Es gibt Bücher, die sind eine Überraschung, auch wenn man beim Lesen des Waschzettels die Stirn runzelt: Wieder ein Buch über Glauben, Gott und die glückliche Rückkehr zur Religion? Aber was Michaela Rothe geschrieben hat, ist kein Zurück-in-die-Kirche-Buch. Und das Thema, das sich beim Lesen herauskristallisiert, entpuppt sich ganz und gar nicht als Glaube-Liebe-Hoffnung-Musik. Auch wenn es letztlich darum geht, da, wo wir uns fragen: Wer bin ich wirklich?

Aber wie kommt man dahin? Oder: Ist das überhaupt ein Problem? Wenn man so in den Medien verfolgt, womit sich Kirchen heute thematisch beschäftigen, merkt man schnell: Sie werden auch deshalb zunehmend irrelevant, weil sie zu den eigentlichen Problemen der Zeit nichts zu sagen haben. Als klaffe da ein riesiges Loch in der Wahrnehmung, woran die Menschen der westlichen Welt tatsächlich leiden, warum sie immer hektischer, trostloser, einsamer und – auch das gehört dazu – rücksichtsloser werden.

Und wer sich mit den Fragen wirklich beschäftigt, der stößt auf ein Tabu. Der stellt dann zwar – wie auch einige kluge Theologen immer häufiger – fest, dass immer mehr Menschen nach Spiritualität dürsten und sich ganz persönliche Wege zu ihrer ganz persönlichen Sinnfindung im Leben suchen. Gern mit geradezu exotischen religiösen Angeboten. Aber wo ist der Kern? Worum geht es eigentlich?

Das findet man nur heraus, wenn man anfängt zu stutzen. So, wie es Michaela Rothe schon früh erging, eigentlich seit dem Tag, als sie aus Tschechien nach Deutschland kam. Das war eine sehr heftige Begegnung mit der deutschen Bürokratie, auf die sie im Lauf ihres Buches noch öfter zu sprechen kommen wird.

Eine Bürokratie, deren Sinn es ist, Menschen zu bewerten und zu entwerten, zu sortieren und am wirklich Ankommen zu hindern (Stichwort Integration, die in Deutschland so oft und so falsch verstanden wird. Auch das findet man im Buch). Erst recht, wenn sie aus dem Ausland kommen.

Wer sich selbst nicht akzeptieren kann, akzeptiert auch die Nöte anderer Menschen nicht.

Michaela Rothe hat sich durchgekämpft. Sie hat sich nicht entmutigen lassen, sich lieber noch einmal auf die Schulbank gesetzt und die deutschen Abschlüsse nachgeholt. Und weil sie nicht nur nebenbei auch noch gejobbt hat (und damit die Arbeitswelten vieler Migranten kennenlernte, die in Deutschland versuchen, einen Fuß auf den Boden zu bekommen), sondern auch jede Chance nutzte, ein Praktikum zu machen, um in ihrem gewählten Beruf als (Sozial-)Pädagogin voranzukommen, wird ihr Buch (das sie wegen der schönen Ruhe auf einer Bank in der Kirche schreibt) zu einer lebendigen Reise durch jene Welt, in der die meisten von uns zu Hause sind.

Nicht nur die Armen und Geplagten. Nicht nur Menschen mit „Migrationshintergrund“. Nicht nur Schüler mit Integrationsschwierigkeiten, „Bildungsferne“, Obdachlose oder Behinderte.

Das ist der wohl größte Irrtum unserer Gesellschaft, dass all diese Ausgegrenzten und Verachteten nicht typisch sind für uns, nicht davon erzählen, wie unsere Gesellschaft tatsächlich funktioniert. Doch wer im Bildungsbereich landet, egal ob als Kindergärtner/-in, Therapeut/-in oder Lehrer/-in, der erfährt, wie die Maschine funktioniert, die schon ganz früh dafür sorgt, dass Kinder aussortiert werden, wie Lehrer zerrissen werden in dem Versuch, den Kindern die schablonierten Lernbausteine einzutrichtern und dabei in einem Affengalopp durch den Lehrplan hetzen, während all die Kinder, die das Höllentempo nicht mithalten können oder wollen, systematisch entmutigt, demotiviert und fortgeschickt werden.

