Gesellschaft. Sie selbst war gestandene Meteorologin. Die Anstifter des Treffens waren zwei Leipziger: Otto Wiener, Direktor des Physikalischen Instituts und in der Zeit auch kommissarischer Direktor des Geophysikalischen Instituts der Uni Leipzig, und Julius Bauschinger, damals Leiter der Sternwarte der Universität.

Jacobs und Börngen porträtieren in diesem Band die 24 Männer, die dann am 21. September tatsächlich die Seismologische Gesellschaft gründeten, die dann in Jena ihre Adresse bekam, wo der Erdbebenforscher Oskar Heckert wirkte und die Reichsanstalt für Erdbebenforschng gründete. Ein Großteil der Mitglieder beschäftigte sich tatsächlich intensiv mit Seismologie, war auch beteiligt am Aufbau eines reichsweiten Netzes von seismologischen Stationen.

Viele trieben aber auch das Wissen über die Ausbreitung von Erdbeben und Erdwellen voran, welche letztere sich sehr schnell als geeignet erwiesen, unterirdische Lagerstätten zu erkunden. Weshalb auch etliche Praktiker dabei waren, die sich in den nächsten Jahren intensiv mit der Suche nach unterirdischen Salz- und Erdöllagerstätten beschäftigen würden. Andere waren im Bergbau beschäftigt und/oder untersuchten die messbaren Beben bei Stolleneinbrüchen und Erdrutschen.

Und natürlich waren auch renommierte Forscher wie der Stuttgarter Physiker Karl Mack dabei, auf deren Forschungen unser heutiger Wissensstand zum Aufbau der Erdschalen beruht. Dass da 2.900 Kilometer unter unseren Füßen der brodelnde Erdkern beginnt, das wissen wir seit den Forschungen des damals 24-jährigen Geophysikers Beno Gutenberg aus dem Jahr 1913. Wir erfahren aber auch von den frühen Forschungen zum Erdmagnetfeld und seinen Störungen, genauso wie das Wichtigste zu den Vulkanforschungen des Schweizers Immanuel Friedlaender.

Und wir erfahren auch einen der wichtigen Beweggründe für die Gründung der Gesellschaft. Denn viele der jüngeren Gründungsmitglieder hatten auch am 1. Weltkrieg teilgenommen, teilweise tatsächlich in ihrem Fachgebiet beschäftigt. Aber sie wussten auch, dass Deutschland sich mit diesem Krieg nicht nur in der internationalen Staatengemeinschaft isoliert hatte, sondern auch in der wissenschaftlichen Welt.

Aber Wissenschaft lebt von Austausch und Kontakten und vor allem vom Abgleich der aktuellsten Forschungsergebnisse. Ein zentraler Zweck der Gesellschaft war also – neben der Publikation wichtiger Forschungsergebnisse – die Wiederherstellung der internationalen Beziehungen.

Da ahnten die Männer noch nicht, dass sie 25 Jahre später dasselbe noch einmal von vorn beginnen müssen.

Dabei ist Geophysik nun einmal eine Wissenschaft, die keine Grenzen kennt. Erdbeben im Iran konnten auch damals schon in Hamburg registriert werden. Man begann, sich intensiver mit Tsunamis und der Entstehung der Gezeiten zu beschäftigen. Und man tüftelte an immer genaueren Messgeräten, die auch noch die feinsten Erdstöße aufzeichneten und damit sogar möglich machten, den Ursprung des Bebens zu lokalisieren.

Lauter Dinge, die wir heute für selbstverständlich nehmen, wenn in den Nachrichten über Erdbeben berichtet wird. Samt den gemessenen Erdbebenstärken – um die sich in Jena auch wieder der Erdbebenforscher August Sieberg verdient machte, der die Gesellschaft ebenfalls mitgründete.

Man kommt mit Jacobs und Börngen also in eine spannende frühe Phase der Erdbebenforschung, in der unser heutiges Wissen über die Struktur der Erde so langsam Kontur gewann und jene Beobachtungsnetze entstanden, mit denen heute das weltweite Erdbebengeschehen beobachtet und aufgezeichnet wird. Das hat in Leipzig nicht begonnen. Aber mit der Gründung der Seismologischen Gesellschaft bekam es in der deutschen Forschungslandschaft eine tragende Struktur, über die nun auch wieder internationale Beziehungen gepflegt werden konnten.

Beziehungen, die einigen der Gründer später auch halfen, außerhalb Deutschlands eine Karriere zu starten, so wie Beno Gutenberg, den man mit Kusshand am Caltech in Kalifornien nahm. Und dort schuf er – mit seinem Mitarbeiter Charles Frances Richter – die heute bekannte Richter-Skala zur Messung von Erdbeben-Stärken.

An all das erinnert der Stein im Park an der Talstraße. Und das Buch erzählt – knapp und mit vielen Bildern angereichert – die Geschichte dazu.

Franz Jacobs, Michael Börngen „Wiechert, Mintrop & Co.“, Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2019

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