Wir sind eine Gesellschaft des Wegschickens und Abschiebens. So, wie wir mit Flüchtlingen umgehen, die wir kaltschnäuzig wieder nach Afghanistan, Libyen oder andere hoffnungslose Länder zurückschicken wie fehlgeleitete Amazon-Päckchen, so gehen wir auch mit unseren eigenen Kindern um.

Jeder Lehrer an Ober- und Förderschulen weiß das. Und jeder Arzt, der mit Kindern zu tun hat, die ADS, ADHS oder andere psychische Probleme aufweisen,weiß es. Und diese „Krankheiten“, die es früher wohl auch wirklich nicht gab, bekommen die Kinder in einem Bildungssystem, das niemanden bildet, aber junge Menschen frühzeitig zum tadellosen Funktionieren dressiert.

Und nicht nur die Schulen lernte Michaela Rothe von innen kennen (samt ihren frustrierten Arbeitskollegen, die alle Hoffnung längst haben fahren lassen, so, wie es bei Dante im „Inferno“ steht), sie hat sich auch nie gescheut, sich mit den ihr Anvertrauten tatsächlich zu beschäftigen. Ihr Buch ist gespickt mit Erinnerungen und Anekdoten, in denen sie davon erzählt, wie sich (junge) Menschen verwandeln, wenn sie merken, dass sich der Mensch vorn am Pult tatsächlich für sie, ihre Gedanken, Gefühle und Probleme interessiert.

Da denkt man ganz schnell an die eigene Schulzeit und welche Lehrer/-innen es tatsächlich waren, die einen bestärkt und ermutigt haben. Nicht nur zum Lernen. Sondern zum Herausfinden, wer man selbst ist. Denn die meisten wissen es nicht. Und haben auch nie die Chance bekommen, es herauszufinden. Denn das Drama unserer auf Funktionalität, Leistungserbringung und Karriere getrimmten Gesellschaft ist, dass alle Bürger von Anfang an eingetaktet werden in diesen immer mehr beschleunigten und forcierten Prozess. Schon Babys lernen zu funktionieren und nicht zu stören.

Und Eltern haben immer weniger Zeit, wirklich noch auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen, weil sie selbst in belastenden Jobs feststecken und abends fix und fertig nach Hause kommen. Und all die hübschen „Arbeitsmarktreformen“, die wir in den letzten 30 Jahren erlebt haben (bis hin zu Schröders „Agenda 2010“) haben auf nichts anderes gezielt, als noch mehr billige Arbeitskräfte zu bekommen, die unter enormem psychischen Druck immer flexibler und mobiler bereitstehen, um das „Bruttosozialprodukt zu steigern“.

Aber was passiert eigentlich mit Menschen, denen früh schon beigebracht wird, dass nur ihr Funktionieren zählt? Dass sie keine Bedürfnisse haben sollen, dass sie die Klappe zu halten haben, nicht widersprechen dürfen und all ihre chaotische Lust am Lebendigsein bitteschön zu unterdrücken haben? So eine Gesellschaft wird kalt, einsam und rücksichtslos. Und diese Not, die immer mehr Menschen fühlen (auch die in den Umschulungskursen des Arbeitsamtes), tobt sich natürlich aus.

Bei den einen als Krankheit (denn wenn die Seele leidet, meldet sich der Körper mit Krankheiten zu Wort), bei anderen in Aggression. Dann wird dieses tiefsitzende Gefühl, nicht geliebt und akzeptiert zu werden, zum Hass gegen andere, denen es scheinbar bessergeht. So lassen sich Menschen, denen es allen gleichermaßen dreckig geht, gegeneinander aufhetzen.

Das schreibt Michaela Rothe so nicht. Denn eigentlich möchte sie von dem Weg erzählen, wie man da rauskommt. Und dieser Weg führt nun einmal über das eigene Ich. Das wir nur noch als Ego kennen in unserer Ego-Gesellschaft. Aber das Ego ist nicht das Ich. Psychologen wissen das, Hirnforscher inzwischen auch. Das Ego ist der schöne Schein, das, was wir nach außen zeigen, mit dem wir versuchen, den anderen den Erfolg und die persönliche Auserwähltheit zu suggerieren.

Denn davon lebt unsere Großkotzgesellschaft. An diese Egos kann sie ihre SUVs, Luxuswohnungen, Handtaschen, Sneakers, Smartphones und goldenen Armbanduhren verkaufen. An lauter arme Seelen, die versuchen, einander mit Protz und Schick zu beeindrucken. Oder lauter Pseudo-Bedürfnisse zu befriedigen, die nichts mit der inneren Not zu tun haben. Und schon gar nicht mit der eigenen Stärke.

Und hernach rennen alle zum Arzt und lassen sich Aufputschmittel und Beruhigungspillen verschreiben, um in dieser Hatz nach Status und Geld noch mithalten zu können.

Kein Wunder, dass Michaela Rothe Vertrauen und Hilfsbereitschaft fast ausschließlich bei den Menschen gefunden hat, die sich ganz unten in dieser Jobgesellschaft durchschlagen, die noch wissen, wie sehr man darauf angewiesen ist, dass man einander hilft.

Der Satz mit dem Glauben ist dann schon ein bisschen Fazit: „Wir haben den Glauben verloren. Wir glauben nicht mehr an Gott, an die Natur, an die kosmische Energie, an unsere Kinder, an andere Menschen. Die meisten von uns glauben nicht mehr an sich selbst.“

Die Reihe ist wichtig. Denn es geht um dieses Selbst, das die meisten schon früh verlieren, von sich abspalten müssen, weil sie so, wie sie sind, in diesem Rennen um Rekorde nicht akzeptiert werden. Sie lernen alle, dass sie immerfort zu funktionieren haben. Wer nicht funktioniert, ist raus. Der Druck, sich genau so zu verhalten, ist mittlerweile überall.

„Wir trennen uns von uns selbst und von der Menschheit. Wir vereinsamen. Aus der Angst heraus, allein zu sein, fangen wir an zu klammern, an Menschen, Titel, Status, Gegenstände, Geld, Eigentum, unseren Körper. Wir erstarren und werden immer unbeweglicher“, schreibt Michaela Rothe. Und dann folgt so ein Satz, der eine Menge von dem erklärt, was gerade in unserer politischen Schlammwüste geschieht: „Alles, was sich bewegt und erneuert, bedroht uns in unserer Existenz, macht uns Angst.“

Sie kommt ganz am Ende auch auf Jesus Christus, auch wenn sie den Spruch nicht direkt zitiert: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“

Ein Satz, der eben nicht nur die Nächstenliebe fordert. Sondern der auch davon ausgeht, dass jemand, der sich selbst nicht lieben kann, auch andere nicht lieben kann.

Aber Menschen, die von klein auf das Gefühl eingeimpft bekommen, dass sie den Erwartungen nicht genügen (und in dem Sinn praktizieren unsere Schulen bis heute Schwarze Pädagogik), die müssen ihr Selbst abnabeln, einmauern und verstecken. Sie dürfen sich nicht lieben. Denn sie sollen sich ja schämen, auf den Hosenboden setzen, entschuldigen, still sein, aufhören so lebendig zu sein wie sie sind. Deswegen gehören Selbstmorde, Sucht und Aggression zu den Grundbausteinen unserer Gesellschaft.

Denn Menschen, denen eingetrichtert wurde, dass sie nicht sie selbst sein dürfen, flüchten logischerweise in lauter Verhaltensweisen, die die Krankheit nach außen kehren. So, wie sie gegen ihr lebendiges Selbst kämpfen, wüten sie gegen die äußere Welt. Oder werden therapiert, wenn ihre unbeherrscht gewordene Unruhe die Ruhe stört.

So wie der angehende Lehrer, der der Autorin von seiner Ritalin-Erfahrung erzählt und dann sagt: „Das heißt, der Mensch kann alles lernen. Er wird so lange konditioniert, wie er sich zu verhalten hat, bis er sein Verhalten im Griff hat. Er hat seine Gefühle so verdrängt, dass er sie kaum mehr wahrnimmt. Er ist zu einem gefühllosen Zombie therapiert worden, kann sich aber benehmen. Bravo!“

Der Weg zu einem Leben ohne (Selbst-)Aggression führt also über das eigene Ich, zu den eigenen und wirklichen Gefühlen, dem, was uns wirklich berührt, betrifft und umtreibt. Das so zu Herzen geht, wie viele der von Michaela Rothe erzählten kleinen Begegnungen. Denn sie hat sich früh entschieden, von anderen Menschen lernen zu wollen. Auch und gerade von ihren Schülern.

Denn das hat sie schnell gemerkt: Dass die Arbeit als Lehrerin völlig sinnlos und ohne Erfolg ist, wenn die Lehrerin die Aufmerksamkeit und die Zuwendung ihrer Schüler/-innen nicht erweckt, nicht jenen Moment erreicht, an dem die Schüler/-innen sich verstanden und wahrgenommen fühlen. Da kann wirklich jeder an seine Schulzeit zurückdenken. Nur Lehrer/-innen, die das geschafft haben, die sich wirklich auf ihre Schüler eingelassen haben, bleiben auch positiv in Erinnerung.

Einfach schon deshalb, weil sie jedem Kind das Gefühl gegeben haben, dass es angenommen und akzeptiert wird. Und dass sie ihm etwas zutrauen. So, wie es ist. Und dass der Lehrplan eigentlich völlig egal ist, wenn die Kinder mit elementaren Problemen zu kämpfen haben und darüber endlich reden wollen. Das versuche mal einer im sächsischen Schulsystem – da rastet nicht nur der gepeinigte Lehrer aus.

Dass Michaela Rothe das Ganze dann nahe an den Bereich Glauben und Gott heranführt, hat mit dem zitierten Jesus-Spruch zu tun, den selbst Theologen gern halbieren und das „wie dich selbst“ wegoperieren, weil sie es nicht verstanden haben. Oder nicht verstehen wollen (dürfen). Auch nicht, dass unser Verbundensein mit dem Kosmos, der Natur oder eben wahlweise auch Gott in unserem Kopf sitzt.

Dass wir nicht vertrauen und nicht lieben können, wenn wir uns selbst nicht lieben können und nicht akzeptieren können als ein Geschöpf, das zu Leben und Lieben auf die Erde gekommen ist, und nicht dazu, ein Leben lang im Laufrad gefühlloser Maschinen zu rennen. Wer vergessen hat, dass sein Leben ein (kosmisches oder göttliches) Geschenk ist, der wird mit Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit durch die Welt rasen, suchen, was nicht zu finden ist. Und wüten – gegen sich selbst und gegen andere.

Aber auch Michaela Rothe sieht Hoffnung, traut der jüngeren Generation zu, diesem teuflischen Kreislauf zu entkommen.

Denn wenn Menschen anfangen, ihre eigenen Gefühle, Ängste und Hoffnungen ernst zu nehmen und sich von verbitterten alten (weißen) Männern nicht mehr einreden lassen, dass sie falsch ticken, dann ändern sich die Spielregeln. Dann werden die wirklich wichtigen Themen sichtbar.

Und es stehen immer mehr Menschen auf der Straße, die wieder so ein Gefühl verspüren wie die Mutigen von Oktober 1989, die ja nicht demonstrierten, weil sie sich die D-Mark wünschten, sondern weil sie ohne Furcht und Einschüchterung ein menschliches Leben in einem freien Land leben wollten.

Aber bevor ich das Thema jetzt noch aufmache, empfehle ich einfach dieses Buch. Allen Erniedrigten und Verängstigten, Gejagten und Gepeinigten, Mutlosen und Sich-einsam-Fühlenden. Geht euer Ich suchen. Bevor es zu spät ist.

Wofür wir uns schämen: Ein Roman über Kindheitsmuster, falsche Rollen und den Mut zum eigenen Leben

Michaela Rothe Ich zu Ich, EINBUCH Verlag, Leipzig 2019, 16,40 Euro.

Wofür wir uns schämen: Ein Roman über Kindheitsmuster, falsche Rollen und den Mut zum eigenen Leben

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